In den deutschen Mainsteam Medien ließt man eher selten über das Alltagsgeschehen des politischen Frankreich. Zur Überbrückung dieser Fehlstelle muss man entweder Französisch beherrschen oder auf englische Medien ausweichen. Geradezu vorbildlich berichtet dabei der englische Spectator in hoher Regelmäßigkeit über das Wohl und Wehe der französischen Republik, was sich in den beiden unten übersetzten Artikeln zeigt.
Über die Gründe für dieses mediale Missverhältnis lässt sich nur spekulieren. Einer mag das bessere Urlaubswetter in der Provence zu sein verglichen mit Kent, so dass mehr englische Reporter in Frankreich einen Zweitwohnsitz haben als deutsche. Ein anderer könnte darin liegen, dass im politischen Frankreich vieles im Argen liegt, was überhaupt nicht in das Eipapopeia des deutschen Establishments passt.
Noch schlimmer ist nur, dass eine Frau verhältnismäßig gute Aussichten auf das Präsidentenamt hat, das in Frankreich bislang stets von Schwerenötern besetzt war. Das Mantra von wegen “Frauen an die Macht” wird zwar gerne ausgelebt im Forst des deutschen Medienmainstreams, jedoch nur dann, wenn sie auch die korrekte Gesinnung hat. Sonst wird wie im Fall der Le Pen*innen umgehend das Tuch des Schweigens über die Sache gelegt.
Nicht unwichtig für den Kontext der beiden Spectatorartikel (und den gewählten Titel oben) ist eine kürzliche Äußerung durch Präsident Macron, der im Zusammenhang mit der kommenden Präsidentschaftswahl 2022 nebulös von „schweren Entscheidungen“ sprach. Insofern geht es nicht nur um die Frage, welche blonden Damen aus der Le Pen Sippe in den Elysee Palast einziehen könnte, sondern auch, ob es bis dahin überhaupt noch einen Einzugstermin geben wird.
The Spectator: Könnte Macron gegen Le Pen verlieren?
In der jüngsten französischen Meinungsumfrage steht Marine Le Pen bei rund 26 Prozent und damit noch vor Präsident Emmanuel Macron mit 23 Prozent, wenn es um die Wahlabsichten der Franzosen für das Präsidentschaftsrennen 2022 geht. Zum Vergleich, in der ersten Wahlrunde von 2017 lag Macron bei 24 Prozent und Le Pen bei 21,3 Prozent. Natürlich gewann Macron die zweite Runde überzeugend mit 66,1 Prozent, weil sich das Gros der Wähler nicht dazu durchringen konnten, für Le Pens Rassemblement National zu stimmen. Die Frage ist, ändern sich mit dieser neuen Umfrage die Aussichten für die Wahlen in 16 Monaten?
Seit Macrons Sieg bei den Präsidentschaftswahlen haben die Umfragen immer wieder eine Stichwahl zwischen Macron und Le Pen gezeigt. Die französische Linke bleibt weiterhin scharf gespalten, keiner ihrer Kandidaten kommt auf mehr als zehn oder elf Prozent (am besten schneidet noch Jean-Luc Melenchon ab). Der traditionellen Rechte wiederum fehlt noch immer ein Konsenskandidat, bislang erreicht keiner der Aspiranten in den Umfragen mehr als 16 Prozent (derzeitiger Spitzenreiter ist Xavier Bertrand). Damit scheint eine Stichwahl zwischen den beiden Rivalen von 2017 sicher. Nur, kann Marine Le Pen überhaupt gewinnen?
Hürde Wahlsystem für die Nationalversammlung
Der 1972 gegründete Rassemblement National (RN; ehemals Front National) konnte sich nach dem Sieg bei den Europawahlen 2019 im französischen politischen Alltag als größte Partei institutionalisieren und ist mit 23 Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten. Doch genau hier liegt das Problem der Partei. Sie hat nur sechs Abgeordnete in der französischen Nationalversammlung, was dem französischen Mehrheitswahlrecht mit zwei Ausscheidungsrunden geschuldet ist, und weswegen zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang überparteiliche notwendig sind.
