Von Péter Gágyor (Oberungarn, die heutige Slowakei)
Ein Haus wird aus festen Stoffen gebaut, eine Heimat aus Gefühlen. Kann man sich mit den Grundlagen unserer Gefühlswelt sachlich auseinandersetzen? Ich meine, das kann man nicht.
Schon in der Dämmerung des irdischen Lebens wird durch die Geburt eines Kindes in dessen sich entwickelnder Seele ein eigenartiger Strauß von Erlebnissen zusammengetragen, die zunächst hauptsächlich im Unterbewusstsein abgespeichert werden. Neue Erlebnisse schließen sich dabei den noch im Fötusstadium erfahrenen Stimmungen, Ängsten und Geräuschen an.
Bei meiner Geburt nahm der Krieg nicht wie durch Zauberhand ein Ende. Schließlich waren kulturelle Entstellungen und entartetes menschliches Benehmen für die vierziger, fünfziger Jahre charakteristisch – leider sogar für die Jahre danach. Die auf den Krieg folgende Generation erbte die Ängste ihrer allzeit zur Flucht bereiten Mütter und deren zerstörerische, frustrierende Effekte. In den Tagen nach dem Kriegsende mussten sich die Menschen die Frage stellen, wie dieser neue Zeitabschnitt zu bewerten war. Als Befreiung oder als Besetzung – welches war die passende Einordnung für diese gewichtigen Zeiten: für die verworrenen Zeiten der Zwangsarbeit, der vergewaltigten Frauen, des Schicksals, abermals zu den Kriegsverlierern zu gehören, als kollektiv Schuldige gebrandmarkt, die Zeit der Trauer über den Holocaust, des wiederholten Trianon, der Lager, der als Kriegsgefangene verschleppten Verwandten und Bekannten und des Bevölkerungsaustausches.
Die nicht zu verdrängende Erfahrung des Volkes, ewige Verlierer zu sein, und dessen blutige Folgen haben in dieser Hinsicht die außerhalb der Grenzen dieses erneut verstümmelten Landes lebenden Ungarn vielleicht noch härter getroffen als die innerhalb der Landesgrenzen gebliebenen.
Was ist die Heimat? Was bedeutet der Begriff innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen? Welche Erlebnisse sind mit diesem emotionsgeladenen, ein Gefühl der Sicherheit versprechenden Begriff in der erwachenden Seele des Kindes, dann des Jugendlichen und schließlich des Erwachsenen verknüpft?
Was ist die Heimat, wenn über ihre Landschaften fremde Heere streunen, wenn die neuen Machthaber deine Sprache verbieten, deine Schulen und Staatsangehörigkeit abschaffen
– wie es aufgrund der Beneš-Dekrete in der neu zusammengeflickten zweiten tschechoslowakischen Republik geschah, auf dem vom früheren Faschisten Tiso – Hitlers liebster Musterstaat-Kreatur – geführten Gebiet der Slowakei, wo man dich schon als Säugling als Kriegsverbrecher betrachtet? Man zeichnete uns aufgrund der Nationalität als kollektiv Schuldige aus.
Dass sich in die Gedanken über Heimat beziehungsweise Heimatlosigkeit Emotionen mischen, ist tatsächlich unvermeidbar.
Wer in Oberungarn (Oberland, Felvidék, ehemals die nördliche Region des Königreichs Ungarn, heute Slowakei) ein heimatloser Ungar ist, der galt als Außenstehender in jedweder Gemeinschaft und als zu Vertreibender, oder wenn er feige war, wurde er “rechtmäßig” zur Ablegung und Verleugnung seiner Muttersprache und Kultur gezwungen. Die schweren Folgen dieser Vorgehensweise sind auch heute noch an der rapiden Assimilation der dortigen Ungarn zu messen. Wer im Zuge des “Bevölkerungsaustauschs” nach Ungarn umgesiedelt wurde, der fand seine gestohlene Heimat in einer fremden Landschaft und in einem fremden Haus auch nicht wieder. Einige packten ihre Habseligkeiten jahrelang nicht aus, quälten sich aber in den ihnen zugewiesenen Häusern von vertriebenen Schwaben (also deutschsprachigen Ungarn, die im Grunde ihre Schicksalsgenossen waren) mit den wiederkehrenden Gespenstern des geerbten Leids.
