Jedes Jahr schlagen die Staats- und Regierungschefs der Industrieländer auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP) neue energiepolitische Maßnahmen zur Verringerung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe vor, die sie von allen Ländern übernommen sehen wollen.
Das einzige Problem: Die Entwicklungsländer sind überwiegend von fossilen Brennstoffen abhängig und können den Übergang zu anderen Energiequiellen nicht vollziehen, ohne Kompromisse beim Wirtschaftswachstum und der Armutsbekämpfung einzugehen.
Die Entwicklungsländer sind heute frustrierter denn je, da sie von den Industrieländern nicht nur zur Reduzierung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe gezwungen werden, sondern diese sich auch als Heuchler erweisen.
Reiche Industrieländer wenden sich der Kohle zu
Den Industrieländern in Europa fällt es zunehmend schwer, ihre Abhängigkeit von der Kohle zu verringern. Dies hat viele Entwicklungsländer verärgert, und auf der bevorstehenden UN-Klimakonferenz COP26 in Glasgow wird es einige lebhafte Diskussionen zwischen den Nationen geben.
Deutschland, das in den Medien als Vorreiter in Sachen Klima bekannt ist, hat alle mit einer erneuten Abhängigkeit von der Kohle überrascht. Daten zur Stromerzeugung zeigen, dass „in der ersten Hälfte des Jahres 2021 die Kohle als größter Stromerzeuger im deutschen Stromnetz aufstieg, während die Windenergie auf den niedrigsten Stand seit 2018 fiel.“ Außerdem steht Deutschland ein historischer Anstieg der Treibhausgas-Emissionen bevor, der stärkste seit 1990.
[Hervorhebungen vom Übersetzer]
In Großbritannien zwang eine plötzliche Windstille an einem heißen Wochenende im August das Land, seine Kohlekraftwerke laufen zu lassen. Der massive Stromausfall diente als Warnung für das Land, das stark auf Windkraft setzt.
Entwicklungsländer durchschauen die Fassade
Die Entwicklungsländer, insbesondere die großen Länder wie Indien und China mit mehr als zwei Milliarden Menschen, beginnen, ihren Unmut über die Haltung des Westens zu äußern.
Außerdem sind sie ratlos, warum der versprochene Klimafonds – ein Finanzpaket, das die westlichen Länder den Entwicklungsländern im Rahmen des Pariser Klimaabkommens zugesagt hatten – nicht zustande gekommen ist. Tatsächlich gab es bisher keine Garantie für die Bereitstellung dieses gigantischen Fonds in Höhe von 100 Milliarden Dollar pro Jahr.
Die fehlende Zusage, Klimafonds bereitzustellen, und die fortgesetzte Nutzung fossiler Brennstoffe selbst in den entwickelten Volkswirtschaften des Westens haben die Entwicklungsländer dazu gebracht, die Fassade des Klimadramas zu durchschauen und die Heuchelei der westlichen Länder zu erkennen.
Eine Sache von Leben und Tod
Für viele Entwicklungsländer ist das Problem der Nichteinhaltung ihrer eigenen Klimapredigten durch den Westen mehr als nur eine politische Frage. Fossile Brennstoffe, insbesondere Kohle, sind die wichtigste Energiequelle in den Entwicklungsländern.
In China stammen 85 % der gesamten Primärenergie aus Öl, Kohle und Erdgas, während nur 8,2 % aus Wind- und Sonnenenergie stammen. Der Energiesektor dient als Motor für das Wirtschaftswachstum, der es diesen Ländern ermöglicht, ihr BIP-Wachstum zu steigern und den Menschen zu helfen, sich aus der Armut zu befreien.
In Indien leben schätzungsweise 360 Millionen Menschen in Armut, und viele haben keinen Zugang zu Strom. Bei denjenigen, die Zugang haben, ist die Versorgung unregelmäßig. Ich selbst lebe in einem entwickelten Teil des Landes, und selbst ich habe täglich mit Stromausfällen zu kämpfen.
Mehr als 70 % der gesamten Elektrizität in Indien und China – für 2,6 Milliarden Menschen – wird aus Kohle gewonnen. Selbst geringfügige Unterbrechungen der Kohleversorgung beeinträchtigen die Stromversorgung von Millionen von Menschen in diesen Ländern.
Die Menschen im Westen sollten sich über die Vorliebe der Entwicklungsländer für Kohle nicht wundern. Es war die Kohle, die dem Westen im 19. und 20. Jahrhundert zum Erfolg verhalf und ihn schließlich zu einer entwickelten Wirtschaft werden ließ.
Von den Entwicklungsländern etwas anderes zu erwarten, wäre unmoralisch, vor allem, wenn es keine alternativen Energietechnologien gibt, die ihre schnell expandierenden Industrien und Städte versorgen könnten.
Kohle bietet zuverlässige und erschwingliche Elektrizität, und sie ist im Überfluss vorhanden. Außerdem haben die Entwicklungsländer heute den Vorteil, dass sie über effizientere Kohlekraftwerke verfügen – im Vergleich zu den stark verschmutzenden Kohlekraftwerken des 20. Jahrhunderts – die die Schadstoffe erheblich reduzieren und so die Luft sauber halten. Indien beispielsweise hat für alle Kohlekraftwerke des Landes den Einbau von Filtern (bis 2022) vorgeschrieben, die den Ausstoß schädlicher Stoffe verhindern sollen.
Angesichts des dringenden Bedarfs an höherer Stabilität bei der Stromerzeugung und der anhaltenden Kohlesucht in den westlichen Industrieländern werden die Entwicklungsländer ihre eigenen Verpflichtungen zur Emissionssenkung möglicherweise nicht einhalten.
Es macht keinen Sinn, den Kohleverbrauch in Ländern zu senken, in denen die Menschen am meisten darauf angewiesen sind, während die reichen Länder ihren Kohleverbrauch weiter steigern. Den Klimawandel als Rechtfertigung dafür heranzuziehen, den Kohleverbrauch in armen Ländern zu reduzieren, während man ihn in reichen Ländern zulässt, ist moralisch falsch.
Unabhängig davon, wie man zum Klimawandel steht, kann man arme Länder nicht dazu zwingen, auf ihren rechtmäßigen Zugang zu Energiesicherheit und Wirtschaftswachstum zu verzichten.
Autor: Vijay Raj Jayaraj (M.Sc., Environmental Science, University of East Anglia, England), is an Environmental Researcher based in New Delhi, India. He served as a Graduate Research Assistant at the University of British Columbia, Canada and has worked in the fields of Conservation, Climate change and Energy.“
Übersetzt von Christian Freuer für das EIKE