Einfältige Medienpropaganda – wie die Behauptung, Russlands Putin sei geistesgestört – ist genau das, was uns in die Krise um die Ukraine geführt hat
Wie praktisch für die westliche Führung, dass sich die westlichen Medien jedes Mal, wenn sich ein anderes Land der westlichen Machtprojektion widersetzt, in einem Punkt einig sind: dass die betreffende ausländische Regierung von einem Verrückten, einem Psychopathen oder einem Größenwahnsinnigen geführt wird.
Im Handumdrehen werden die westlichen Staatsoberhäupter von der Schuld oder gar der Verantwortung für die schrecklichen Ereignisse freigesprochen, die sich ereignen. Der Westen bleibt tugendhaft, einfach ein Opfer der Verrückten dieser Welt. Nichts, was der Westen getan hat, war eine Provokation. Nichts, was er hätte tun können, hätte die Katastrophe abgewendet.
Die USA mögen der bei weitem mächtigste Staat auf dem Planeten sein, aber ihre Hände sind offenbar immer durch einen geistesgestörten, unerbittlichen Feind wie Russlands Wladimir Putin gebunden.
Putin, so sagt man uns, verfolge mit der Invasion seines Nachbarn, der Ukraine, keine rationalen – aus seiner Sicht – geopolitischen oder strategischen Interessen. Und so konnte oder sollte man ihm keine Zugeständnisse machen, denn keine hätten ihn an seinem Handeln gehindert.
Der Westen, d. h. die außenpolitischen Falken in Washington, entscheiden, wann die Zeitlinie der Ereignisse beginnt, wann die Erbsünde begangen wurde. Die willfährigen westlichen Medien geben ihren Segen, und unsere Hände sind wieder einmal reingewaschen.
Der Subtext – immer der Subtext – ist, dass etwas getan werden muss, um den „Verrückten“ zu stoppen. Und weil er irrational und größenwahnsinnig ist, dürfen solche Maßnahmen niemals in Form von Zugeständnissen oder Kompromissen formuliert werden – das wäre schließlich Beschwichtigungspolitik. Wenn jeder Feind ein neuer Hitler ist, wird kein westlicher Führer einen Vergleich mit Neville Chamberlain riskieren.
Was stattdessen dringend notwendig ist, darin sind sich westliche Politiker und Medien einig, ist die Projektion – ob offen oder verdeckt – von noch mehr westlicher Macht und Gewalt.
Totale Katastrophe
Die Invasion der USA und Großbritanniens im Irak vor fast zwei Jahrzehnten ist ein besonders passender und aufschlussreicher Kontrapunkt zu den Ereignissen in der Ukraine.
Damals wie heute sah sich der Westen angeblich mit einem gefährlichen, irrationalen Herrscher konfrontiert, der nicht zur Vernunft gebracht werden konnte und nicht zu Kompromissen bereit war. Saddam Hussein, so betonten die westlichen Staats- und Regierungschefs und ihre Medien, hatte sich mit seinen Erzfeinden von al-Qaida verbündet, den Tätern des Anschlags auf die Zwillingstürme vom 11. September 2001. Er besitze Massenvernichtungswaffen und könne sie in 45 Minuten auf Europa abfeuern.
Aber nichts davon war wahr – nicht einmal das mit dem Verrückten. Saddam war ein harter, kalter, berechnender Diktator, der sich, wie die meisten Diktatoren, durch eine Schreckensherrschaft über seine Gegner an der Macht hielt.
Nichtsdestotrotz verbreiteten die westlichen Medien getreulich das Geflecht beweisfreier Behauptungen – und offensichtlicher Lügen wie das absurde Bündnis mit Al-Qaida -, das in Washington und London ausgeheckt wurde, um die illegale Invasion des Irak 2003 einzuleiten.
