Die Linkspartei hat bei der Bürgerschaftswahl in Bremen zwar gerade mit rund 11 Prozent sehr gut abgeschnitten. Aber heißt dies auch, dass die Linkspartei noch eine Zukunft hat? Sven Brajer, Autor des Buches „Die (Selbst)zerstörung der deutschen Linken. Von der Kapitalismuskritik zum woken Establishment“ hat da so seine Zweifel, wie auch schon aus dem Titel deutlich wird. Unser Autor Udo Brandes hat das Buch für die NachDenkSeiten gelesen und stellt es vor.
Brajer, der früher einmal selbst Mitglied bei der Linkspartei war, ist vermutlich tief enttäuscht von seiner nun ehemaligen Partei. Damit dürfte er wohl nicht der Einzige sein. Sein Urteil ist dementsprechend: vernichtend. Auch sein Urteil über die Eliten unseres Landes zeugt nicht von Begeisterung. Gleich zu Anfang in der Einleitung seines Buches stellt er fest:
„Die Linke hat sich in den letzten dreißig Jahren – ähnlich wie 1914 die SPD – mit in das Lager derer gesetzt, die sie eigentlich bekämpfen will: Sie hat es geschafft, sich zwischen der Finanzkrise 2008 und der ‚Corona-Krise‘ 2020/22 komplett überflüssig zu machen – ein Kunststück in Zeiten, in denen die materielle Ungleichheit immer größere Ausmaße erreicht, der Mittelstand und die Arbeiterklasse immer stärker zur Kasse gebeten werden, und eine politische-medial-ökonomisch eng verzahnte und durchkorrumpierte ‚Elite‘ im Wein und in narzisstischer Selbstverliebtheit ersäuft, aber stets Wasser predigt. Die Quittung folgte bei der Bundestagswahl 2021, bei der man lediglich 4,9 Prozent der Stimmen erhielt und nur aufgrund dreier Direktmandate den Einzug ins Parlament schaffte. Ein Jahr später, inmitten der größten Wirtschaftskrise seit Gründung der BRD, schaffte es die Partei dagegen nicht, den daran schuldhaften Eliten auf die Finger zu klopfen und eine soziale Alternative zur ‚Ampel‘ in Berlin aufzubauen, sondern sie betreibt fleißig ihre Selbstzerstörung. Anstatt ihr Profil zu schärfen, passte sie sich rigoros dem politischen Mainstream an.“ (S. 13)
Die Linkspartei und Corona
Dass die Partei „Die Linke“ ihre linke Identität aufgegeben hat, zeigt Brajer an vielen Beispielen auf. Eines davon beleuchtet den Umgang der Partei mit dem Thema „Corona“. Er beschreibt dazu das Veranstaltungsprogramm der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS). Hier zeigt sich deutlich: Die Linkspartei ist nicht mehr ein zuverlässiger Anwalt des Bürgers gegen einen übergriffigen Staat. Gleichzeitig arbeitet Brajer in diesem Zusammenhang sehr gut heraus, wie die „modernen“ Diffamierungsmethoden funktionieren, die auch gerne von den großen Mainstreammedien oder Akteuren der Politischen Klasse angewandt werden, wie etwa dem Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier (dazu weiter unten eine Erläuterung):
