Die Corona-«Pandemie» und die mit ihr einhergehenden Einschränkungen hätten viele Bürger bis vor 2020 womöglich noch für unwahrscheinlich erachtet. Demokratische Spielregeln wurden auf einmal über Bord geworfen. Grundrechte einkassiert. Seither bewegen wir uns in eine Richtung, die vielen Bürgern Angst macht.
Die Leitplanken für die gegenwärtige Entwicklung wurden jedoch schon vor Jahrzehnten gesetzt. Kluge Köpfe wie Sheldon S. Wolin erkannten schon lange, dass sich die westlichen Gesellschaften in Richtung Totalitarismus bewegen. 2008 verfasste der 2015 verstorbene Politikwissenschaftler das Buch «Democracy Incorporated: Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarism». Der Westend-Verlag hat das Buch jüngst auf Deutsch herausgebracht.
«Es liest sich, als wolle uns Wolin das derzeitige Corona-Regime ohne rote Linien erklären», schreibt der Journalist Norbert Häring über die Neuausgabe. Das Vorwort verfasste der Psychologe und Kognitionswissenschaflter Rainer Mausfeld. Er zeigt dabei auf, wie die gegenwärtige politische Situation anhand Wolins Analysen erklärbar wird. Corona-Transition veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Westend-Verlags hier einen Auszug aus Mausfelds Vorwort.
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Warum heute Wolin lesen?
Wolin bietet in seinem Buch auf der Basis seiner überragenden Kenntnisse der politischen Ideengeschichte eine ebenso profunde wie schonungslose Analyse des von US-Eliten dominierten gegenwärtigen kapitalistischen Systems und seinen neuartigen Techniken der Bevölkerungskontrolle. Über die konkreten von ihm beschriebenen Vorgänge hinaus liegt der eigentliche Wert seines Buches jedoch in sehr viel allgemeineren Aspekten der Art seiner Zugangsweise und seiner Analysen, nämlich in gedanklichen Instrumenten, die Wolin für ein besseres Verständnis der Gegenwart bereitstellt.
Diese Instrumente können helfen, die Ideologie dieses Systems klarer zu erkennen und zu enttarnen. Dies stellt eine besondere Herausforderung dar, weil die kapitalistische Ideologie eine historisch einzigartige Wirkmacht aufweist und – trotz ihrer zunehmend erkennbaren zerstörerischen Auswirkungen – gegen jede grundlegende Kritik eine besondere Robustheit aufweist. Schliesslich helfen Wolins Analysen, neu über die zivilisatorische Leitidee der Demokratie nachzudenken, sich auf ihren eigentlichen Gehalt zu besinnen und ihre Zukunfts- chancen in hochkomplexen heterogenen Gesellschaften zu prüfen.
Vor einem näheren Blick auf diese Aspekte, die eine Lektüre von Wolins Buch besonders lohnend erscheinen lassen, stellen sich jedoch zwei Fragen zu der Generalisierbarkeit seiner Befunde und Schlussfolgerungen: eine räumlich-soziale nach der Übertragbarkeit von amerikanischen auf deutsche Verhältnisse und eine zeitliche nach ihrer Gültigkeit mehr als 15 Jahre nach ihrer Formulierung.
Können Wolins Einsichten auch für deutsche Verhältnisse Gültigkeit beanspruchen? Deutschland ist politisch, ökonomisch, militärisch, institutionell, ideologisch und kulturell so fest in das von Wolin beschriebene US-hegemoniale System eingebunden, dass an der grundsätzlichen Übertragbarkeit von Wolins Analysen totalisierender Dynamiken kein Zweifel bestehen kann. Auch in Deutschland sind Entwicklungsdynamiken autoritärer Transformationen demokratischer Substanz kaum zu übersehen und in der Fachliteratur vielfach im Detail aufgezeigt worden.
Sie begleiten die Bundesrepublik seit ihrer Entstehung. Angesichts einer entsprechenden Interpretationsgeschichte des Grundgesetzes, der weitgehenden Entkopplung der Rechtssetzung von der gesellschaftlichen Basis und der zunehmenden Entformalisierung des positiven Rechts fragt die bedeutende Verfassungs- und Demokratietheoretikerin Ingeborg Maus, «inwiefern Rechtsstaat und Demokratie überhaupt noch existieren». Ihre Antwort ist unmissverständlich: «Diese Frage muss im Hinblick auf den entformalisierenden Einbau unbestimmter Rechtsbegriffe in die Gesetze selbst leider verneint werden.» (Maus, 2011, S. 194)
Totalisierende Entwicklungen gehen jedoch über autoritäre Transformationen hinaus. Aussenpolitisch zeigen sie sich, Wolin zufolge, durch eine Einbindung in den entgrenzten Imperialismus der US-Supermacht. Nach innen manifestieren sich totalisierende Entwicklungen in einem ausgefeilten, hoch effizienten und kaum noch sichtbaren Indoktrinations- und Konformitätssystem, das Bürger durchgreifend entpolitisiert und politisch wie auch als Konsumenten berechenbar macht, alle Bereiche des Alltags erfasst und ein grenzenloses Kontroll- und Manipulierungsbedürfnis hat. Für derartige totalisierende Entwicklungen lassen sich auch in Deutschland, vor allem in jüngerer Zeit, vielfältige empirische Belege finden.
