Es ist ein markanter und denkwürdiger Meilenstein des schleichenden und anhaltenden Absturzes und Niedergangs einer Wirtschaftsnation von vormaliger Weltgeltung: Einer Untersuchung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) zufolge befand sich nach der ersten Jahreshälfte 2022 kein einziges deutsches Unternehmen unter den 100 Konzernen mit dem höchsten Börsenwert.
Der Software-Anbieter SAP lag mit einem Börsenwert von 106 Milliarden Dollar gerade noch auf Platz 113. Die Deutsche Telekom folgte mit 98 Milliarden Dollar auf dem 120. Rang. Ende 2007 fanden sich noch sieben deutsche Unternehmen in den Top 100, zum Jahresende 2021 noch zwei. Das höchstplatzierte europäische Unternehmen ist der Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé auf Rang 20. Vor der Finanzkrise 2007 waren noch 46 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt aus Europa, heute sind es noch 16.
Deutschland bald nur noch „Kreisliga“
An der Spitze steht der Erdölkonzern Saudi Aramco mit einem Börsenwert von 2,3 Billionen Dollar. Mit insgesamt 60 Vertretern wird das Ranking von US-Konzernen dominiert. Unter den Top 10 befinden sich Apple, Microsoft, die Google-Muttergesellschaft Alphabet, Amazon, Tesla, die Investmentgesellschaft Berkshire Hathaway, der Krankenversicherer Unitedhealth, der Pharma- und Konsumgüterkonzern Johnson & Johnson und der Facebook-Konzern Meta.
Die Studie weist darauf hin, dass infolge des Ukraine-Krieges, von Zinserhöhungen und Ängsten vor einer Rezession ein Kurssturz an den Börsen verursacht und Billionenwerte vernichtet worden seien. In der ersten Jahreshälfte sank der Wert der an der Börse gehandelten Aktien um 6,1 Billionen Dollar auf rund 29,8 Billionen Dollar. Gegen den Trend konnten die Öl- und Gasunternehmen unter den Top 100 ihren Wert um 19 Prozent steigern. Dagegen brach der Börsenwert der Tech-Unternehmen gegenüber dem Stichtag 31. Dezember 2021 um 28 Prozent ein.
Hiobsbotschaft für Rating-Gesellschaften
Der EY-Vorsitzende Henrik Ahlers spricht aus, was viele Ratingfirmen und Unternehmensberatungen wissen: „Die erheblich eingetrübten Konjunkturaussichten, die hohe Inflation, steigende Zinsen und die massiven geopolitischen Spannungen haben zu einer tiefgreifenden Verunsicherung geführt – obwohl viele der Top-Konzerne nach wie vor hohe Gewinne ausweisen. In allen Weltregionen und fast allen Branchen verloren Unternehmen erheblich an Wert. Einzig Öl- und Gasunternehmen konnten von den stark gestiegenen Energiepreisen profitieren und verzeichneten steigende Aktienkurse.“ Er rechnet für die zweite Jahreshälfte mit einer zunehmenden Verschlechterung: „Die Hiobsbotschaften häufen sich, viele Krisen, die sich teils gegenseitig befeuern, müssen bewältigt werden, die Gefahr einer weltweiten Rezession ist inzwischen real“, erklärte er.
Investoren hätten in letzter Zeit „eher auf Profitabilität als auf Wachstum“ gesetzt. Das Geld sitze „nicht mehr so locker, die Anforderungen an Zielunternehmen und ihre Finanzkennzahlen steigen.” Die Perspektive für deutsche und europäische Unternehmen sieht er eher pessimistisch. Beide seien für den Digitalisierungsschub, der Wirtschaft und Börsen zukünftig entscheidend prägen werde, schlecht aufgestellt. 17 von 23 Technologieunternehmen in den Top 100 hätten ihren Hauptsitz in den USA, vier in Asien und nur zwei in Europa.