„Die ‚Corona-Krise‘ war und ist auch ein großes Thema bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), die noch im Sommer 2022 Veranstaltungen unter der sogenannten 2G+-Regelung abhalten lässt – der schärfsten Regel von allen, bei der nur Geimpfte und Genesene mit Maske Zutritt haben, die darüber hinaus einen aktuellen Test vorweisen müssen – der Rest bleibt draußen. An passenden Veranstaltungen zur Verunglimpfung jeglicher Kritiker der ‚Corona-Maßnahmen‘ hat es dazu nicht gemangelt. Titel wie ‚Von A wie Aluhut bis Z wie Zwangsimpfung. Argumentationstraining gegen Verschwörungserzählungen‘, ‚Verqueres Denken – Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus‘ oder ‚Fehlender Mindestabstand – Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde‘ stellen jeden in die rechte Ecke, der sich gegen die ‚Corona-Maßnahmen‘ ausgesprochen hat. (…) Die Methode ist in aller Regel ähnlich: Man sucht sich besonders extreme oder schlichtweg dumme Akteure oder Positionen, drückt denen den Stempel des ‚Verschwörungsideologen‘ auf und diskreditiert so die ganze Bewegung. Dabei ist man stets auf Kurs der Bundesregierung im staatlichen verordneten Kampf gegen den ‚Rechtspopulismus‘ – im Zweifel noch radikaler und unterscheidet sich kaum noch von anderen ‚Thinktanks‘ wie der olivgrünen Heinrich-Böll-Stiftung, die ehemals von Ralf Fücks geleitet wurde, oder der Amadeu-Antonio-Stiftung, an deren Spitze Anetta Kahane steht.“ (S. 186-187)
Die hier beschriebene Diffamierungsmethode konnte man auch kürzlich wieder bei Bundespräsident Frank Walter Steinmeier beobachten. Er konnte es sich in seiner Rede zum 175-jährigen Jubiläum der ersten Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche nicht verkneifen, den Medien Zitate zu liefern, die geeignet sind, das störende Volk zu diffamieren. Eine Gelegenheit, die von den Medien nur zu gern genutzt wurde, müssen diese sich doch schon seit Längerem mit einer störrischen Kundschaft herumärgern, die arroganterweise immer öfter glaubt, auf Qualitätsjournalismus verzichten zu können. Steinmeier sagte in seiner Rede Folgendes:
„(…) mein Appell: (…) achten wir unsere demokratischen Institutionen, die Parlamente, die frei gewählten Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Wer heute Parlamente verhöhnt, ständig von dem System, von Gleichschaltung und Meinungsdiktatur spricht, der verhöhnt in Wahrheit diejenigen, die für Freiheit und Demokratie gekämpft haben.
(…) Ähnlich geschieht es mit den Farben Schwarz-Rot-Gold. Vom Hambacher Fest über die Paulskirche und die Weimarer Republik sind sie jetzt unsere Farben, die Farben eines geeinten demokratischen Deutschlands. Um es klar zu sagen: Wer unsere Demokratie verachtet, hat kein Recht auf Schwarz-Rot-Gold.“ (Steinmeiers Rede siehe hier)
Mit anderen Worten: Wer es wagt, das Establishment zu kritisieren, und wer der Meinung ist, dass dessen Verhalten nicht immer dem demokratischen Geist unserer Verfassung entspricht, ist ein Demokratiefeind. Die Methode: Zweifel an der Qualität der „real existierenden“ Demokratie (also der Vergleich zwischen der gelebten Praxis und den Maßstäben der Verfassung) sowie Kritik an politischen Akteuren und den Medien wird umgedeutet zu einer Verhöhnung des Parlaments und der Demokratie. Aus Kritikern, die eine verfassungsgemäße Demokratie einfordern, werden so Demokratiefeinde gemacht. Genau wie Brajer es beschrieben hat: Man tut so, als ob alle öffentlich geäußerte Kritik am Establishment extremistisch und demokratiefeindlich sei. Innenministerin Nancy Faser lässt schön grüßen. Da möchte ich doch fragen: Wer hat hier ein Problem mit Demokratie?
