Horst D. Deckert

Reflexionen über den Ukraine-Konflikt

Der Ukraine-Krieg entspricht nicht der Norm. Zu dieser Feststellung kommt Dr. James Alexander in einem Essay, den das Medienportal The Daily Sceptic veröffentlicht hat.

Der Krieg in der Ukraine ist ein seltsamer Krieg, weil er altmodisch ist. Es handelt sich um die klassische europäische Form des Krieges: wegen eines umstrittenen Gebiets kollidiert ein souveräner Staat mit einem anderen souveränen Staat. Dabei ist das Gebaren im Vergleich zu den durch Napoleon, Bismarck und Hitler provozierten Eskalationen eher als angepasst zu bezeichnen. Denn hier lässt sich ein europäischer souveräner Staat vollkommen mit seinen Gegnern ein. Die hochentwickelte Militärtechnologie versetzt einen der Staaten in die Lage, blitzkriegartig anzugreifen, um eine Art «Regimewechsel» herbeizuführen. Auf der Gegenseite wird indes ein zermürbender Krieg gegen die gesamte Zivilbevölkerung geführt.

Ich bezeichne diesen im Jahr 2022 geführten Krieg als altmodisch, weil wir im Westen seit 1945 nur koloniale oder postkoloniale Kriege oder Pseudokriege geführt haben. Zu nennen seien hier etwa die Kriege in Korea, Suez, in Vietnam, auf den Falklandinseln, im Irak, Afghanistan und in Libyen. Dabei handelte es sich um extrem weit entfernte Einsätze, bei denen keine Gefahr für die europäische oder amerikanische Zivilbevölkerung bestand. (Selbst der Zweite Weltkrieg war für die Amerikaner im Grossen und Ganzen ein solcher Krieg.) Diese Kriege waren nicht immer beliebt und nicht immer erfolgreich – man denke nur an Suez und Vietnam oder zuletzt an Afghanistan – , aber sie waren kolonial, zumindest, was die westlichen Staaten betrifft. Das heisst, sie waren ungebunden, und für uns waren sie rein militärisch.

Aber auch solche kolonialen oder postkolonialen Kriege werden von unseren Eliten als überholt angesehen. Die westlichen Bildungseliten bevorzugen die jüngste Forme des Krieges: den Krieg gegen die Kohlenstoffemissionen, Covid-19 oder den Kulturkrieg. In jedem Fall hat die Menschheit eine gewisse Verantwortung für den Feind, den wir bekämpfen. Aber der Feind besteht eben nicht aus einer Menschenmasse.

Der Feind – manchmal handelt es sich um einen realen Feind, manchmal um ein Schicksal – ist eine Veränderung unseres irdischen Zustands oder ein Virus und eine Krankheit oder ein Vorurteil und eine Voreingenommenheit. Das ist die Art von Krieg, die wir Modernen gerne führen: mit Windrädern, Masken und Seminaren über institutionellen Rassismus. Und wir kämpfen so lange, bis wir den Feind vernichten. Das erklärt, dass die Ziffer «Null» ständig überall auftaucht. Wir wollen den Feind auslöschen und trösten uns damit, dass dieser Feind nicht menschlich und diese Art von Krieg gerechtfertigt ist.

Nennen wir die drei Kriegsarten, die ich anfangs beschrieben habe: erstens den imperialen Krieg, zweitens den kolonialen Krieg und drittens den metaphorischen Krieg. Der imperiale Krieg ist direkt und zielt auf eine Ausdehnung der Macht über das Land. Der koloniale Krieg wird indirekt und aus der Ferne geführt. Er muss niemals Zivilisten betreffen. Der metaphorische Krieg bringt den Krieg wieder nach Hause, da der Krieg jetzt in unserem Namen von Staaten geführt wird und diese manchmal ihre eigenen Bürger als eine Art Kollateralschaden für das grössere Wohl opfern. Dies wurde bei Covid-19 so deutlich, dass es selbst die Unbedarftesten erkennen konnten.

Was ist eine skeptische Haltung gegenüber dem gegenwärtigen Krieg?

