So etwas wie hier in der FAS von gestern kann man in diesen Tagen des Gedenkens an Gorbatschow immer wieder lesen oder hören. Politiker und Journalisten plappern unentwegt nach, der Kalte Krieg sei mit und von Gorbatschow beendet worden. Das ist eine dümmliche Geschichtsfälschung. Der Kalte Krieg wurde in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit der Entspannungspolitik, deren Motor die damalige Regierung Willy Brandt war, beendet. Danach gab es Irritationen mit der Nachrüstung. Aber das ändert nichts am vorangegangenen Ende des Kalten Krieges. Albrecht Müller.
Man muss wohl die modernen Historiker und ihre journalistischen Ableger an ein paar Daten und Vorgänge erinnern:
- In den fünfziger Jahren wurde aufgerüstet. Die BRD wurde Mitglied der NATO und die DDR Mitglied des Warschauer Paktes. Siehe hier aus der Sicht der Konrad-Adenauer-Stiftung. Da Warschauer Pakt wurde 1955 gegründet. Im selben Jahr trat die DDR bei. – Zum Thema Wiederbewaffnung siehe auch diesen Beitrag Die Wiederbewaffnungsdebatte – Geschichte wiederholt sich vom 3. September.
- Am 13. August 1961 wurde die Mauer gebaut.
- Am 15. Juli 1963 verkündeten Willy Brandt und Egon Bahr auf einer Tagung in Tutzing die neue westdeutsche Strategie: Wandel durch Annäherung. Der Akzent lag auf Annäherung und Abbau der Konfrontation. Siehe dazu auch hier.
- Ab Dezember 1966 war Willy Brandt Bundesaußenminister und sicherte die neue Ostpolitik bei den westlichen Alliierten ab.
- Am 28. Oktober 1969 verkündete der neue Bundeskanzler Brandt in seiner ersten Regierungserklärung die neue Linie: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“.
- Der Beendigung des Kalten Krieges entsprechend kam es schon 1970 zum Moskauer Vertrag der Bundesrepublik mit der Sowjetunion und zum Warschauer Vertrag mit Polen über Gewaltverzicht und Zusammenarbeit. Und dann 1973 zum Prager Vertrag mit der Tschechoslowakei. Die Bundeszentrale für politische Bildung leitet ihren Text zum Moskauer Vertrag so ein: „Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion legte den Grundstein der neuen Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt. Diese war innenpolitisch zunächst umstritten, führte aber zu einer Entspannung zwischen Ost und West und ebnete schließlich den Weg zur Deutschen Einheit.“
- Am 19. März 1970 reiste der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt nach Erfurt zu Gespräch mit dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph.
Will Stoph kam am 21. Mai 1970 nach Kassel zum Treffen mit dem westdeutschen Bundeskanzler.
Beides waren keine euphorischen Begegnungen. Sie waren schwierig, aber sie dienten der weiteren Verständigung.
- 1975 kam es zu der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).
Soll das Kalter Krieg gewesen sein?
- 1979 intervenierte die Sowjetunion militärisch in Afghanistan. Ein harter Schlag für die laufende Entspannungspolitik. Aber der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt entschied, die Entspannungspolitik fortzusetzen, auch wenn die Opposition von CDU/CSU mit Helmut Kohl und Franz Josef Strauß sowie auch der eigene Koalitionspartner FDP unter der Führung von Hans-Dietrich Genscher die Entspannungspolitik beenden wollten.
- Es ging hin und her. 1979 fand der damalige Bundeskanzler Schmidt eine Raketenlücke und plädierte für Nachrüstung. Dem widersprach folgender Vorgang: Die Partei des Bundeskanzlers gewann am 11. Mai 1980 die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen mit absoluter Mehrheit. Die Hauptbotschaft seiner Partei: Nie wieder Krieg!
- Im Oktober 1981 demonstrierten 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten gegen die Nachrüstung. Hier ein Rückblick des Deutschlandfunks:
„Friedensdemo 1981 in Bonn300.000 gegen den NATO-Doppelbeschluss
Der Protest gegen nukleare Aufrüstung und das Ost-West-„Raketenschach“ mobilisierte Anfang der 1980er-Jahre Hunderttausende. Die erste große Demonstration der westdeutschen Friedensbewegung fand am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten statt.“
- Im Dezember 1981 besuchte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den Generalsekretär der SED Honecker in der DDR. Siehe hier aus einer Meldung des MDR vom 19. November 2021:
Bundeskanzler Helmut Schmidt sitzt neben Erich Honecker auf einem Sofa. Bildrechte: IMAGO
Deutlich erkennbar: Kalter Krieg! Die heute laufende Debatte über die Terminierung des Endes des Kalten Krieges auf 1989 reizt zum Sarkasmus.