Immerhin hörte auf internationales Drängen hin das schändliche “Social Engineering” nach zwei Jahren auf. Der utopische Versuch der Kreation eines Nationalstaates brachte viele Verluste und Tote mit sich (in Viehwaggons erfrorene Säuglinge, Selbstmorde, in der Donau Ertrunkene). In das “entdeutschte” Sudetenland auf tschechischem Terrain kehrten auch viele zur Zwangsarbeit verschleppte Ungarn heim.
Das schlechte gesellschaftliche Klima blieb jedoch bestehen, denn die die Mehrheit bildenden Slowaken hatten sich vom ungarn- und deutschenfeindlichen Regierungsprogramm anstecken, teilweise sogar regelrecht betören lassen. Die Ungarn lernten das Fürchten, denn die Beneš-Dekrete gehören bis heute zur Rechtsordnung der Slowakei, auch wenn sie derzeit nicht angewendet werden.
Diese Furcht war auch berechtigt: Nach dem Februarumsturz 1948 wurde die volksdemokratische Tschechoslowakei vom Kommunisten Klement Gottwald geführt, der die “internationalistische” Verheißung der Entungarisierung mit Beneš gemeinsam verkündet hatte. Auf der Steinmauer unseres städtischen Krankenhauses war noch bis zum Ende der 50er Jahre seine Wahl-Parole zu lesen: “Wählt die Nummer 3 und es wird hier keine Ungarn mehr geben!”
Für die Unruhen der oberungarischen Gebiete gibt es zwar keine eindeutigen historischen Gründe, aber mythologische Scheingründe. Diese haben sich in das gesellschaftliche Halbwissen eingebrannt, selbst in die Grundlagen des Schullehrstoffs. Im Grunde genommen begannen diese Geschichtsverfälschungen mit dem vom russischen Zaren initiierten Panslawismus. Nach dessen Muster bildeten sich Utopien von der Erschaffung neuer, “rein nationaler Heimatländer”. Parolenartige Ideologien von der Rückgewinnung der “Urheimat”.
Martin Eggers Werk “Das Großmährische Reich, Realität oder Fiktion?” erschien 1995. Bei slawischen, besonders bei tschechischen und slowakischen Historikern, löste es mit Sicherheit keine Begeisterung aus. Denn es belegt, dass das “Reich” in Wahrheit bloße Fiktion ist.
Das Großmährische Reich und die Kontinuität der Slowakei sind nämlich doch nur falsche Mythologien des Karpatenbeckens, so wie auch die dako-romanische Theorie. Auch im kollektiven Gedankengut der Ungarn sind ähnliche Mythen entstanden, doch diese wurden immerhin nicht auf eine akademische Ebene erhoben, sie wurden schon bei ihrer Entstehung zur Zielscheibe der Ironie.
Ist die Wissenschaft kontaminiert? Jeder Dialog kann zu einem psychopathischen Austausch von fixen Ideen entarten. Dadurch können die “Gewinner” die Assimilation von mehr als einhunderttausend Ungarn als Erfolg erachten. Diese Bestrebungen können als krankhafte Symptome von besonders grotesken kleinen nationalistischen Sehnsüchten angesehen werden. Insbesondere angesichts der negativen Statistiken des aktuellen Bevölkerungszuwachses in Europa und der Daten der immer stärkeren Zuwanderung von außerhalb Europas.
Was Europas größere, staatsbildende und sich somit in einer besseren Lage befindenden Nationen mit Minderheiten anstellen, ist wahrhaftig eine absurde Komödie, die sich zu Ungunsten der ursprünglichen Bevölkerung abspielt. Die zerstörerische Tätigkeit von sich hinter dilettantischer Wissenschaftlichkeit versteckenden NGOs und aggressiven “scheinzivilen” Organisationen gegenüber der traditionellen Zivilisation. Dem Schicksal können auch sie nicht entgehen. Fruchtlose (sich nicht vermehrende) Nationen gelangen früher oder später hierhin. Ein Heilmittel gegen die Verbreitung von Gewalt gegen Nationalitäten wäre vielleicht der ursprüngliche Liberalismus. Das wäre seine Aufgabe. In einer Überdosis ist der neue Neoliberalismus allerdings schädlich wie ein überdosiertes Medikament, seine Nebenwirkungen töten alles ab.