Woker Kapitalismus
Ziemlich ausführlich (und das völlig zu Recht) zitiert Brajer einen Podcast des öffentlich-rechtlichen Senders SWR, der im Programm SWR 2 gesendet wurde. Autor ist der Philosoph und Publizist Alexander Grau, der auch für Cicero-online schreibt. Als ich die Zitate las, dachte ich spontan „Oh Wunder, es gibt beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch kleine Nischen, in denen Herrschaftskritisches mit einer Prise feiner Ironie veröffentlicht werden darf.“
In dieser Sendung befasst Grau sich mit dem „woken“ Kapitalismus. Woke – dieser Begriff stammt aus dem Englischen und bedeutet so viel wie „erwacht“ oder „wach“. Er bezeichnet ein „erwachtes Bewusstsein“ für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus. Brajer zitiert ausführlich Graus Analyse des modernen Kapitalismus:
„Der moderne Kapitalist ist gar kein Kapitalist mehr. Er ist nun ein Verantwortungsträger, Netzwerker oder kreativer Kopf. Man übt sich routiniert in Sozialpartnerschaft, achtet die Umwelt, ist offen für soziale Veränderungen und die Belange von Minderheiten. (…) Diversität gehört zur Unternehmenskultur, ebenso wie der Kampf gegen Rassismus. Gab man sich früher gerne dezidiert unpolitisch, so kokettiert man nun mit politischen Trends. Mancher Konzern erscheint auf den ersten Blick eher als eine Art NGO für eine bessere Welt (NGO = Nichtregierungsorganisation wie z.B. Amnesty International; UB) denn als gewinnorientiertes Unternehmen. Man kämpft für Klimaschutz, streitet für mehr Vielfalt und positioniert sich gegen rechts. Auf den Manageretagen herrscht der Geist der Progressivität.“ (S. 178)
Und dann stellt Grau in diesem Podcast mit Berufung auf die Analysen von Karl Marx fest, dass die Linke sich dazu hergab, für die in kapitalistischen Gesellschaften immer wieder aufs Neue stattfindende Erschütterung und Zerstörung alter gesellschaftlicher Zustände (ein Beispiel dafür erleben wir gerade mit der „Heizwende“) das passende Lebensgefühl zu liefern.
Die Konsequenzen seien fatal, kommentiert Brajer dies. Und zitiert zur Veranschaulichung ein weiteres Mal Alexander Grau:
„Die letzte Konsequenz dieser Entwicklung ist der woke Kapitalismus. Hier kommt es zu einer endgültigen Amalgamierung von neulinkem Denken und Anforderungen eines globalen Marktes. Konsequentes Produkt dieser Osmose ist die Vision des entgrenzten, geschichtslosen Menschen ohne Herkunft, ohne Geschichte, ohne materiellen Körper. Alles steht immer zur Disposition. Jahrhunderte alte Traditionen werden ebenso pulverisiert wie biologische Tatsachen. Nicht nur kulturelle Artefakte, auch biologische Objekte gelten als soziale Konstruktionen, die das Ergebnis von Machtgefügen sind und damit von Unterdrückung. Weder gibt es Nationen noch die die Bipolarität der Geschlechter.“ (S. 180)
Interessant ist hier, dass ein dezidiert linker Autor wie Brajer heutzutage für eine treffende Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft bei einem eher konservativ ausgerichteten Autor fündig wird. Sind es heute konservative Denker, die sich für linke Werte engagieren?
Fabio De Masis kluge Analyse
Gegen Ende des Buches bringt Brajer das, was eine gute linke Politik ausmachen würde, mit einem sehr klugen Zitat des ehemaligen Linkenpolitikers und Bundestagsabgeordneten Fabio De Masi auf den Punkt. De Masi ist inzwischen aus der Linkspartei ausgetreten. In seiner Begründung, warum er bei der Bundestagswahl 2021 nicht mehr antreten wollte, schrieb er Folgendes:
„Identität ist wichtig im Leben. Sie darf aber nicht dazu führen, dass nur noch Unterschiede statt Gemeinsamkeiten zwischen Menschen betont werden und sich nur noch ‚woke‘ Akademiker in Innenstädten angesprochen fühlen. Eine Politik, die nur noch an das Ego und die individuelle Betroffenheit, aber nicht mehr an die Gemeinschaft appelliert, ist auch Donald Trump nicht fremd. Viele Menschen teilen unsere Werte. Aber wir gewinnen nichts, wenn wir weltfremd wirken oder Stress in der Gesellschaft tabuisieren, weil wir Angst haben, auf konkrete Probleme auch konkrete Antworten liefern zu müssen. Dies schließt übrigens ‚linken Populismus‘ überhaupt nicht aus. Wir müssen populärer werden – aber mit Hand und Fuß und den richtigen Schwerpunkten.“ (S. 226)
Hat die Linkspartei noch eine Chance?