Die Inspektoren der Vereinten Nationen konnten keine Spur von Lagerbeständen des ehemaligen biologischen und chemischen Waffenarsenals des Irak finden. Einer der Inspektoren, Scott Ritter, blieb ungehört, als er warnte, dass alles, was Saddam besaß, sich nach vielen Jahren der Sanktionen und Inspektionen in „harmlosen Glibber“ verwandelt hätte.
Sky News bewundert eine Werkstatt zur Herstellung von Molotowcocktails in der Ukraine. Erst vor 4 Tagen tötete die israelische Besatzung den 13-jährigen Palästinenser Mohammad Rezq Salah, weil er angeblich einen dieser Cocktails geworfen hatte. Seine Ermordung wurde von Sky News nicht gemeldet. pic.twitter.com/3EWnLlm0Hk – Lowkey (@Lowkey0nline) February 26, 2022
Die unwahrscheinliche 45-Minuten-Behauptung basierte jedoch nicht auf irgendwelchen Informationen. Sie wurde direkt aus den Spekulationen eines Studenten in einer Dissertation übernommen. Die Invasion des Irak durch die USA und Großbritannien war natürlich nicht nur illegal. Sie hatte auch entsetzliche Folgen. Sie führte zum wahrscheinlichen Tod von etwa einer Million Irakern und brachte eine erschreckende neue Art von nihilistischem Islamismus hervor, der einen Großteil der Region destabilisierte.
Diese Interessen wurden natürlich weitgehend verborgen, weil sie so schändlich waren und in eklatanter Weise gegen die so genannte „auf Regeln basierende Ordnung“ verstießen, die Washington zu wahren vorgibt. Doch obwohl die von den USA angeführte Invasion im Irak eine Katastrophe ohnegleichen war, war sie nicht „irrationaler“ als Putins derzeitige Invasion in der Ukraine. Die Neokonservativen in Washington vertraten das, was sie als geopolitische Interessen der USA und eine strategische Vision für den Nahen Osten ansahen.
Die Neokonservativen wollten unter anderem das irakische Öl kontrollieren, regionale Widerstände gegen die eigene Hegemonie und die ihres Klienten Israel im Nahen Osten ausschalten und die Region als Wirtschaftsmarkt für US-Waren und Waffen ausbauen.
Saddam tappte in die ihm gestellte Falle, weil er gleichermaßen von seinem eigenen, eng definierten „rationalen“ Eigeninteresse motiviert war. Er weigerte sich zuzugeben, dass er nach den westlichen Sanktionen und Inspektionen keine nennenswerten Waffensysteme mehr besaß, weil er es nicht wagte, schwach zu erscheinen, weder gegenüber seiner eigenen Bevölkerung noch gegenüber feindlichen Nachbarn wie dem Iran.
Die Weigerung der westlichen Medien, die wahren Beweggründe der beiden Seiten – der Neokonservativen in Washington und Saddams im Irak – zu berücksichtigen, machte die Invasion von 2003 und das darauf folgende Leid umso unvermeidlicher.
Einflusssphären
Die gleiche Vorliebe für das einfältige Narrativ des „Verrückten“ hat uns erneut in eine internationale Krise gestürzt. Und wieder einmal hat sie dazu gedient, eine Untersuchung der wahren Hintergründe und Gründe für die Geschehnisse in der Ukraine und in ganz Osteuropa zu vermeiden.
Putins Handlungen – obwohl sie potenziell nicht weniger katastrophal sind als die von den USA angeführte Invasion im Irak und sicherlich ebenso illegal – beruhen ebenfalls auf seiner eigenen „rationalen“ Einschätzung der russischen geopolitischen Interessen.
Doch im Gegensatz zu Washingtons Gründen für den Einmarsch in den Irak wurden Putins Gründe für die Bedrohung und den jetzigen Einmarsch in die Ukraine nicht verheimlicht. Er hat diese Gründe jahrelang ziemlich offen und konsequent dargelegt, auch wenn westliche Staats- und Regierungschefs seine Reden ignoriert haben und westliche Medien nur selten mehr als seine eierlegenden Wollmilchsau-Soundbites zitiert haben.