Der noch immer bestehende Pariastatus des RN bremst dessen parlamentarische Entwicklung, auch wenn Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen 2017 im Land auf fast elf Millionen Stimmen kam. Es überrascht nicht, dass die Partei daher das Verhältniswahlrecht favorisiert, da nur dadurch die Zahl der Wahlstimmen in eine äquivalente parlamentarische Vertretung transponiert werden kann. Als der sozialistische Präsident Francois Mitterrand in der Absicht einer Spaltung der französischen Rechte1986 bei Parlamentswahlen das Verhältniswahlrecht einführte – das erste und letzte Mal während der Fünften Republik – sprang die Zahl der Abgeordneten des damaligen Front National von null auf 35 bei zehn Prozent der Stimmen.
In seiner Wahlkampagne 2017 verpflichtete sich der typisch vorschnelle Macron, bei den Parlamentswahlen die Proportionalität zu stärken, was den der Parteien der Mitte eine stärkere Vertretungsmacht bescheren sollte. Eine Mehrheit der Franzosen und die meisten politischen Parteien befürworten durchaus eine gewisse Dosis an Proportionalität. Dass diese Neugestaltung des Wahlsystems in Frankreich zur Instabilität der Vierten Republik oder zu italienischen Verhältnissen führen könnte, wird zugunsten des Arguments zurückgewiesen, dass im gegenwärtigen System die Repräsentation von Teilen der französischen Bevölkerung verhindert wird, was zu Unzufriedenheit führt, die sich etwa im Aufkommen der Gelbwesten niederschlägt.
In dieser Woche jedoch äußerte Macron Zweifel an der Reform des Wahlsystems. Als Gründe führte er die Komplexität an, sowie dass damit Spannungen mit seinen zentristischen Parlamentspartnern einhergehen würden, die ebenfalls Opfer des Mehrheitswahlsystems sind. Die Wahrscheinlichkeit einer Umsetzung der Reform ist gering – und zwar bis zu den Parlamentswahlen im Juni 2022.
Der einzige Weg führt über die Präsidentschaftswahl
Der einzige Weg zum Sieg führt für den RN über die Präsidentschaftswahlen. Aber auch hier liegen Marine Le Pen Steine im Weg. Mit ihren Ambitionen ist sie an eine gläserne Decke gestoßen. Denn einmal muss sie für einen Sieg in der zweiten Runde die moralischen Zweifel bei Wählern außerhalb ihrer Kernwählerschaft überwinden, von denen viele dem RN ihre Stimme noch immer aus Prinzip verweigern.
Obwohl Meinungsumfragen darauf hindeuten, dass diese moralisch begründeten Zweifel aufweichen, sagt selbst ihre Nichte Marion Marechal (Le Pen), dass ihre Tante 2022 nicht gewinnen wird. Des weiteren schnitt Marine Le Pens beim letzten Mal in der Fernsehdebatte vor der zweiten Runde katastrophal gegen Macron ab – was sie einräumt – ein Erlebnis, das sich in den Köpfen der Wähler und selbst innerhalb der Partei festgesetzt hat und Zweifel an ihrer Kompetenz aufkommen lassen.
Toxisch oder nicht?
Marine Le Pen hat 2011 die innerparteiliche Macht von ihrem Vater übernommen, und es steht außer Frage, das sie die Partei seitdem deutlich entschärft hat. Die entgiftete (und umbenannte) Politmarke Le Pen wurde dadurch deutlich genießbarer für eine breitere Wählerschaft als noch unter ihrem Vater. Allerdings liegt dadurch ein weiteres Problem beim Personal des RN begraben.
Die hochrangigen Parteikader des RN unterscheiden sich in ihren Fähigkeiten größtenteils kaum von jenen anderer Parteien. Kampagnen jedoch, ob politisch oder militärisch, können nicht alleine von den Offizieren gewonnen werden. Acuh die mittleren Ränge – die Unteroffiziere – sind essenziell für den Erfolg, was umso mehr gilt, wenn es um die Bildung einer stabilen Regierung geht.
