Horst D. Deckert

Gratismut beim Deutschlandtag: Allzu späte CDU-Kritik an Merkel

Spahns Auftritt beim JU-Deutschlandtag (Foto:Imago)

Wenn alles längst gelaufen ist, nach erfolgtem Machtwechsel und wenn garantiert keine Gefahr mehr droht, wechseln Deutsche gern in den nachträglichen „Widerstand“, um dann umso entschiedener ihre Entrüstung und Abgrenzung zu bekunden. So waren nach 1945 alle irgendwie im Widerstand gewesen; nach 1989 schossen die „Bürgerrechtler“ ins Kraut, und antifaschistischer Gratismus wird mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Dritten Reich zum wachsenden Massenphänomen. Da überrascht es so gar nicht, dass sich nun, da die Ära Merkel mit der konkreten Aussicht auf baldige Formierung einer Ampel-Nachfolgeregierung ihrem Ende entgegenstrebt, Kritik und Unmutsäußerungen in der CDU Bahn brechen, auf die man viele Jahre lang vergebens gewartet hat.

Die Ratten verlassen das sinkende Schiff und die Parasiten wechseln den Wirt: Denn wer immer künftig die abwicklungsreife, an Haupt und Glieder zugrundegerichtete CDU künftig führt, muss praktisch alles anders machen als Angela Merkel, diese historische Fehlbesetzung im Kanzleramt, die außer ihrer eigener Machterhaltung mit praktisch allem gescheitert ist und einen Trümmerhaufen hinterlassen hat (selbst zwei Pro-Forma-Statthalter als Nachfolger im CDU-Vorsitz hat sie gründlich verschlissen). Deshalb kommen die Opportunisten nun aus den Löchern und kann es nicht schaden, sich möglichst deutlich von Merkel abzugrenzen. So kommt es, dass dieser jetzt von den eigenen Gefolgsleuten Fehler um die Ohren gehauen werden, die diese neu erwachten Maulhelden zum Zeitpunkt ihrer Begehung stets unterwürfig mitgetragen haben.

Zum passenden Forum für die viel zu späte Abrechnung wurde nun der „Deutschlandtag“ der Jungen Union (JU) in Münster erkoren. Ausgerechnet einer der ergebensten Paladine Merkels fuhr ihr dort in die Parade: Gesundheitsminister Jens Spahn lästerte hemmungslos über Merkels Führungsstil ab. Den von Merkel geprägten, für zur Rechtfertigung ihrer moralisierenden Politik der Unfehlbarkeit  wieder und wieder ins Feld geführten Satz „Das ist alternativlos“ wolle er „auf CDU-Parteitagen nie wieder hören“ polterte Spahn. Auch prangerte er Merkels Arroganz an, die nach dem CDU-Parteitag 2016 (auf dem dieser die Optionspflicht beim Doppelpass und eine Verschärfung des Flüchtlingsrechts beschlossen hatte) erklärt hatte, Parteitage hätten nichts zu melden – und die Umsetzung der Beschlüsse verweigerte. Spahns Breitseiten,so berechtigt sie sind, verraten dennoch mehr über ihn selbst als über Merkel, denn jahrelang schleimte er sich senkrecht an sie an.

Große Klappe der gestrigen Duckmäuser

Und plötzlich trauen sich in Münster auch Parteiprominente wie Mittelstandsunionschef Carsten Linnemann aus der Deckung. Der jammert: „Wir haben in den letzten zehn Jahren verlernt zu diskutieren„, weil die Politik „nur noch aus dem Kanzleramt gemacht“ wurde. Unterstützung bekommt er vom nordrhein-westfälischen JU-Chef Johannes Winkel, der konstatiert, Merkels Parteiführungsstil habe die CDU „systematisch destabilisiert und entkernt„. Ihre „asymmetrische Demobilisierung“ und die Vermeidung unbequemer Themen und Konflikten, die stattdessen „mit viel Steuergeld zugeschüttet“ worden seien, habe „kreative Ideen erstickt„. Das Ergebnis fasste Friedrich Merz zusammen: Die Union sei „ein insolvenzgefährdeter Sanierungsfall„.

Nicht einmal die Leitdomäne von Merkels Politik, ihr Leib- und Magenthema einer bislang von der Union sklavisch mitgetragenen wahnwitzigen Flüchtlingspolitik, ist den plötzlich erwachten spätberufenen Kritikern heilig: Es gebe „bis heute kein Migrationskonzept„, so Winkel, das Thema sei „fünf Jahre lang totgeschwiegen“ worden, während Griechenland und andere europäische Länder „die Drecksarbeit für uns erledigt haben.“ Gut gebrüllt, alles wahr – doch auch hier wieder die Frage: Wieso regt sich diese Kritik erst jetzt, da das Kind in den Brunnen gefallen ist?

Natürlich deswegen, weil es bisher im System Merkel politischer Selbstmord gewesen wäre, gegen diese Überkanzlerin den Mund aufzumachen. Glaubwürdiger machen sich die Ankläger, so recht sie mit ihrer Abrechnung haben, damit nicht. Es hat etwas erbarmungswürdiges, wenn sich ausgerechnet die im aufrechten Gang versuchen, die sich zuvor ohne aufzumucken das Rückgrat haben brechen lassen.

Ähnliche Nachrichten