Russland hat realistische Einwände gegen das Verhalten und die Unredlichkeit der USA und der NATO in den letzten drei Jahrzehnten. Wir sollten uns daran erinnern, dass die NATO in erster Linie eine Kreatur des Kalten Krieges ist, ein Vehikel für den Westen, um unter dem Deckmantel einer „Verteidigungs“-Organisation eine aggressive militärische Haltung gegenüber der ehemaligen Sowjetunion einzunehmen.
Doch nach der Auflösung der UdSSR im Jahr 1991 wurde das westliche Militärbündnis nicht aufgelöst. Das Gegenteil ist der Fall. Es wuchs auf fast alle ehemaligen osteuropäischen Staaten, die dem Sowjetblock angehört hatten, an und machte Russland zum neuen Feindbild. Die westlichen Militärbudgets stiegen von Jahr zu Jahr.
Russland erwartet eine so genannte „Einflusssphäre“, so wie die USA eine solche fordern. Stattdessen haben die USA als einzige Supermacht der Welt in den letzten 30 Jahren ihren Einflussbereich bis vor die Haustür Russlands ausgedehnt. Wie Washington verfügt auch Putin über ein Atomwaffenarsenal, um seine Forderungen zu untermauern. Es ist entweder heuchlerisch oder töricht, seinen Anspruch auf eine Einflusssphäre oder Russlands Fähigkeit, diese notfalls mit Gewalt durchzusetzen, zu ignorieren.
Auch dies ebnete den Weg für die jetzige Invasion.
Mentalität des Kalten Krieges
Doch Putin hat – aus seiner Sicht – andere Gründe zu handeln. Er will den USA auch zeigen, dass sie für die wiederholten gebrochenen Versprechen Washingtons in Bezug auf Sicherheitsvereinbarungen in Europa einen Preis zahlen müssen. Russland hat sein eigenes Militärbündnis, den Warschauer Pakt, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgelöst und damit sowohl seine Schwäche als auch seine Bereitschaft, die Beziehungen zu seinen Nachbarn neu zu ordnen, unter Beweis gestellt.
Die USA und die Europäische Union hatten die Chance, Russland in die Gemeinschaft aufzunehmen und es zu einem Partner für die Sicherheit Europas zu machen. Stattdessen hielt die Mentalität des Kalten Krieges in den westlichen Hauptstädten noch mehr an als in Moskau. Die westlichen Militärbürokratien, die Krieg oder zumindest die Androhung von Krieg brauchen, um ihre Arbeitsplätze und Budgets zu rechtfertigen, setzten sich dafür ein, Russland auf Distanz zu halten.
In der Zwischenzeit wurde Osteuropa zu einem großen und profitablen neuen Markt für die westlichen Waffenhersteller. Das ebnete auch den Weg zu dieser Krise.
Und schließlich hat Putin alle Anreize, die seit acht Jahren schwärende Wunde eines Bürgerkriegs zwischen antirussischen ukrainischen Nationalisten und ethnisch russischen Kämpfern aus der Donbass-Region im Osten der Ukraine entschlossener anzugehen. Schon vor der jetzigen Invasion gab es viele Tausend Tote.
Die ukrainischen Nationalisten wollen den Beitritt zur NATO, damit diese auf ihrer Seite in das Blutbad im Donbass hineingezogen wird, wodurch ein Krieg angeheizt wird, der außer Kontrolle geraten und zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland führen könnte. Putin will der NATO und den militanten Ukrainern zeigen, dass dies keine einfache Angelegenheit sein wird.
Die Invasion soll ein Schuss vor den Bug sein, um die NATO von ihrem Hochseilakt in der Ukraine abzuhalten.