Genau in diesem Bereich fehlt es dem Mittelbau des RN an Erfahrung. Die Partei regiert nur in sehr wenigen Rathäusern, von denen seit 2020 die bedeutendste Perpignan mit 120.000 Einwohnern ist. Noch einmal erheblich kritischer am Mittelbau des RN ist dessen überwiegende ideologische Einstellung, die der giftigen Marke des alten Le Pen näher steht als der runderneuerten von Marine Le Pen. Viele gehen auch davon aus, dass die Marke Le Pen an sich toxisch ist, und werden daher eher von der jungen, intelligenten und traditionalistischen Katholikin Marion Marechal (die den Namen Le Pen fallen ließ) angezogen. Sie wird Sicherheit mehr Wähler im Lager der klassisch Konservativen anziehen. Im Moment zögert Marion Marechal allerdings noch, gegen ihre Tante anzutreten.
Plan B: Katzen und Marion
Französische Medien spekulierten im November über Marine Le Pens Antrag auf eine Berufslizenz für die Zucht von Hauskatzen, dass sie sich damit auf ein Leben nach der Niederlage im Jahr 2022 vorbereiten könnte. Bereits 2015 hatte sie ihre Bereitschaft erklärt, ihr politisches Leben irgendwann aufzugeben, um sich danach mit der Katzenzucht zu beschäftigen. Sie weiß nur zu gut, dass die gläserne Decke für sie bestehen bleiben wird und das unabhängig davon, wie optimistisch die Umfragen für 2022 für sie auch aussehen mögen.
Sollte die Anziehungskraft der Katzen vor 2022 absehbar größer werden als Le Pens eigene gegenüber den Wählern, dann könnte Marion Marechal übernehmen und den RN final in den Elysee Palast einziehen lassen.
The Spectator: Warum Macron einen dritten Lockdown vermeiden will
Eine der wenigen mir verbliebenen Lieblingsbeschäftigungen in diesen tristen Tagen ist die Lektüre von Leserkommentaren am Fuß von Artikeln über die Coronakrise in französischen Zeitungen. Man kommt sich dabei vor wie im Ring eines heftigen Boxkampfs. In der blauen Ecke stehen die Millennials, in der roten Ecke die Soixante-Huitards, wie Babyboomergeneration der Alt-68er in Frankreich bezeichnet werden. Beide Generationen wollen einfach nicht nachlassen beim Austeilen von Schlägen.
Alt gegen Jung
Die Millennials haben die Nase voll von ihrem sterilen Dasein, das im Oktober begann, als Bars, Restaurants, Kinos und Theater geschlossen wurden. „Liberte!“ schreien sie. In den Statistiken können sie klar ablesen, dass die überwältigende Mehrheit der 76.000 Covid-Toten in Frankreich 65 Jahre oder älter ist; nur 0,5 Prozent stammen aus der Altersgruppe der 15- bis 44-Jährigen.
Letzte Woche stand bei Twitter der Hashtag #JeNeMeConfineraiPas (Ich lasse mich nicht einsperren) ganz oben. Gleichzeitig ging ein in Les Echos veröffentlichter Kommentar des jungen Philosophen Gaspard Koenig viral, der die emotionalen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Einschränkungen beklagte. Viele Millennials verlangen, dass künftige Alltagsbeschränkungen nur für Alten und Schwache gelten sollten.
Die 68er sind im Allgemeinen mit ihrem Los zufrieden. Zwar vermissen sie vielleicht die eine oder andere soziale Veranstaltung, aber sie glauben, dass die Abriegelungsmaßnahmen gerechtfertigt sind. Gleichzeitig halten die meisten von ihnen die Vorstellung für unerträglich, dass nur sie eingesperrt werden sollen, während die Jungen und Gesunden wieder ein normales Leben führen dürfen. „Fraternite!“ schreien sie. Kürzlich lehnte der 71-jährige Senatspräsident Gerard Larcher die Idee einer altersbedingten Sperre ab, da sie laut ihm spaltend wirken würde.
