In der Schweiz stehen die Zeichen auf Lockerung. Es sieht ganz danach aus, als würde der Bundesrat in den nächsten Tagen seinen Ausstiegsplan aus der Pandemie präsentieren. Erste Erleichterung macht sich breit. Die Menschen sehnen sich nach «Normalität». Doch können wir nach den schwierigen zwei Jahren mit unzähligen Auflagen und Einschränkungen einfach zur «Normalität» übergehen? Dort weitermachen, wo wir aufgehört haben?
Ein Blick hinter die Kulissen liefert die Antwort: Nein, können wir nicht! Überfüllte Jugendpsychiatrien, erhöhtes Gewaltpotenzial unter Jugendlichen, Vandalismus, überlastete Psychologen, überforderte Lehrkräfte … – die Liste der Kollateralschäden ist lang und nicht abschliessend.
Erhöhte Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen
«In der Pandemie schlagen Jugendliche öfter zu», titelte die Berner Zeitung (BZ) Ende Januar: «Während der Pandemie ist im Kanton Bern die Jugendgewalt nochmals deutlich angestiegen.» Beispielsweise, seit Mitte Januar ein Tramchauffeur in Bümpliz von Jugendlichen spitalreif geprügelt worden. Einen solchen Angriff auf einen Angestellten habe man seit mindestens zehn Jahren nicht mehr erlebt, nahm Bernmobil dazu Stellung.
Im Herbst 2020 habe eine Jugendbande auf der Grossen Schanze in Bern ihr Unwesen getrieben und Passanten attackiert und ausgeraubt, heisst es in der BZ weiter. Sämtliche Bandenmitglieder seien minderjährig.
Die BZ konfrontierte einen Experten mit den Erkenntnissen. Silvio Flückiger, Leiter der städtischen Interventionstruppe Pinto bestätigte: «Viele Junge stecken wegen der Pandemie und der Massnahmen in einer schwierigen Situation, auch beruflich.» Seine Mitarbeitenden hätten während der Pandemie weniger mit physischen Gewaltdelikten zu tun gehabt: «Der Frust der Jugendlichen, die sich eines Teils ihrer Entwicklung beraubt sehen, äussert sich eher verbal.»
Der Berner Sicherheitsdirektor sagte auf Anfrage der BZ, man habe während der Pandemie «eine Zunahme der Gewalt im öffentlichen Raum» festgestellt. Auch Nino Santabarbara Küng, leitender Staatsanwalt des Kantons Bern, bestätigte auf Anfrage der Zeitung, dass sich die Zahl der Verurteilungen von Minderjährigen im Kanton Bern innerhalb eines Jahres vervierfacht habe.
Überlastete Psychotherapeuten
Nebst erhöhter Gewaltbereitschaft unter den Jugendlichen hat die Pandemie in dieser Gruppe weitere Spuren hinterlassen. So berichtete Tamedia von überfüllten Jugendtherapien und Kinder-Therapeutinnen, die inzwischen am Limit laufen. Eine schweizweite Umfrage bei über 450 Psychiatern habe «das Ausmass der Krise» zutage gefördert.
«Sie schildern Wartezeiten von bis zu 18 Monaten, notfallmässige Einweisungen von 14-Jährigen auf die Erwachsenenpsychiatrie, verzweifelte Anrufe von Eltern oder den angeschlagenen Jugendlichen selbst, und immer neue Abweisungen», so Tamedia.
Dabei seien auch die psychosozialen Fachleute selbst starken Belastungen ausgesetzt. «Zwar kümmern sich die Therapeutinnen und Therapeuten um das psychische Wohl von Kindern und Jugendlichen – und damit um die verletzlichste Gruppe unserer Gesellschaft. Doch im Vergleich zur angespannten Personalsituation in der Pflege sind ihre durch Corona ausgelösten Sorgen und Nöte medial oder politisch bisher kaum thematisiert worden.»
Auf Anfrage von Tamedia erklärte die Psychotherapeutin Barbara Widmer: «Die Zunahme von Patienten während der Pandemie war enorm. Wir sind so stark ausgelastet, dass wir immer wieder Jugendliche mit Essstörungen abweisen müssen, die Hilfe bräuchten. Ich habe Klientinnen, die sagen, sie schrieben 30 bis 40 Psychiater und Psychotherapeutinnen an.»
Ähnliches erlebte die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Sophie Engström. Während der Pandemie seien «sehr rasch extrem viele Anfragen» gekommen: «Jede Therapeutin, die ich kenne, hatte drei bis vier Neuanmeldungen pro Tag.» Eine schwere Depression lasse sich aber nicht in ein paar Sitzungen lösen. Deswegen seien Therapieplätze lange belegt.
Situation schwierig auszuhalten
Für die Fachpersonen selbst sei die Situation kaum auszuhalten, so Engström: «Gerade für junge Fachleute ist es eine Herausforderung. Es gibt Phasen, in denen man denkt, man habe bald ein Burn-out – aber man will einfach weitermachen, um zu helfen.»
«Etwas Schönes» hat die Pandemie für die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Vera von Schrötter dennoch gebracht: «Unser Beruf erhält mehr Anerkennung.» Psychische Krankheiten würden entstigmatisiert; die Jugendlichen dürften heute offen sagen, dass sie sich psychisch belastet fühlen. Genau dies sei aber wiederum problematisch, denn: «Die Jugendlichen merken, dass es keine Sicherheit mehr gibt; nicht in der Schule, nicht zu Hause.»
Stefania Curschellas, Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Zürich, stellte in der Pandemie eine Zunahme von Panikattacken und Angststörungen fest. «Normalerweise regulieren Teenager diesen Stress untereinander, indem sie sich austauschen. Aber im Lockdown brach das zusammen, Strukturen wie Sportvereine oder die Pfadi fielen weg», sagte sie gegenüber Tamedia. Viele Jugendliche seien so in eine Depression gerutscht. «Manche äussern gar Suizidgedanken.»
Erst in der Pandemie sei die psychische Gesundheit in den Fokus gerückt. «Viel zu oft schaut die Gesellschaft nur auf die körperliche Gesundheit. Die seelische Gesundheit ist leider zweitrangig. Dabei wäre die genauso wichtig, auch bei Kindern.»
Überforderte Lehrkräfte
Die seelische Gesundheit leidet offensichtlich auch bei den Lehrkräften, wie ein weiterer aktueller Artikel der BZ belegt. Die Schulen seien «Hauptdrehscheibe des Coronavirus»: «Das Coronavirus rast durch ganze Klassenverbände, reihenweise werden Kinder zum Ausbruchstesten aufgeboten, Hunderte von ihnen mussten in den vergangenen Wochen in Quarantäne.»
Die Lehrer stünden zwischen den verschiedenen Meinungen, die es zu den Massnahmen gebe. Einerseits müssten sie die Vorgaben des Bundes durchsetzen, andererseits gebe es zum Teil heftige Kritik der Eltern, welche die Massnahmen entweder als zu lasch oder als zu streng wahrnehmen.
An manchen Schulen hätten solche Fragen zur Spaltung innerhalb der Lehrerschaft geführt: «Etwa, wenn man sich bei der Impffrage überhaupt nicht einig war», so die BZ.