Die westlichen Staats- und Regierungschefs wurden bereits 2008 von ihren eigenen Beamten gewarnt, wie ein durchgesickertes US-Diplomatenkabel zeigt: „Strategische Erwägungen liegen auch dem starken Widerstand gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens zugrunde. In der Ukraine wird u.a. befürchtet, dass die Frage das Land in zwei Hälften spalten könnte, was zu Gewalt oder sogar, wie manche behaupten, zu einem Bürgerkrieg führen könnte, was Russland zwingen würde, über ein Eingreifen zu entscheiden.“
Doch selbst jetzt lässt sich der Westen nicht entmutigen. Er verliert keine Zeit damit, noch mehr Waffen in die Ukraine zu liefern und das Feuer weiter anzuheizen.
Gefährliche Karikaturen
All dies bedeutet natürlich nicht, dass Putins Handeln tugendhaft oder gar klug ist. Aber für manche scheint sein Einmarsch in die Ukraine nicht irrationaler oder gefährlicher zu sein als die jahrzehntelangen Provokationen der NATO gegen ein atomar bewaffnetes Russland.
Und hier kommen wir zum Kern der Sache. Der Westen definiert allein, was „rational“ bedeutet – und auf dieser Grundlage können seine Feinde immer als geistesgestört und böse abgetan werden.
Die westliche Medienpropaganda dient nur dazu, diese Tendenzen bei der Vermenschlichung derjenigen, die in die Ereignisse verwickelt sind, zu verstärken oder nicht.
Wie die Arab and Middle Eastern Journalists Association am Wochenende feststellte, war ein Großteil der Berichterstattung unverhohlen rassistisch, wobei westliche Kommentatoren mit Sympathie feststellten, dass diejenigen, die vor der russischen Invasion in der Ukraine fliehen, im Gegensatz zu denen, die durch westliche Invasionen im Nahen Osten vertrieben wurden, „wie wir“ und „zivilisiert“ sind und nicht „wie Flüchtlinge aussehen“.
In ähnlicher Weise besteht ein krasser Gegensatz zwischen der feierlichen Berichterstattung über einen ukrainischen „Widerstand“, der improvisierte Bomben gegen die vorrückende russische Armee herstellt, und der routinemäßigen Bezeichnung der Palästinenser als „Terroristen“ durch die Medien, weil sie sich der jahrzehntelangen Besatzung durch Israel widersetzen.
Ebenso bedeutet die globale Dominanz der USA, dass sie den militärischen, politischen und diplomatischen Rahmen der internationalen Beziehungen diktieren. Andere Länder, einschließlich potenzieller Rivalen wie Russland und China, müssen sich innerhalb dieses Rahmens bewegen.
Das zwingt sie dazu, eher zu reagieren als zu agieren. Deshalb ist es so wichtig, dass die westlichen Medien umfassend und ehrlich über die Ereignisse berichten und nicht auf einfache Klischees zurückgreifen, die dazu dienen, ausländische Führer in Karikaturen und ihre Bevölkerungen in Helden oder Schurken zu verwandeln.
Wenn Putin ein Wahnsinniger ist, wie vor ihm Iraks Saddam, Libyens Muammar Gaddafi, Syriens Bashar al-Assad und Afghanistans Taliban-Führer, dann ist die einzige Lösung der Einsatz von Gewalt bis zum bitteren Ende.
In der globalen Machtpolitik bedeutet das potenziell einen dritten europäischen „Weltkrieg“, den Sturz der russischen Regierung und Putins Prozess in Den Haag oder seine Hinrichtung. Die Strategie der „Zwangsjacke“. Das ist genau das katastrophale Ziel, auf das die westlichen Führer, unterstützt von den Medien, die Region in den letzten drei Jahrzehnten zugesteuert haben.
Es gibt weit weniger gefährliche Wege, internationale Krisen zu lösen – aber nicht, solange wir mit dem Mythos des „verrückten“ Feindes hausieren gehen.