Als Skeptiker und jemand, der es gewohnt ist, Politik im Zusammenhang mit Rechtsstaatlichkeit zu denken, mag ich den Krieg nicht. Als Jugendlicher ging ich davon aus, die ganze Welt sei korrupt und ungerecht. Deshalb erwartete ich nicht, dass je Frieden herrschen würde. In Cambridge meinten wir, durch Tausende von Qualifikationen die Dynamik der Kriege vollkommen zu begreifen. Wir orientierten uns an dem Whigg´schen Grundsatz, der besagt, dass der moderne Staat den Krieg eliminiert hat. Ich nahm an, dass wir in einer kriegsfreien Zeit leben. Das Ende des Krieges ist ein Mythos, aber man könnte sagen, dass er nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs, «dem Krieg, der alle Kriege beendet», zu einem notwendigen Mythos wurde.

Historiker des 20. Jahrhunderts behaupten im allgemeinen, dass der Friedensvertrag von Versailles und der Völkerbund Mängel aufweisen. Sie waren nicht in der Lage, die Kriege ein für allemal zu beenden. Darüber lässt sich natürlich streiten. Zweifellos wurde das Modell nach dem Zweiten Weltkrieg perfektioniert. Das beweisen solche Vereinbarungen wie das Bretton Woods-Abkommen, der Marshall-Plan, die Nürnberger Prozesse, Abkommen im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg und Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.

Die Eliten im Vereinigten Königreich waren entsetzt über das Votum für den Austritt aus der Europäischen Union, denn nach 1945 galt die EU als Garant für den Frieden. Das Votum war daher für die Brexit-Gegner unbewusst eine Zustimmung zum Krieg. Ein Votum für den Verbleib in der Union war offensichtlich ein Votum für den Frieden. (Aber Achtung: «Frieden» bedeutete hier «Frieden in Europa».)

Carl Schmitt hat einmal behauptet, dass jeder Staat definiert, wer sein Feind ist. Staaten und Könige brauchen Feinde. Man denke an das Konzept des «Erbfeindes». Denken Sie an die Haltung Schottlands gegenüber England. Denken Sie an Englands Haltung gegenüber Frankreich. Die Pointe des modernen europäischen Lebens besteht darin, dass seit 1945 vorausgesetzt wird, der Feind sei nicht «einer von uns», das heisst, nicht europäisch, nicht christlich, nicht westlich und nicht irgendjemand, den man dazu überreden kann, eine Krawatte zu tragen, auf internationalen Konferenzen die Hand zu schütteln und die Sprache des internationalen Monopolkapitalismus zu sprechen. Das ist auch der Grund, warum der gegenwärtige Krieg eine Überraschung ist.

Der moderne Feind muss ein kleiner Diktator sein

Der moderne Feind, wenn er ein Mensch ist, muss ein kleiner Diktator oder ein mittelalterlicher Theokrat sein: zum Beispiel Saddam Hussein, Osama Bin Laden oder Oberst Gaddafi. Heutzutage widerstrebt es uns natürlich sogar, solche Feinde zu hängen, zu erschiessen oder ihrer Verstümmelung beizuwohnen. Wir mögen es, wenn unsere Feinde inhuman sind, aber wir lieben es umso mehr, wenn sie von unserer Vorstellung des Menschseins abweichen.

Ich bezweifle nicht, dass die Befürworter der Corona-Massnahmen froh waren, einen Krieg zu haben, der eindeutig keiner dieser blutigen, festgefahrenen, mit Leichen übersäten Kriege war. Beim Gedanken daran tauchen vor unserem geistigen Auge Kriegsszenen der Filme «All quiet on the Western Front», «Apocalypse Now», von der Schlacht an der Somme oder dem Bombenangriff auf Dresden auf. Beim Krieg gegen Covid-19 musste niemand ein schlechtes Gewissen haben. Jeder Tod war ein Kollateralschaden: Er war gerechtfertigt, weil wir den Tod bekämpften.

Der Krieg in der Ukraine ist für uns seltsam, weil er so altmodisch ist. Er lässt sich auf Landkarten abbilden, wie die alten Raubzüge von Alexander, Hannibal, Cäsar, Attila, Timur, Marlborough, Napoleon und Hitler. Die alten Landimperien wie etwa Russland versuchten, sich nach aussen hin auszudehnen: nicht durch Handel, Fabriken, Bestechung, Sklaverei und Intervention, sondern durch einfache Ausdehnung der Grenzen mit Hilfe von Gewalt.

Ich vermute, dass Russland bei den angrenzenden Länder immer noch kaiserlich denkt. England dagegen denkt bei Ländern in Übersee noch immer kolonial. Selbst als wir Briten noch gute Imperialisten waren, empfanden wir eine gewisse Verachtung gegenüber dem römisch-osmanisch-russischen Landimperium. Ihm fehlte die Raffinesse unseres Imperialismus der Banken und Anleihen, der Versicherungen und Investitionen, der Plantagen- und des Protestantismus.