Wenn ich Brajer richtig verstanden habe: nein. Er scheint auf eine neue linke Partei mit Sahra Wagenknecht an der Spitze zu setzen, ohne dies aber ganz klipp und klar zu sagen:
„Der Riss in der Linken zwischen ‚Reformern‘ wie Wissler, Schirdewan, Hennig-Wellsow, Ramelow oder Kipping einerseits und ‚echten‘ Linken wie Wagenknecht, Lafontaine, Dagdelen, Dehm oder De Masi ist nicht mehr zu kitten. Gut so! Denn niemand braucht eine zweite sozialdemokratische oder grüne Partei. Im Gegenteil sagen zahlreiche Umfragen für eine ‚Wagenknecht-Partei‘ ein Wahlpotenzial im zweistelligen Prozentbereich voraus.“ (S. 229)
Mein Resümee zum Buch
Insbesondere die ersten Kapitel von Brajers Buch sind für meinen Geschmack zu detailliert mit gefühlt Hunderten Zitaten und Belegen, wer wo was gesagt hat. Das mag vielleicht für Insider der Partei interessant sein. Aber für „normale“ politikinteressierte Bürger bzw. Leser ist das, zumindest für meinen Geschmack, zu viel des Guten. Da wäre weniger wirklich mehr gewesen.
Ein weiterer Punkt, der mich störte: Ich habe nichts gegen Polemik und Ironie. Beides kann einen Text sehr beleben. Aber an manchen Stellen ist mir der Autor zu ressentimentgeladen. Das gilt zum Beispiel beim Thema „Klimawandel“. Ich kann verstehen, dass der Autor von den Klimaaktivisten furchtbar genervt ist. Und ja, es stimmt, Klimaveränderungen hat es immer in der Erdgeschichte gegeben – aber nicht in dieser Geschwindigkeit und Intensität. Da darf man schon vermuten, dass das etwas mit den enormen CO2-Emissionen zu tun hat und menschengemacht ist. Brajer zweifelt dies nicht offen an, lässt diese Frage bewusst offen. Aber es schimmert durch, dass er am menschengemachten Klimawandel zweifelt, was ich gar nicht kritisieren will. Ich gehöre ja schließlich nicht zu den woken Guten. Ich kann andere Meinungen respektieren. Aber so wirkt dieser Abschnitt im Buch („Klimareligion“) mehr wie Nörgelei und nicht wie eine politische Analyse. Da wäre es besser gewesen, offen Stellung zu beziehen und dies argumentativ fundiert zu begründen.
Trotz der genannten Kritik, und auch wenn ich mit manchen Aussagen von Brajer nicht übereinstimme: Sein Buch ist ohne Zweifel eine wertvolle Quelle für alle, die sich mit der Frage beschäftigen wollen, warum die Linkspartei sich im Niedergang befindet und welche Schlüsse man daraus als „echter Linker“ für die Zukunft ziehen kann oder sollte. Der Leser findet hier eine Fülle von Material. Insofern kann ich das Buch von Brajer mit den genannten Einschränkungen empfehlen.
Sven Brajer: Die (Selbst)zerstörung der deutschen Linken. Von der Kapitalismuskritik zum woken Establishment, Promedia-Verlag, 232 Seiten, 22 Euro.