Wir sind wieder weniger geworden in Oberungarn. Nach der letzten Volkszählung (2011) betrug der Verlust 60000 Ungarn in zehn Jahren. Ein weiterer Dominostein in dem Prozess, der mit Trianon angefangen hat.
Ein bezeichnendes Beispiel der bevölkerungspolitischen Gewalt: “In Preßburg gab es eine knappe deutsche Mehrheit, eine beachtliche ungarische Bevölkerung und eine kleinere slowakische. Aus slowakischer Perspektive war es einer der größten “Erfolge” der auf Trianon folgenden Jahrzehnte, dass sich die ethnischen Verhältnisse in dieser Stadt dermaßen stark veränderten.” (György Farkas) So wurde Pozsony (Preßburg), wo der Anteil der slowakischen Bevölkerung etwa 14% betrug, der Anteil der deutschen 39% und der Anteil der ungarischen 37%, dennoch zu Bratislava, zur slowakischen Hauptstadt.
Pozsony (Preßburg, Bratislava) war die Hauptstadt des Königreichs Ungarn von 1536 bis 1848). Kupferstich von Matthäus Merian, 1638 · Bildquelle: Ungarisches Nationalmuseum
Der Verlust wird natürlich nur immer größer, wobei auch das schwindende Bevölkerungswachstum eine Rolle spielt, was wir mit einem unnatürlichen Begriff als “natürlichen Rückgang” verbuchen möchten. Darin liegt die ironische Färbung der wissenschaftlichen Fachsprache.
In jedem Fall ist die Erosion der ungarischen Bevölkerung in Oberungarn furchterregend und tragisch. Von der Wende bis 2011 ist die Zahl der Ungarn laut den Daten der Volkszählung um 110 000 geschrumpft, auf weniger als eine halbe Million.
Was haben wir für Aussichten? Die Bevölkerungsentwicklung in ganz Europa zeigt allgemein eine sinkende Tendenz. Für uns ist ein vielfaches dieser Tendenz Realität. Seit (und wegen) Trianon gibt es keine echte oder retuschierte Statistik, die das Schreckensbild verdrängen könnte, dass dies über systametische Unterdrückung das Ergebnis einer gewissen Assimilationspolitik ist.
Die wechselhafte Ausübung von Assimilationszwang in der Gesellschaft und der Politik (manchmal verstärkt durch Polizeiterror), die “verdummte” Kommunikation der europäischen (Nachbar-)Völker, ist weiterhin unaufhaltsam. Der aus der Perspektive der sogenannten Mehrheitsvölker als erfolgreich erachtete Prozess erschafft in allen Nachfolgestaaten neue Geschichten, neue Vergangenheiten. In Österreich ist dieser Vorgang in Hinblick auf die einheimische ungarische Bevölkerung bereits fast vollständig abgeschlossen. Die in Kroatien und Slowenien verbliebenen Ungarn könnten sich fast schon den Luxus positiver Diskriminierung erlauben, über die Gründung folkloristischer Reservate, als touristisch interessante Besonderheit.
