Horst D. Deckert

Gegen Deutschlands Regierende war Kurz ein Waisenknabe

Kurz nach seinem gestrigen Rücktritt (Foto:Imago)

Was immer an den Vorwürfen gegen Österreichs zurückgetretenen ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz dran ist – eines ist sicher: In Deutschland braucht wirklich niemand auch nur ein Wort über diese Affäre zu verlieren, der entweder vor zwei Wochen einer der noch amtierenden Regierungsparteien seine Stimme gegeben – und erstrecht niemand aus der medialen Zunft. Denn was sie alle den hiesigen Politikern – insbesondere der Bundesregierung in den letzten anderthalb Jahren – großzügig und indolent durchgehen lassen, übertrifft das, was man Kurz zur Last legt, um Größenordnungen.

Wo Doktorbetrügerinnen und biographische Hochstaplerinnen ungestraft politische Karriere machen können, wo Minister Milliarden für Maut und Masken verbrennen können oder sich nach achtstelligen Berater-Steuergeldvernichtungen hochdotiert gen Brüssel verdünnisieren, dort schweigt man besser fein stille über Verfehlungen Dritter. Vor allem dann, wenn diese eine Tugend an den Tag legen, die in Deutschland praktisch ausgestorben ist: für politisches Versagen nicht nur „Verantwortung übernehmen„, sondern auch die Konsequenzen zu tragen – und die Größe zu haben zurückzutreten.

Die Vorverurteilung von Kurz aufgrund in seinem Umfeld durchgeführter staatsanwaltschaftlichger Ermittlungen und Razzien folgt der Devise „wo Rauch ist, ist immer auch Feuer„. Nach derselben Logik dürfte ein Olaf Scholz zur Stunde keine Koalitionssondierungen leiten und sich als unangefochtener Ampel-Platzhirsch fühlen, sondern müsste längst in der Versenkung verschwinden, denn auch bei ihm gingen die Ermittler ein und aus, und zwar wegen weitaus schwerwiegender Verdachtsmomente. Nicht nur der Cum-Ex-Skandal, auch sein BaFin-Kontrollversagen bei WireCard machen ihn nach den an Kurz angelegten Maßstäben gänzlich untragbar.

Deutsche Verfehlungen: Wer im Glashaus sitzt…

Doch es gibt noch weitere Gründe, warum gerade die Deutschen so gar keinen Anlass haben, sich über mangelnde politische Hygiene im Nachbarland zu beschweren. Der gegen Kurz bestehende Verdacht der „Korruption“ beschreibt, selbst wenn die Vorwürfe zuträfen, keine Korruption im eigentlichen Sinn, sondern eine „Käuflichkeit“ von Gefälligkeitsberichterstattung. Hierzu ist anzumerken, dass das besondere österreichische Prinzip der Medienfinanzierung durch Steuergelder keinesfalls eine Erfindung von Kurz war, sondern auch bei seinen Vorgängerregierungen angewandt wurde: Inserate und Regierungsgelder gegen wohlwollende Presse sind in allen westlichen Ländern ein gängiges Mittel der journalistischen Gefügigmachung, nur die technischen Details sind verschieden.

Insbesondere in Deutschland läuft das, was Kurz konkret angelastet wird – „gekaufte Umfragen„, eine „Medien-Offensive“ durch „Image-Artikel“ – im Ergebnis genauso oder schlimmer ab: Zwar nicht, wie in Wien, entlohnt über Werbeanzeigen des Finanzministeriums, sondern über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Form von Zwangsgebühren, mit denen monströse Intendantengehälter und Anchormen-Agitatoren à la Georg Restle oder Jan Böhmermann alimentiert werden; doch im Ergebnis liefert das System  nicht minder einseitige, politisch loyale und regierungsergebene Inhalte und manipuliert damit den Wahlkampf mindestens ebenso wie im Nachbarland – auch wenn sich die hierzulande zum Einsatz kommende Technik „Framing“ schimpft und die Macher überwiegend nicht käuflich, sondern ideelle Überzeugungstäter sind.

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