Einen zentralen Indikator totalisierender Entwicklungen bilden für Wolin die Medien. Für die von ihm diagnostizierte und beklagte Einbettung der Medien in die politisch-ökonomischen Zentren der Macht und für ihre ideologische Homogenisierung finden sich auch in Deutschland Belege im Überfluss. Diese Homogenisierung hat seit 2014 mit dem Krieg in der Ukraine einen neuen Höhepunkt erreicht.
Wie gross sie ist, lässt sich auch daran ermessen, dass 2014 der damalige Aussenminister Frank-Walter Steinmeier das Faktum anerkennen musste, dass es eine «erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen» gibt und dass ihm der «Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten» ziemlich hoch erscheint (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2014). Diese Konformität zeigt sich bei allen für die Stabilität gegenwärtiger Machtverhältnisse als relevant angesehenen Themen: Aussenpolitisch sind dies vor allem Themen mit Bezug zu Russland, Ukraine, Syrien, Israel, Iran, Kuba oder Venezuela, innenpolitisch vor allem Themen einer grundlegenden Medienkritik oder der autoritären Selbstermächtigungen der Exekutive.
Im neuen Kalten Krieg gegen Russland und China verstehen sich die grossen Medien nicht lediglich als «eingebettete Medien» einer parteiischen Kriegsberichtserstattung, sondern geradezu als eigenständige Akteure im Kampfgeschehen. In der Corona-Krise, die vielfach von einer Kriegsmetapher begleitet wird und somit die Rechtfertigung eines Ausnahmezustands gleichsam automatisch in sich trägt, sind auch die grossen Medien im Kriegsmodus und haben den Raum des Politischen noch weiter zerstört, indem sie ihn auf die jeweiligen Regierungspositionen verengt haben. Sie verlangen eine unbedingte und somit vorbehaltlose Unterstützung aller Massnahmen der Regierung, wie erratisch und sachlich unbegründet sie auch sind, und attackieren und diffamieren in einer immer enthemmteren Kampagne alle, die vom vorgegebenen Kurs abweichen.
Wurden zu früheren Zeiten Zweifel und Kritik im Krieg als «Defätismus» geahndet, stehen sie heute im Verdacht einer «Delegitimierung des Staates» – eine in diesem «Krieg» eigens neu geschaffene Kategorie des Verfassungsschutzes. Der für totalisierende Entwicklung von Wolin als zentral angesehene Konformitätsdruck der Medien ist in der Corona-Krise so aggressiv geworden, dass die Medien selbst zu einem Motor und Bedingungsfaktor dieser gesellschaftlichen Krise geworden sind. Wolins harsche Medienkritik ist also – sei es in den USA oder in Deutschland – berechtigter als je zuvor in der Geschichte des Medienwesens. In der Corona-Krise haben totalisierende Entwicklungen einen mächtigen Schub erfahren. Es ist zu erwarten, dass diese Entwicklungen nun Schritt für Schritt verfassungsrechtlich legitimiert und institutionalisiert werden.
Tatsächliche Bedrohungen – seien es durch die drohende Klimakatastrophe, weitere Pandemien, Energieprobleme oder Finanzkrisen – wie auch vorgebliche und inszenierte Bedrohungen – seien es durch Russland, China, Iran oder andere Länder, die die USA als Bedrohung ihrer hegemonialen Ansprüche ansehen – lassen sich nun jederzeit nutzen, um das formale Fundament auszubauen, auf dem sich eine neuartige Form von Totalitarismus verrechtlichen lässt. Dies beantwortet bereits teilweise die Frage, ob Wolins Analysen und Einsichten auch heute noch Gültigkeit beanspruchen können. Wolins Buch ist 2008 erschienen. Wie haben sich seitdem Realität und Zukunftsaussichten der Demokratie verändert?
Auch ohne eine detaillierte Diagnose konkreter gegenwärtiger Entwicklungen lassen sich aus der bisherigen Geschichte kapitalistischer Demokratien kaum Gründe für eine optimistische Antwort ableiten. Da Wolin die Wurzeln totalisierender Entwicklungen wesenhaft in Liberalismus und Kapitalismus verortet, steht nicht zu erwarten, dass diese Dynamiken seitdem ihr Ende gefunden haben könnten oder gar wieder zurückgenommen worden wären.
