
Was haben wir das als Kinder gehasst: In der Stadt wollten wir ein Eis haben und wurden prompt auf die Kinder in Afrika hingewiesen, die nie ein Eis bekämen! Auch ohne die wirtschaftliche Gesamtsituation südlich des Mittelmeeres hinlänglich einschätzen zu können, merkten wir doch damals schon, dass an dem Argument irgend etwas faul war. Zum einen besaßen auch unsere Erziehungsberechtigten etliche Dinge, welche im Haushalt der durchschnittlichen Massai- oder Tutsi-Familie sicherlich nicht zu finden waren. Zum anderen können auch Kinder durchaus schon intuitiv erfassen, wenn sie mit einem Totschlag-Argument moralisch unter Druck gesetzt werden.
Jemandem beständig einzureden, wie gut er es doch hat, obwohl im Grunde alle Beteiligten wissen, wie wenig das zutrifft, ist eine klassische Double-Bind-Strategie. Gewiss, man wird immer jemanden finden, dem es schlechter geht als einem selbst, aber das löst die eigenen Probleme nicht. Niemand streitet ab, dass in anderen Ländern der Welt skrupellose Diktatoren herrschen – aber wenn deren Erwähnung nur zum Niederhalten der Kritik an der Situation in Deutschland dient, so drängt sich vehement der Verdacht auf, dass der Sprecher sich im Grunde selbst nicht sonderlich um die Entrechteten schert. Die Botschaft lautet: „Sei gefälligst zufrieden mit dem, was du hast. Ich könnte dir auch sagen, dass mich deine Wünsche einfach nicht interessieren, aber es macht mehr Eindruck, wenn ich mich als moralisch überlegen präsentieren kann.” Ziel ist es, das Gegenüber in eine moralisch unterlegene Position zu bugsieren, damit es nicht mehr wagt, eigene legitime Wünsche zu äußern, weil es sich dabei schlecht und egoistisch fühlt. Im Privaten ist das oft die Abwälzung des unguten Gefühls dabei, einfach einmal „Nein!“ zu sagen. Vielleicht weil einem die Gründe für das „Nein!“ peinlich sind – eine leere Haushaltskasse zum Beispiel; in dem Fall hat die Forderung in ein Wespennest gestochen – und wer gibt das schon gern zu? Dann lieber ein bisschen schwarze Pädagogik!
Das Risiko widerlegt zu werden
Diese und das Unter-Druck-Setzen mit einer vermeintlich überlegenen Moral haben die Linken im politischen und gesellschaftlichen Diskurs über Jahrzehnte hinweg kultiviert. Es reicht nicht aus, die eigenen Ansichten zur Diskussion in den Ring zu werfen, denn das Risiko, überstimmt und widerlegt zu werden, ist dann noch zu groß: Die Gegenseite könnte schließlich überzeugende Argumente vorbringen. Aber selbst wenn das nicht so ist – weil der andere einfach Gebrauch von seinem Recht macht, sich zu einer Sache zu äußern – muss jede Chance, er könnte Unterstützung bei anderen finden, von vornherein zunichte gemacht werden. Was eignet sich besser dazu, als ihn zum verwöhnten Egoisten abzustempeln oder einfach zu behaupten, das Leid anderer sei ihm egal? Aus dieser Falle kommt man – einmal in die Defensive gedrängt – so schnell nicht wieder hinaus. Dabei wird dann gern übersehen, dass es wieder einmal nur die eine Diskussionspartei war, welche von Anfang an festgelegt hat, wessen Leid einen zu kümmern hat und wer sich gefälligst zusammenreißen soll.
Es geht bei der Analyse solcher Taktiken nicht darum, den anderen ebenfalls kalt zu stellen: Eltern haben selbstverständlich das Recht, ihren Kindern einen Wunsch auch einmal abzuschlagen (schon, um sich keinen kleinen Haustyrannen heranzuziehen, der seinerseits alle Register zieht, um zu bekommen, was er will). Und wenn Linke sich für ihre Lieblingsthemen und -gruppen einsetzen wollen oder der Meinung sind, in Deutschland wäre die Demokratie vollkommen intakt (oder nur auf dem rechten Auge blind), ist das ihr Recht. Worum es vielmehr geht, ist, wieder Augenhöhe zwischen den Debattierenden herzustellen – vor allem aber auch zur Sachlichkeit der Diskussion zurückzukehren.
Wie bei der inquisitorischen Hexentaufe
Es ist nicht leicht, statt ständiger Selbstverteidigung – die eine Menge Energie kostet und meist ohnehin sinnlos ist – wieder das Heft in die eigene Hand zu nehmen. Keiner will schließlich eine egoistische Gesellschafts-Wildsau sein, an der die anklagenden Blicke der Öffentlichkeit kleben wie festgetretener Kaugummi. Denn wenn man einmal das Etikett „Rassist“ oder „Corona-Leugner“ weg hat, ist die Jagd eröffnet, in allem, was man jemals gesagt oder getan hat, Beweise dafür aufzuspüren. Auch das ist Teil von Double Bind: Die Zerschlagung des inneren Kompasses eines Menschen, die ständige Schuldgefühle bei selbst kleinsten Verstößen gegen den definierten Moralkodex auslöst. „Wer gegen die Corona-Maßnahmen ist, nimmt Tausende von Toten in Kauf” oder „Wer Ausdruck XY benutzt, ist Rassist” zwingen einem entgegen aller juristischen Gepflogenheiten die Last auf, als Angeklagter die eigene Unschuld nachzuweisen. Die Linke, die sich als modern und progressiv ansieht, wendet allerdings gegen einmal Beschuldigte zunehmend archaische Methoden an, die sich mit der „Hexentaufe“ aus der Zeit der Inquisition vergleichen lässt: Ertrank die Beschuldigte im See, war ihre Unschuld erwiesen; überlebte sie, musste sie eine Hexe sein und landete auf dem Scheiterhaufen. Sie konnte nur verlieren.
Jedoch: Es ist kein linkes Privileg, sich moralisch fragwürdig zu verhalten. Deshalb würde es mich brennend interessieren, wie unser Twitter-User reagieren würde, wenn sich sein Vermieter auf Schimmel im Bad folgendermaßen einließe: „Deshalb rufen Sie mich? Die Menschen in Afrika wären froh, wenn sie Feuchtigkeit im Bad hätten! Die haben nämlich gar kein Wasser. Ich glaube, ich muss die Miete für die Wohnung erhöhen!”. Ich weiß es: Das wäre struktureller Kapitalismus mit immanentem Rassismus. Das schreit nach Enteignung! Aber ist der Kapitalismus nicht in anderen Ländern viel schlimmer ausgeprägt? Na, dann ist doch alles in bester Ordnung!