Zum Abschluss dieser Serie von Hinweisen auf das Ende des Kalten Krieges mit dem Beginn der Entspannungspolitik will ich noch von zwei Vorgängen des praktischen Umgangs zwischen West und Ost, zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion hinweisen. Heute, im Vollzug des neuen Kalten Krieges, wird von der Europäischen Union gemeldet:
EU verhängt Sanktionen gegen die Sendetätigkeiten der staatseigenen Medien RT/Russia Today und Sputnik in der EU
Damals, nach Beginn der Entspannungspolitik im Jahre 1972 sitzen sich der deutsche Bundeskanzler und der Bonner Korrespondent eines sowjetischen Mediums, der Journalist Grigoriew (links im Bild) im Wahlkampfsonderzug des SPD-Vorsitzenden lachend gegenüber, vermutlich fotografiert beim Witzeerzählen:
(Quelle: Willy wählen 72, Seite 78)
Sowjetische Journalisten gehörten wie Spanische zu unserem Volleyballteam. Wir arbeiteten und wir feierten zusammen. Die Atmosphäre blieb so trotz aller Widrigkeiten. Der Kalte Krieg jedenfalls war beendet – nicht erst mit Gorbatschow.
Manche Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz sahen das vermutlich damals anders. Für sie war schon die Tatsache, dass zum Beispiel in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angestellt werden sollten, die mit den 68ern sympathisierten oder sogar aus ihren Reihen kamen, ein Stein des Anstoßes. Aber ihre Kalter-Krieger-Mentalität war nicht mehr durchgehend entscheidend.
Von einem dafür einschlägigen Vorgang will ich noch berichten: Als ich zwischen Dezember 1969 und Februar 1973 für die Öffentlichkeitsarbeit und Wahlkämpfe der SPD verantwortlich war, hatte ich berufsbedingt einen guten Überblick über Meinungsumfragen und die Stimmung im Volk. Das wusste auch ein Legationsrat der sowjetischen Botschaft mit Namen Abraschkin. Er musste regelmäßig Berichte über die Stimmung im westdeutschen Volk, insbesondere über die Mehrheitsfähigkeit der Entspannungspolitik nach Moskau schicken. Deshalb besuchte er mich regelmäßig in meinem Büro. Eines Tages fand ich während der Normalarbeitszeit keinen Termin. Meine Sekretärin vereinbarte deshalb einen Wochenendtermin bei mir zu Hause. Dann kam also an einem Samstag im Jahre 1971 der sowjetische Legationsrat nach Bonn-Ückesdorf, übrigens zu einem interessanten und auch für mich informativen Gespräch vor allem über seine Einschätzung der politischen Verhältnisse in der DDR. Als ich dann am Montag ins Büro, in die sogenannte Baracke der SPD, die es damals noch gab, kam, hatte die Sekretärin des Bundesgeschäftsführers Hans-Jürgen Wischnewski schon angerufen, ich solle mal schnell zum Chef kommen. Wischnewski stand lachend hinter seinem Schreibtisch und meinte, wenn ich schon einen Mitarbeiter der Sowjetischen Botschaft zu Hause empfangen würde, dann doch bitte nicht bestückt mit einem Blumenstrauß und einer Flasche Wodka. –
Die Partner der neuen Ostpolitik und ihre Gesprächspartner waren also noch vom Verfassungsschutz überwacht. Aber diese Überbleibsel des Kalten Krieges bestimmten nicht mehr die politische Linie.
Dennoch wird heute das Gegenteil behauptet. Nicht nur in der oben zitierten Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von gestern. Auch anderswo, zum Beispiel:
MDR: “Michail Gorbatschow wollte mit Glasnost und Perestroika ab Mitte der 1980er-Jahre die UdSSR reformieren. Tatsächlich ermöglichte er mit seiner Politik das Ende des Kalten Krieges und 1990 die deutsche Einheit.“
Die Zeit: „Michail Gorbatschow wollte die Sowjetunion retten und scheiterte. Gleichzeitig begann damit ein Prozess, der zum Ende des Kalten Krieges führte.“
BNN: „Gorbatschow steht für das Ende des Kalten Kriegs, aber auch für den Untergang der UdSSR“
Geschichte und Abitur: „Michail Gorbatschow – Sowjetunion- Staatschef Michail Gorbatschow leitete mit seinen Reformen “Perestroika und Glasnost” das Ende des Kalten Kriegs ein.“
Warum die falsche Darstellung der Geschichte? Warum wird das Ende des Kalten Krieges auf Gorbatschow und seine Politik zurückgeführt?
Da kommt mehreres zusammen. Die Medien fühlen sich mehrheitlich den Konservativen verbunden, im konkreten Fall der CDU und CSU. Die Mehrheit der meinungsführenden Personen war nicht auf Willy Brandts Seite und hat auch nicht seine Entspannungspolitik unterstützt, damals in den sechziger und siebziger Jahren vielleicht noch mehr als heute. Jedenfalls haben die heute meinungsführenden Kräfte kein Interesse daran, die Bedeutung dieser damaligen Friedenspolitik anzuerkennen oder gar hervorzuheben.
Hinzu kommt, dass meinungsführende Personen in Politik und Medien und die sie wesentlich prägenden atlantischen Kräfte aktuell keinerlei Interesse an Entspannung haben, auch nicht im konkreten Fall des Krieges in der Ukraine. Sie wollen diesen Konflikt durchfechten. Dabei stört die Botschaft, Verständigung und Frieden mit den Russen sei möglich, das habe die Geschichte schon erwiesen.
Titelbild: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 4.9.2022