Larcher zur Seite sprang letzte Woche der medienaffine und 70 Jahre alte Medizinprofessor Jean-Paul Stahl, der im Fernsehen das verunglimpfte, was er für das Gejammere „verwöhnter Kinder“ hält, nachdem ihnen für ein paar Monate die Freiheit genommen wurde. „Denken Sie an die Jugendlichen in Syrien“, fügte er hinzu.
Viele Millennials nehmen den 68ern übel, dass sie ihr ganzes Leben damit verbracht haben, an niemanden außer sich selbst zu denken. Auf den Vorwurf der verwöhnten Gören durch Stahl reagierten sie mit dem geflügelten Wort des „C’est L’hôpital qui se moque de la charité“, zu deutsch: „Der Topf, der den Kessel schwarz nennt“.
Wählerklientelorientierte Coronapolitik
Letzten März habe ich in meiner Kolumne angedeutet, dass die Strategie des im Streit zwischen 68ern und Millennials zwischen den Stühlen sitzenden Macron vermutlich darin besteht, die Jugend der Nation zu „opfern“, um sich bei den Wahlen im nächsten Jahr die Unterstützung der Älteren zu sichern. Die 68er sind seine eifrigsten Unterstützer. Bei der Stichwahl mit Marine Le Pen im Jahr 2017 stimmten 78 Prozent der über 70-Jährigen für Macron, während die Chefin des Front National das beste Ergebnis bei den 25-49-Jährigen erzielte. Genau diese Altersgruppe ist es auch, die aktuell am meisten leiden muss angesichts des Negativwachstums der französischen Wirtschaft im Jahr 2020, als sie um 8,3 Prozent schrumpfte, was der tiefsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg entspricht.
Zu Beginn der letzten Woche behaupteten viele französische Medien, Macron stehe aus Angst vor einer sich ausbreitenden neuen Mutation des Coronavirus kurz vor einer dritten Abriegelung des Landes. Das kam am Ende nicht. Anstattdessen forderte er die Nation dazu auf, die bestehenden Beschränkungen zu respektieren, die eine landesweite Ausgangssperre ab 18 Uhr und das Tragen von Masken drinnen und draußen beinhalten.
Umfassende Unruhen befürchtet
Womöglich haben Macron die Unruhen in Holland letzte Woche und die Warnung seines ehemaligen Innenministers Christophe Castaner vor tiefgreifenderen Maßnahmen zurückschrecken lassen, und er befürchten musste, dass eine dritte allgemeine Ausgangssperre zu weitreichendem zivilen Ungehorsam führen könnte. Dabei ist die Rebellion gegen die Beschränkungen bereits in vollem Gange: Am 28. und 29. Januar führte die Polizei vierundzwanzig Razzien in Pariser Restaurants durch, nachdem diese heimlich ihre Tore geöffnet hatten. Auch in Nizza hat letzte Woche ein Restaurant wieder aufgemacht. Es wurde bald wieder geschlossen, doch davor machte es einen regen Umsatz mit sympathisierenden Gästen.
Der Druck auf Macron wächst und man merkt es ihm an. Am Freitag konnte jeder seinen unbeherrschten Ausbruch beobachten, als er sich über die mangelnde Wirksamkeit des Impfstoffs von AstraZeneca für die über 65-Jährigen ausließ.
Die Gretchenfrage: Alt oder jung?
Während seiner gesamten Präsidentschaft hat Macron Vergleiche zwischen sich und Charles de Gaulle gezogen. Eine Ähnlichkeit zu ihm will er allerdings vermeiden und das ist das schmachvolle Ende der politischen Karriere des letzteren.
Nachdem De Gaulle bei den Protesten von 1968 einen irreparablen Schaden an seiner Autorität erlitt, da hinkte zwar noch ein Jahr weiter, trat schließlich aber als Präsident zurück. Heute sucht jene Generation, die sich gegen de Gaulle auflehnte Schutz bei Macron, während ihre Enkel ihre Freiheit wieder haben wollen. In diesem Monat noch steht für ihn die Entscheidung an, ob er die 68er mit einem dritten Lockdown retten will, oder ob er der Jugend ihre Freiheit zurückzugeben soll.
Quelle Titelbild