Die EU-Kommission will zur Unterstützung der Ukraine mehr Munition produzieren lassen. Dazu hat die oberste EU-Behörde unter Leitung von Ursula von der Leyen einen Gesetzesvorschlag vorgelegt, laut dem 500 Millionen Euro aus dem EU-Budget, genauer gesagt aus dem schuldenfinanzierten Corona-Aufbaufonds sowie dem Kohäsionsfonds für besonders arme EU-Regionen, abgezweigt werden sollen. Doch damit beugt die EU-Kommission wissentlich EU-Recht. Denn die europäischen Verträge schließen die Verwendung von EU-Mitteln für Rüstungsgüter explizit aus. Bisher kritisieren in Deutschland weder Politik noch Medien diesen offenen Rechtsbruch der EU-Kommission. Von Florian Warweg
Jüngst erklärte EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton, dass die Rüstungsindustrie der EU-Länder umgehend in den „Modus der Kriegswirtschaft“ umschalten und die Kapazitäten so schnell wie möglich hochfahren müsse. Zur Unterstützung dieser Maßnahme stellte die EU-Kommission einen neuen Gesetzesentwurf vor, der die „Investition“ von EU-Mitteln in den europäischen Rüstungssektor zur „Herstellung von relevanten Verteidigungsgütern“ ermöglichen soll. Die „Verteidigungsgüter“ sind im konkreten Fall vor allem Munition für schwere Artillerie und Raketen. Als proklamiertes Ziel soll die EU dann in der Lage sein, mindestens eine Million Artilleriegranaten pro Jahr herstellen zu können, so Breton. Zum Vergleich: 2022 produzierten Rüstungsfabriken in der EU jährlich rund 250.000 Stück.
Das dieser Gesetzesvorschlag allerdings einen eklatanten Bruch mit EU-Recht darstellt, ist bisher im Bereich der Mainstream-Medien nur der britischen Financial Times aufgefallen.
„Die vorgeschlagene Umschichtung von Mitteln aus dem gemeinsamen EU-Haushalt wäre jedoch eine umstrittene Maßnahme. Der EU-Verfassungsvertrag verbietet “Ausgaben, die sich aus Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen ergeben”.
Als einziges deutschsprachiges Medium hat bisher der auf EU-Fragen spezialisierte Blog Lost in Europe das Thema unter dem Titel „Brüssel und Kiew umgehen die Regeln – und das Recht“ aufgegriffen.
Konkret geht es um Artikel 41 (2) des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEU-Vertrag) im Kapitel „Besondere Bestimmungen über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“.
Insgesamt sollen, wenn es nach den Plänen der EU-Kommission geht, für die Ausweitung der Rüstungsproduktion zur Versorgung der Ukraine mit Munition für schwere Waffen eine Milliarde Euro mobilisiert werden: 500 Millionen Euro direkt aus dem EU-Budget und weitere 500 Millionen als Ko-Finanzierung von den 27 Mitgliedstaaten. Das Ganze ist bisher angedacht für eine Laufzeit von zwei Jahren bis Mitte 2025.
Die Initiatoren des Vorschlags der EU-Kommission, der noch von den Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament gebilligt werden muss, behaupten, dass dieser sich innerhalb der Grenzen des Vertrags bewegt. Doch selbst wenn der Gesetzesentwurf diese Grenzen ein wenig überschreite, so zitiert die Financial Times eine Quelle aus der Kommission „ist der Krieg in der Ukraine eine noch nie dagewesene Krise, die noch nie dagewesene Reaktionen erfordert“.
Dass der Entwurf geltendes EU-Recht bricht, das wissen die Verantwortlichen folglich sehr wohl. Wieso sonst hätten sie sich sonst auch folgendes Konstrukt ausgedacht. Die Argumentation der EU-Kommission zur Rechtfertigung des Vorgehens, bei der sie sich vermutlich auch noch clever vorkommt, lautet: Man ermöglicht es Mitgliedstaaten, Gelder aus dem EU-Kohäsionsfonds, der eigentlich zur finanziellen Unterstützung armer EU-Regionen gedacht ist sowie aus dem sogenannten Corona-Aufbaufonds der EU (zur Bewältigung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise), umzuwidmen und in den Ausbau der Rüstungsproduktion zu stecken. Dabei handelt es sich zwar zweifelsfrei um Gelder aus dem EU-Haushalt, aber – so die zurechtgebogene Begründung der Kommission – da die konkrete Umwidmung dieser EU-Gelder dann eine Entscheidung der jeweils nationalen Regierungen und nicht der EU sei, würde Artikel 41 (2) des EU-Vertrages nicht greifen.
Auf eine Presseanfrage, wie der aktuelle Gesetzesentwurf mit den geltenden EU-Verträgen vereinbar sei, wollten die Verantwortlichen in Brüssel laut Financial Times, zunächst nicht antworten. Etwas später gab es dann aber doch eine Stellungnahme des Sprechers der EU-Kommission. Im besten Brüsseler Bürokratensprech erklärte dieser entsprechende Bedenken für haltlos, denn:
„Die finanzierten Maßnahmen sind mit der Förderung der Produktionskapazitäten der einschlägigen Verteidigungsindustrie verbunden und nicht mit der physischen Produktion bestimmter Mengen von Verteidigungsgütern.”
Bei so einer Antwort bleiben keine Fragen mehr offen.
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