Horst D. Deckert

Kritiker unerwünscht: Chilenischer Journalist wurde von Selenski-Regime verschleppt

Der chilenisch-amerikanische Journalist Gonzalo Lira, der mit seiner Familie seit Jahren in Charkow in der Nordostukraine lebt, schwang sich in den vergangenen Wochen zu einer wichtigen kritischen Stimme auf. Auf seinem YouTube-Kanal “Coach Red Pill”, wo er früher vor allem Lebenstipps an junge Männer gab, klärte er über seine authentischen Empfindungen auf. Dabei scheute er auch nicht davor, Grausamkeiten vonseiten des Selenski-Regimes aufzuzeigen. Nachdem es eine Woche lang kein Lebenszeichen von ihm gab, kommt nun das große Aufatmen: Lira lebt zumindest.

Wegen kritischer Berichte vom Geheimdienst festgenommen

Seit letztem Freitag herrschte Funkstille, der vormals auf Telegram, Twitter und YouTube höchst aktive Lira hatte eine Woche lang keinerlei Statement abgegeben. Nun stellt sich der Grund dafür heraus: Just an jenem Tag holte ihn der ukrainische Geheimdienst SBU ab und nahm ihm seine elektronischen Geräte ab. Nun tauchte er am Kanal seines Kollegen Alex Christoforou in einem kurzen Video auf. Körperlich gehe es ihm den Umständen entsprechend gut, aber die Erfahrungen der letzten Tage hätten einiges an psychischem Tribut gefordert.

Er könne derzeit nicht auf Details eingehen, arbeitet aber daran. Vorerst dürfe er Charkow nicht verlassen. Die Behörden dürften einen massiven Druck auf seine Person ausgeübt haben. Zuvor hatte sich breite Betroffenheit über sein Verschwinden breitgemacht – zahlreiche kritische Bürger kontaktierten die chilenische Botschaft in ihren jeweiligen Ländern, sodass diese sich einschalten möge. Zwar ließ der ukrainische Präsident bereits vor einigen Wochen die Medien im Land gleichschalten und diverse Oppositionsparteien verbieten, das Vorgehen gegen ausländische Journalisten ist nach bisherigem Kenntnisstand allerdings ein Novum.

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Dunkle Vorahnung, dass er Probleme kriegen könnte

Dass die Sorge über seinen Verbleib so groß war, liegt auch an einem Tweet Liras vor einigen Wochen. Darin schrieb er: “Ihr wollt die Wahrheit über das Selenski-Regime wissen? Googelt diese Namen: Wolodymyr Struk, Denis Kireew, Michael und Alexander Kononowitsch, Nestor Schufritsch, Jan Taksjur, Dmitry Dschangirow, Elena Bereschnaja. Wenn ihr einmal mehr als 12 Stunden nichts von mir hört, schreibt meinen Namen auf diese Liste.” Auch bei seiner ersten Botschaft nach der Freilassung aus den Fängen des ukrainischen Geheimdiensts erinnerte an die wichtige Aufklärung ihrer Schicksale.

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Bei Kireew handelt es sich um einen erschossenen Unterverhandler, bei Struk um einen ermordeten Ex-Bürgermeister – in beiden Fällen warf ihnen die Ukraine eine Kollaboration mit Russland vor. Die Kononowitsch-Brüder wurden vor etwa anderthalb Monaten aus politischen Motiven verhaftet, ebenso der Oppositions-Politiker und Ex-Minister Schufritsch, der 2014 als Friedensverhandler zum Einsatz kam und Selenski im Vorjahr für seine Medienzensur kritisierte. Von ihnen fehlt seit deren Festnahme jede Spur – wie auch von den Journalisten Taksjur und Schangirow sowie von der Menschenrechts-Aktivistin Bereschnaja.

Über die Tötungen von Struk und Kireew berichtete Wochenblick hier:

Britischer Medienmacher sorgte sich um Lira

Dass es sich dennoch um keinen freiwilligen Rückzug aus der Debatte handelte, war spätestens am Wochenende offensichtlich, als er nicht wie eigentlich vereinbart als Gast in der Talkshow des britischen Ex-Politikers und Journalisten George Galloway auftrat und für diesen nicht erreichbar war. Galloway erzählte, dass auch andere Kontaktpersonen ihn nicht erreichen konnten und warnte: “Er könnte sich in großer Gefahr befinden.” Er unterstrich dabei die Wichtigkeit solcher authentischer kritischer Reporter vor Ort – unabhängig davon, wie objektiv korrekt deren Einschätzung der Lage sein möge. Man müsse schließlich immer beide Seiten anhören – auch in einem Konflikt.

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US-Journalistin jubilierte über Lira-Festnahme

Bald darauf ging die Gerüchteküche los, manche fürchteten sogar, dass Lira tot sein könnte – was sich nun glücklicherweise nicht bestätigte. Kritische Beobachter hielten dieser Möglichkeit entgegen, dass sich entsprechende Verbände mit einer solchen Tat womöglich gebrüstet hätten. Denn, dass man keine Freude mit der Berichterstattung Liras hatte, ist keine Neuigkeit – diese zeichnete sich durch einen hohen Grad an Neutralität aus, der beide Seiten nicht schonte. Dennoch bezeichnete ihn ein US-Medium kürzlich fälschlicherweise als “pro-Putin-Lockvogel”.

Manche Kommentatoren sahen darin den möglichen Auslöser für die Festnahme Liras. Für Aufregung sorgte auch die unfassbare Aussage einer US-Journalistin, die selbst aktuell aus der Ukraine berichtete, Sarah Ashton-Cirillo. Die als Mann geborene Journalistin schrieb: “Es wird berichtet, dass der chilenische Russen-Spion in Charkow gefangen genommen wurde. Er ist ein russischer Saboteur, der sich als “Journalist” tarnt, um die Ukraine zu zerstören. Ich gratuliere den ukrainischen Sicherheitsbehörden.” Der Wunsch, dass einem Kollegen etwas in der Krisenregion zustößt, lässt tief blicken.

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Es war nicht die einzige Entgleisung Ashton-Cirillos, die sich nach dem Wiederauftauchen Liras plötzlich versöhnlich gibt und mit diesem “auf einen Kaffee gehen” will. Auch das ist eine Kehrtwende – nur Tage, nachdem sie ihm unterstellte, ein “Feind der Freiheit” zu sein und sich wünschte, sie werde diejenige Person gewesen, die ihn an die Sicherheitsbehörden verraten habe. Offen hoffte Ashton-Cirillo auch, dass einen weiteren Kollegen, nämlich den Journalisten Patrick Lancaster, der aus dem Donbass berichtet, dasselbe Schicksal ereilt.

Wirbel um angeblichen ukrainischen Mitwisser

Auch andere Behauptungen ließen nichts gutes erahnen. So stellte ein kryptischer Tweet eines ukrainischen Soldaten in den Raum, dass für ihre Kompromisslosigkeit bekannte nationalistische Verbände im Zusammenhang mit dem Verschwinden Liras stehen könnten. Der angebliche Verkünder der Botschaft über seine Kenntnis, wo sich Lira befinde, der gebürtige Russe Sergej “Botsman” Korotkich, der auf der Seite der Ukraine kämpft, behauptete allerdings am Folgetag, dass die Tweets eine Fälschung seien. Das betreffende “Botsman”-Konto ist mittlerweile auf Twitter nicht mehr abrufbar.

Screenshot: Twitter

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