Wolin zeigt auf, dass in kapitalistischen Demokratien die Feinde einer wirklichen Demokratie gerade aus ihrer ideologischen Mitte entspringen, nämlich aus dem Liberalismus und dem von ihm erzeugten politischen Vakuum sowie aus dem Kapitalismus. In dem aus der Verbindung von Liberalismus und Kapitalismus gespeisten «umgekehrten Totalitarismus» sind die unerbittlichsten und wirkmächtigsten Feinde der Demokratie nicht mehr Faschisten oder Kommunisten, sondern die exekutiven Apparate selbst in ihren Verflechtungen mit Konzernen, Kapitalgesellschaften und Massenmedien.
Die daraus hervorgehenden neuartigen Formen der Macht zielen auf eine radikale Entgrenzung von Macht und damit auf eine Befreiung von demokratischer Rechenschaftspflicht und Kontrolle. Sie zielen auf eine Zerstörung der Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie schlechthin. Der Kampf gegen die Demokratie wird in erster Linie aus dem Maschinenraum kapitalistischer Demokratien selbst geführt. Betrachtet man empirische Befunde und detailliertere Diagnosen, wie sie vielfach in der Fachliteratur gegeben wurden, so lässt sich feststellen, dass sich seit dem Erscheinen von Wolins Buch die von ihm analysierten und beklagten totalisierenden Dynamiken noch einmal gewaltig beschleunigt und in alle gesellschaftlichen Sphären ausgebreitet haben.
Mit der Vorherrschaft des US-dominierten globalisierten Finanzkapitalismus und den damit einhergehenden globalen Verflechtungen ökonomischer und politischer Eliten wurde Macht immer abstrakter organisiert und somit für die Machtunterworfenen praktisch unsichtbar gemacht. Auf diese Weise ist es den ökonomischen und politischen Zentren der Macht gelungen, sich gegen demokratische Rechenschaftspflicht und Kontrolle nahezu wasserdicht abzuschotten und gegenüber der gesellschaftlichen Basis eine Asymmetrie der Macht und eine Stabilität zu erreichen, die in der Geschichte wohl einzigartig ist.
Schon der traditionelle Kapitalismus war zur Stabilitätssicherung darauf angewiesen, sich immer weitere gesellschaftliche Bereiche anzueignen. Diese ihm innewohnenden Dynamiken haben sich im globalen Finanzkapitalismus extrem beschleunigt. Der Kapitalismus erweiterte sich zu einem Überwachungskapitalismus (Zuboff, 2018), also zu Formen kapitalistischer Akkumulation, die auf eine vollständige Kontrolle aller Lebensbereiche und eine totalitäre Erfassung und Steuerung von Menschen zielen. Zudem wurde die Rechtssetzung selbst, die gerade den Kern der demokratischen Leitidee von einer Selbstgesetzgebung ausmacht, von den mächtigsten ökonomischen Akteuren usurpiert und die Produktion von Recht selbst zu einer kapitalistischen Produktionsform gemacht (Pistor, 2020).
Diese Entwicklungen wurden dadurch begünstigt, dass sich der Kapitalismus ohnehin seit jeher dadurch auszeichnet, dass ihm kein ideologisches System an illusionserzeugender Kraft gleichkommt. Darauf konnte die Ideologie des neoliberalen globalisierten Kapitalismus aufbauen und ihre Wirksamkeit durch eine breite Palette neuartiger ideologischer Elemente nahezu perfektionieren. Kein Indoktrinationssystem der Geschichte vermag es, so raffiniert und so tiefreichend natürliche Eigenschaften des menschlichen Geistes für Zwecke der Manipulation und der Stabilisierung seiner eigenen Machtverhältnisse auszunutzen – eine nahezu perfekte Form von Herrschaft, da sie kaum noch als Herrschaft empfunden wird.
Auf diese Weise konnte die Ideologie des neoliberalen globalisierten Kapitalismus, in den Worten des Sozialhistorikers Perry Anderson (2000, S. 17), «zur erfolgreichsten Ideologie der Weltgeschichte» werden. Dies gelang ihr vor allem deswegen, weil sie sich als Ideologie nahezu unsichtbar gemacht hat. Somit ist es nicht überraschend, dass die Mehrzahl der Bevölkerung sich eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen kann. Erstmals in der Geschichte gelang es – genau dies ist Wolins Thema –, totalitäre Macht gleichsam unsichtbar zu machen und als reine alternativlose Rationalität auszugeben. Somit lässt sich, wie auch bereits von Wolin diagnostiziert, jeder grundlegende Dissens als irrational und unvernünftig diffamieren und gesellschaftlich ausgrenzen.
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Sheldon S. Wolin, «Umgekehrter Totalitarismus» . Westend, Frankfurt 2022. ISBN978-3-86489-348-3, 550 Seiten. 29,99 Euro. Weitere Infos und Bestellung hier.