Schon Goethe wusste: Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein. Dieses scheinbare Paradoxon machen sich auch diejenigen zunutze, die die Macht haben. Denn es bedeutet andersherum – ist nur dafür gesorgt, dass sich die Bürger frei fühlen , lassen sie sich umso besser am Nasenring durch die Manege ziehen. Man gebe ihnen also die Wahl zwischen 63 Jogurtsorten im Supermarkt und 47 Parteien zur Bundestagswahl, proklamiere unentwegt die Überlegenheit unserer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft gegenüber finsteren autoritären “Regimen”, unserer Medienvielfalt gegenüber einer staatlichen Einheitspresse, unserer Redefreiheit gegenüber der Unterdrückung in Russland und China, und schon stellt sich bei der Mehrheit der Menschen eine gewisse Selbstzufriedenheit ein: Die Regierung mag die Interessen der Wähler ignorieren, Deutschland mutwillig in eine Energiekrise stürzen und die Ukraine gegen Russland aufrüsten, “egal, was meine deutschen Wähler denken” (Annalena Baerbock) – es bleibt immer noch die Gewissheit: Wir leben im bestmöglichen System und dürfen die Mächtigen kritisieren. Dürfen wir, ja? Caitlin Johnstone hat diesen Glaubenssatz einmal unter die Lupe genommen. Übersetzung: Susanne Hofmann.
Niemand ist hoffnungsloser versklavt als jene, die fälschlicherweise glauben, frei zu sein. Niemand ist hoffnungsloser ignorant als jene, die fälschlicherweise annehmen, informiert zu sein. Niemand ist ein hoffnungsloseres Opfer von Propaganda als jene, die nicht wissen, dass sie massiver Propaganda ausgesetzt sind. In einer liberalen westlichen Demokratie zu leben bedeutet, die Freiheit zu haben, die Tyrannei der eigenen Regierung zu kritisieren, aber stattdessen fortwährend die Tyrannei ausländischer Regierungen zu kritisieren, welche die eigene Regierung nicht mag.
Redefreiheit in einer liberalen westlichen Demokratie bedeutet, die Freiheit zu haben, alles, was man will, über den Machmissbrauch der eigenen Regierung zu sagen, während die Presse die Freiheit hat, einen derart mit Propaganda zu bombardieren, dass man gar nicht auf die Idee kommt.
In einer liberalen westlichen Demokratie steht es einem frei, die Regierung zu kritisieren. Man wird aber mittels Dauerpropaganda dazu gebracht, die machtlosen Marionetten zu kritisieren, die munter ins Amt und aus dem Amt wechseln, während die Regierung weiterhin die bösen Dinge tut, ganz egal, wer nun gewählt wird.
In freien westlichen Demokratien steht es einem frei, den Präsidenten zu beschimpfen, aber es steht einem nicht frei zu erfahren, wer im Land hinter der offiziellen Regierung wirklich das Sagen hat.
In liberalen westlichen Demokratien sagen die Leute: „Ich bin so froh, dass ich nicht in einem Land wie Russland und China lebe, wo die Menschen ihre Regierung nicht kritisieren dürfen. Ich lebe im Westen, wo ich nach Herzenslust Russland und China kritisieren darf.“
Es spielt keine Rolle, ob man Redefreiheit hat, wenn die Mächtigen das kontrollieren, was man sagen will. Und genau das passiert in westlichen Demokratien.
Wir wachsen im Westen gesättigt mit US-imperialer Propaganda auf. Wir werden darin mariniert. Sie durchdringt unser Bewusstsein. Da wir aber nur diese Propaganda kennen, fällt das den meisten von uns gar nicht auf.
Wir halten es für normal, dass man uns immer sagt, dass unsere Regierung in jedem internationalen Konflikt auf der guten und richtigen Seite steht. Wir halten es für normal, dass wir ständig von der Tyrannei ausländischer Regierungen hören und nur gelegentlich von den schlimmen Dingen, die unsere eigene Regierung vor Jahren einmal getan hat – aber das war ja ein harmloser Fehler und wird nie wieder vorkommen.
„Würden wir mit Propaganda traktiert, hätten wir das sicher in den Nachrichten gehört“, sagen wir uns.
Aber die Nachrichten sind die Propaganda. Und wir werden darin nie über diesen Skandal erfahren.
Propaganda ist der am meisten übersehene und unterschätzte Aspekt unserer Gesellschaft. Sie kontrolliert, wie die Öffentlichkeit denkt, handelt, wählt und sich verhält, doch kaum jemand spricht je darüber. Das liegt daran, dass die Informationsquellen, auf die zu schauen man uns beigebracht hat, darüber kein Wort verlieren.
Die Leute sagen also, was sie denken – wohlgemerkt, nachdem das, was sie denken, von den Narrativmanagern des Imperiums – die dafür verantwortlich sind, welche Information die Leute aufnehmen – sorgsam kuratiert wurde.
Und die Menschen sind völlig frei in dem, was sie reden. Gut – wenn das, was sie sagen, den Interessen des westlichen Imperiums widerspricht, werden sie auf keiner großen Plattformen reden dürfen, von wo aus sie die Mainstream-Herde mit Gedankenverbrechen infizieren könnten. Und, klar – wenn das, was sie sagen wirklich lästig ist, können sie von den großen Online-Plattformen ganz verbannt werden – aber reden dürfen sie weiterhin. Irgendwo alleine, wo sie niemand hören kann. Vorzugsweise in ein Loch im Erdboden.
Und alle anderen bekommen die Mainstream-Plörre eingetrichtert. Die autorisierten Narrative werden in den traditionellen Medien und mittels der Algorithmen von Silicon Valley verstärkt. Die autorisierten Narrative wohlgemerkt, welche die Vergehen der eigenen Regierung im In- und Ausland verschleiern und zugleich die Vergehen der Regierungen übertreiben, die das Imperium im Visier hat.
Darum erwidern manche Leute auf meine Kritik am Imperium: „Aber immerhin dürfen wir unsere Regierung kritisieren!”
Und darum antworte ich darauf mit: „Einverstanden. Aber Sie tun es nicht.”
Gäbe es keine Redefreiheit, würden die Menschen merken, dass sie unterdrückt werden. Doch fingen die Menschen damit an, ihren Groll über jene auszudrücken, die tatsächlich die Macht haben, würden sie schnell merken, dass sie ignoriert werden und dass die Macht tut, was ihr beliebt. Störende Redebeiträge werden durch Propaganda, Algorithmus-Manipulation und mediale Marginalisierung abgewürgt.
Menschen werden hoffnungslos versklavt, indem man ihnen die Illusion vermittelt, sie seien frei, und jede Stimme, die diese Illusion in Frage stellt, wird mit allen erforderlichen Mitteln zum Schweigen gebracht.
Das bedeutet Redefreiheit in einer liberalen westlichen Demokratie. Man kann sagen, was man will – solange es das ist, was sie mögen.
Titelbild: Jorm S/shuttestock.com