Wenn wir schon vor hundert oder mehr Jahren Verachtung für Landimperien empfunden haben, dann ist es sicher, dass wir heute einfach nicht verstehen können, warum jemand einen anderen wegen eines angrenzenden Landes bekämpfen sollte. Das erscheint uns im höchsten Masse atavistisch. Und ausserdem sollte so etwas in Europa nicht passieren. Warum hat Putin nicht die Berichte der Ältesten von Europa gelesen? Darin heisst es deutlich, dass europäische Staaten nur weit entfernt von ihren eigenen Grenzen und ganz sicher weit entfernt von Europa gewalttätig werden.

Putin führt einen antiken Krieg

Die Russen stellen uns zumindest dem Anschein nach vor das folgende Dilemma: Welche Alternative bietet sich, wenn wir die moderne Art des Krieges (gegen Kohlenstoff, das Coronavirus und die etablierte Kultur) ablehnen? Besteht dann die einzige Alternative darin, zu der antiken Form des Krieges zurückzukehren, bei dem der Mensch seine Mitmenschen gewaltsam tötet?

Putin führt einen antiken Krieg in einer mörderischen Art und Weise. Wir mögen diesen Krieg nicht, weil der Tod zu einfach ist: zu bewusst, fast vulgär. Aber wir Skeptiker haben die Pflicht, die Enthusiasten, sogar die Enthusiasten für den Frieden in der Ukraine, daran zu erinnern, dass der Krieg, den sie lieber führen würden, der metaphorische Krieg, genauso mörderisch ist. Sicherlich ist er anzüglicher, dauerhafter und teuflischer als alles, was in der Ukraine vor sich geht. Das liegt daran, dass jeder weiss, dass das, was in der Ukraine passiert, ein Krieg ist.

Mir hingegen scheint, dass der grösste Teil der Weltbevölkerung sich irgendwie geweigert hat, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der grösste Teil der Pandemiepolitik Teil eines Krieges war. Die Herrschenden führten diesen Krieg gegen die Beherrschten. Unsere Konzepte und Erwartungen wurden durch Metaphorik und Umwege verdreht. Das war Teil des Krieges. Nach aussen hin war die Welt während der Pandemie friedlich. Damit ist es nun nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine leider vorbei. Meiner Meinung nach befand sich die Welt von 2020 bis 2022 im Krieg, wobei zu bemerken ist, dass es sich um eine völlig neue Art von Krieg handelt.

Misstrauen gegenüber China und Russland

Die Ereignisse im Jahr 2020 haben dazu geführt, dass wir Abneigung gegenüber China empfinden. Nun lassen die aktuellen Geschehnisse Russland in einem negativen Licht erscheinen. Wir wurden zwar nicht ins 20. Jahrhundert zurückgeworfen, aber mit Sicherheit ist es jetzt weniger wahrscheinlich, dass wir chinesischer Technologie oder russischen Ressourcen trauen. Im letzteren Fall könnte dies der Beginn eines Weges zurück zum gesunden Menschenverstand sein, der uns dazu bringen würde, unabhängige Energiequellen zu suchen und daher die absurde Null-Kohlenstoff-Politik aufzugeben. Diese hatte ziemlich klare Konsequenzen für unsere Sicherheit und damit für unsere Zivilisation. Die britischen Politiker sind nicht dumm und scheinen diese Notwendigkeit sehr schnell erkannt zu haben.

Wenn wir einen Weg finden, von den metaphorischen Kriegen gegen die «unheilige Dreifaltigkeit» von Kohlenstoff, Covid-19 und Kultur wegzukommen, dann wäre das ein grosser Erfolg. Aber ich frage mich, ob wir das schaffen: ob wir die menschliche Gewohnheit des Krieges ausrotten können. Wir geben ja vor, den tatsächlichen Krieg zu hassen. Wenn wir den Krieg nicht ausmerzen können, dann sind wir dazu verdammt, metaphorische Kriege zu führen, solange unsere Zivilisation überleben kann.

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Dr. James Alexander wurde 1972 in Middlesborough (England) geboren. Seit 2004 doziert er als Assistenzprofessor an der Fakultät für Politikwissenschaft an der türkischen Bilkent-Universität. Regelmässig schreibt er als Gastautor für das Medienportal The Daily Sceptic.

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