Horst D. Deckert

Klinikversorgung statt Inzidenzen: Auf eine Willkürregel folgt die nächste

Öfter mal was Neues an Unsinnskriterien: Jens Spahn (Foto:Imago)

Nur auf den ersten Blick ist die Einführung eines neuen Bewertungsmaßstabs für gesundheitspolitische „Schutzmaßnahmen“ anstelle der bisherigen 7-Tages-Inzidenz, die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn diese Woche ankündigte, ein Fortschritt. Tatsächlich wird eine willkürliche, aussagelose Regelung durch einen mindestens ebenso unausgegorenen, weil nicht objektiven Mechanismus ersetzt: Die „regionale Hospitalisierung“, die fortan der neue Maßstab ist.

Erstens ermöglicht das neue Gummi-Kriterium der „Hospitalisierung“ eine noch leichtere Manipulation der scheinbaren Alarmkriterien, mit denen die Politik dann fortan Notstandsmaßnahmen und Grundrechtseinschränkungen umsetzen kann. Hierfür sind künftig nicht einmal mehr Labore notwendig, die die gewünschten Szenarien in einer beliebigen Kontrollgruppe herbei testen (wahlweise nur symptomatische und Verdachtsfälle, Reiserückkehrer, Ungeimpfte oder bestimmte Berufsgruppen) – sondern nur noch kooperative Kommunalpolitiker, Klinikträger und ein paar Statistiker.

Und zweitens, weitaus entscheidender: Die neue Regelung wird sang- und klanglos von der Epidemischen Lage entkoppelt und ganz unabhängig von Corona oder einer „Pandemie“ zum neuen Indikator einer ungesunden Machtergreifung ausgebaut. Bei dieser Bundesregierung kommt selten bis nie etwas besseres nach – und das, was Spahn hier (in Befolgung der Aufforderung des Bundestags, bis kommenden Montag einen Gesetzesvorschlag für eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes zu formulieren) auf den Tisch legt, ist ein gutes Beispiel für Verschlimmbesserung mit verheerenden Auswirkungen.

Spahns „Formulierungshilfe“ für eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes hervor, über das das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ berichtet, ersetzt einen zwar willkürlichen, aber immerhin einheitlichen Grenzwert, der nie mehr als eine leidliche Orientierungshilfe war, durch die Betrachtung „stationärer Versorgungskapazitäten… mit dem Ziel, eine drohende Überlastung der regionalen stationären Versorgung zu vermeiden“, heißt es da. Und: Es könnten weitere Indikatoren und Parameter „zur Bewertung einer epidemischen Lage, wie die Infektionsdynamik und die Anzahl der gegen Covid-19 geimpften Personen“ einbezogen werden.

Großangelegter Schwindel der Intensivkapazitäten im Frühjahr sollte zu denken geben

Bei dieser wachsweichen Definition der stationären Versorgungskapazitäten muss schon jeder stutzig werden, der sich den großangelegten Schwindel um die angeblich volllaufenen Intensivstationen im zweiten Lockdown vergegenwärtigt. Rein finanziellen Anreizen einer grotesken politischen Fehlsteuerung folgend hatten da die Kliniken ihre gemeldeten Intensivkapazitäten munter gesenkt und erhöht, wie es für sie gerade opportun war – und damit Engpässe bei Bettenbelegung suggeriert, die von der Politik dankbar bis begierig für immer weitere Restriktionen und Lockdownverlängerung herangezogen wurden. An der Stellschraube der „Klinikauslastung“ lässt sich also fast beliebig drehen.

Doch es gibt noch weitere Ungereimtheiten: Die reine Relation von Bevölkerungszahl und verfügbarer Intensivkapazitäten ist regional überhaupt nicht vergleichbar. Wer Pech hat auf dem flachen Land zu wohnen, wo es kaum Krankenhäuser gibt, dem kann fortan schon bei einer saisonalen Hitzewelle oder gehäuften Unfällen seiner Region, etwa durch saisonale Touristenwellen oder Motorradfahrer im Sommer, ein „Teillockdown“ drohen. Und in Großstädten, wo zwar die Klinikversorgung ungleich konzentrierter ist, sammelt sich der stationäre Behandlungsbedarf eines riesigen Umlandes, was ebenfalls die reine regionale Betrachtung erschwert. Die Politik hat so oder so leichtes Spiel und freie Hand, Belastungsspitzen bis hin zu Versorgungskrisen ganz nach Bedarf zu bagatellisieren oder zu dramatisieren. So lassen sich punktgenaue Ausnahmezustände ausrufen, natürlich proaktiv begleitet von alarmistischen Medien – und auch gerne als Bestrafung für politische Illoyalitäten anwenden. In Kreisen mit erhöhter „AfD-Inzidenz“ zum Beispiel.

Zur völligen Farce aber wird die neue Regelung angesichts der Tatsache, dass dieselbe Politik, die nun die Bevölkerungs-Ratio zur Krankenhausinfrastruktur faktisch zur neuen Norm macht, in den letzten Jahren reihenweise und im großen Stil Krankenhäuser geschlossen hat, Kapazitäten abgebaut und vor allem Spezialbetten in Schwerpunktkliniken konzentriert hat zu Ungunsten der Versorgung in der Fläche. Alleine 2020, im Corona-Jahr Eins, waren es über 20 Kliniken, die dichtgemacht oder teilgeschlossen wurden. Dass die Früchte dieser Ausdünnung und höchst disparaten Angebotsverteilung einer zentralen medizinische Grundversorgung nun von derselben Regierung zum Anlass für künftige Grundrechtseingriffe genommen wird, die diese erst zu verantworten hat: Das schreibt die Dreistigkeit und Irrationalität der Corona-Politik stimmig für die Zukunft fort…

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