Die Vojvodina, Siebenbürgen, Transkarpatien und Oberungarn werden in langsamen Qualen aufgezehrt. Der Zustand des Volksempfindens ist von Ort zu Ort unterschiedlich, abhängig von den örtlichen Zwangsmaßnahmen, politischen Manipulationen, Mengenverhältnissen der Nationalitäten und der Strategie der wechselnden Mehrheitsmächte. “Die Namensforschung in Oberungarn lässt darauf schließen, dass als Ergebnis der Assimilation eine noch zerstreutere, wahllosere Gesellschafts- und Nationalitätenstruktur entstanden ist als im Falle von Siebenbürgen. Neben den geschichtlichen Hintergründen ist ein weiterer Grund hierfür die “Enthauptung” (Vertreibung, Umsiedlung) der ungarischen Intelligenz nach 1945. Wenn wir in die Tiefe gehen, erscheint der slowakische Chauvinismus zwar nicht so augenscheinlich wie der rumänische, er war aber viel methodischer und wirkungsvoller.” (Mihály Hajdú)
Und siehe da, es entsteht eine heimatlose Heimat, beziehungsweise eine entheimatete Heimat. XY wird nach dem Krieg geboren. Als Ungar in einer mehrheitlich ungarischen Kleinstadt jenseits der Grenze. Seine Familie erhält den weißen Zettel, den Aussiedlungsbescheid. Der Vollzug zieht sich “zum Glück” hin. Seine Großmutter nimmt ihn in eine Bergbaustadt mit, damit ihm weniger Leid zuteil wird. In der Bergbaustadt gibt es dünn gesät noch ein paar andere ungarische Familien, doch auf der Straße wird bereits Slowakisch gesprochen. XY findet keine Heimat, er bleibt fremd und bekommt dies auch zu spüren. Die internationale Politik macht der Aussiedlung ein Ende, die Ungarn erhalten ihre Staatsbürgerrechte zurück. Sie dürfen bleiben. XY kehrt in seine Stadt zurück. Durch den langen Urlaub spricht er seine Muttersprache etwas fehlerhaft. Von der heimischen Jugend wird er auch hier schief angeschaut. Eigentlich ist er zuhause, aber trotzdem fremd.
Er besucht eine ungarischsprachige Schule, doch das Wertesystem des Internationalismus lässt ihn seine Zweitrangigkeit spüren. Seine Sprache wird auf den häuslichen Gebrauch beschränkt.
Nach dem Abitur verschlägt es ihn nach Bratislava, in einem Studentenclub ist er vorsichtig politisch aktiv und gerät ins Blickfeld der Staatssicherheit. Er wird Journalist auf seiner Muttersprache, wird also ein Teil der verdächtigen ungarischen Intelligenz. Später verliert er wegen einer als antisowjetisch erachteten Theaterproduktion seine tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und wird zum Ungarn außerhalb der Grenzen des Mutterlandes. (Und diese Situation ist nur scheinbar absurd. Dezső Győry, der in den 20er bis 30er Jahren in seiner Gesellschaft in Oberungarn als zweiter Ady gehandelt wurde und ab 1949 in Budapest lebte und an Bedeutung verlor, ist trotz seiner literarischen Errungenschaften verschwunden.) Von der politischen Polizei in Ungarn wird er mit Rekrutierungsabsichten ausgefragt, und da er widersteht, muss er immer mehr Retorsionen ertragen. Er emigriert nach Deutschland. Bis er sich mittlere Sprachkenntnisse angeeignet hat, stellt sich die Frage nach der Heimatsuche gar nicht mehr. Nach anderthalb Jahrzehnten kehrt er zurück, doch in seiner ursprünglichen Heimat darf er mangels Staatsbürgerschaft keine Immobilien kaufen (die Union reicht noch nicht bis zur Slowakei). In Ungarn, ein paar hundert Meter von der Donau und dem dahinter liegenden “schönen bunten Zierband” entfernt (wie Dezső Győry Oberungarn nannte), darf er es. Seine ewige Heimatsuche endet in einem Ausgleich mit ein paar Minuten lang dauernden Überfahrten und Gespaltenheit.
Die zwiegespaltene Erfahrung.
Ungar außerhalb Ungarns. Außerhalb Ungarns und dennoch Ungar. Ungar und dennoch außerhalb des Landes. Wer soll das verstehen?
Bisher hat er vierzehn Bücher geschrieben. Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Gedichte, Gedichtübersetzungen. Er ist Mitglied der Ungarischen Schriftstellervereinigung… und keines seiner Bücher ist von einem ungarischen Verlag herausgegeben worden.
Der Autor, Péter Gágyor (1946-), ist Schrifsteller aus Oberungarn
Dieser Beitrag erschien auf Ungarisch zuerst bei MANDINER und in deutscher Übersetzung von Sophia Matteikat bei UNGARNREAL, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.