Mehr „Spaß“ werden zumindest Fußball- und Sport-begeisterte Bürger haben, wenn sie aus dem Fernsehkoma erwachen. Äußerte sich der römische Dichter Juvenal mit dem Begriff „Brot und Spiele“ noch verächtlich über die gelebte Praxis, sich mit Gefälligkeiten und der Inszenierung von Großereignissen die politische Gunst des Volkes zu sichern, dienen die „niederen Gelüste“ heute auch als Blendwerk, um gesellschaftliche und mediale Debatten zu vermeiden. Und bisher gelang es den Politikern trefflich, die Ablenkung des Souveräns zu nutzen, um umstrittene Gesetze durch die Parlamente zu peitschen.
Von Matthias Hellner und Alfons Kluibenschädl
Heimliche Steuererhöhung
Perfektioniert wurde dieser Trend in Deutschland, wo man schon 2006 die Euphorie um die Heim-WM missbrauchte, um heimlich die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Mitten in der Gruppenphase gab der Bundesrat grünes Licht für die Anpassung von 16 auf 19 Prozent. Es war die im Gesamtvolumen größte deutsche Steuererhöhung aller Zeiten. Vier Jahre später schraubte man die Krankenkassen-Beiträge von 14,9 auf 15,5 Prozent des Lohns – mehrere Hundert Euro im Jahr pro Arbeitnehmer – hoch. Nur wenige Monate zuvor ortete eine Untersuchung in 100 wichtigen Berufssparten einen Rückgang der Reallöhne seit 1990. In jeder zweiten Branche ging die Kaufkraft zurück, teils um die Hälfte.
Kurzpass um Datenhandel
Im Jahr 2012 trieb man es auf die Spitze: Während des Spiels der DFB-Elf im EM-Halbfinale gegen Italien beschloss der Bundestag ein neues Meldegesetz. Es regelte, dass Ämter persönliche Daten von Bürgern an Firmen weitergeben dürfen. Von 620 Abgeordneten waren 26 anwesend, eine Debatte fand nicht statt. Eine schwere Beschneidung der Bürgerrechte – in rekordverdächtigen 57 Sekunden abgenickt. Am Folgetag stimmte man dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu, nach dem Deutschland beim „Euro-Rettungsschirm“ bei Staatskrediten in dreistelliger Milliardenhöhe haftet.
Außer Spesen nix gewesen
Zwei Jahre später war ganz Deutschland wegen des vierten Weltmeistertitels im Freudentaumel. Währenddessen verteuerte die Regierung den als Teil der „Energiewende“ forcierten Solarstrom und reduzierte Ausschüttungen bei Lebensversicherungen radikal. Wenige Tage vor dem Finale wagte Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) den Tabubruch und stellte Pläne für eine Pkw-Maut vor. Bei der Titelverteidigung 2018 schied „die Mannschaft“ in der Gruppenphase aus – für die Erhöhung der Parteienförderung um satte 25 Mio. auf 190 Mio. Euro blieb trotzdem Zeit.
Dass man bei einem Großereignis nicht dabei sein muss, um in dessen Windschatten trotzdem Pikantes durchzubringen, zeigte Schweden am 17. Juni 2010. Von der Weltöffentlichkeit und der mehrheitlich linken Wahlbevölkerung im eigenen Land unbemerkt, beschloss der Reichstag den Ausstieg aus dem Atomausstieg.
Österreich machte es den Nordmännern nach: Während der Fußball-EM 2012 einigten sich Ex-Kanzler Werner Faymann (SPÖ) und sein Vize Michael Spindelegger (ÖVP) auf eine Aufstockung der Parteienförderung. Zwei Jahre später folgte zur WM-Zeit die Aufstockung der Politiker-Spesenkonten. Gleichzeitig gab die rote Verkehrsministerin Doris Bures Anrainerprotesten zum Trotz den Weiterbau des umstrittenen Semmering-Basistunnels frei.
Buntes Parlamentstreiben
2016 war Österreich für die Europameisterschaft in Frankreich qualifiziert. Weil das politische Parkett im Zuge der annullierten Bundespräsidenten-Stichwahl unter Beobachtung des Souveräns war, verzichtete man auf umstrittene Beschlüsse. Die schwarz-rote Regierung kippte kurzfristig ihre Pläne für die Einführung eines Staatstrojaners.
Für die Kür der ÖVP-Parteigängerin Margit Kraker zur Präsidentin des Rechnungshofes zu Beginn der Titelkämpfe – also eine politische Umfärbung – reichte es aber. Der frisch angelobte SPÖ-Kanzler Christian Kern traf sich mit seiner deutschen Amtskollegin Angela Merkel, um über eine „gerechte Verteilung“ von Flüchtlingen in ganz Europa zu verhandeln.
Auch andere Großereignisse als Blendwerk
Es muss aber nicht immer König Fußball sein, der ablenkt. Eine weitere Diätenerhöhung im Deutschen Bundestag folgte im Februar 2014 – während der Winter-Olympiade in Russland. Die Medien berichteten stattdessen von „homophoben Prügelattacken“ im Gastgeberland und angeblichem Schmiergeld bei der Vergabe.
Die Sommerspiele hingegen finden in der Regel während der parlamentarischen Sommerpause statt. Trotzdem tauchen politisch heikle Themen in deren Schatten auf. Während der Titelkämpfe in London 2012 forderten ranghohe CDU-Mandatare gegen den eigenen Partei-Konsens neue Privilegien für die Homo-Ehe.
Grundrechtsentzug zu nächtlicher Stunde abgenickt
Während gerade das runde Leder kullert, stellt sich die Frage: Welche umstrittenen Gesetze schaffen es diesmal durch die Parlamente, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nimmt? Einen ersten Vorgeschmack bot der Deutsche Bundestag am vergangenen Donnerstag, den 24. Juni.
Mit 412 zu 212 Stimmen wurde – bei zwei Enthaltungen – um 23:16 Uhr beschlossen, dass einige Grundrechte auch „nach der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ bis zu einem Jahr lang eingeschränkt bleiben dürfen. Die mediale Debatte im Vorfeld blieb aus.
Zu beschäftigt waren alle mit dem entscheidenden Gruppenspiel gegen Ungarn und dem aufgebauschten Regenbogenfahnen-„Protest“ gegen das ungarische Werbeverbot für Trans- und Homosexualität vor Kindern.
Punkteprämie für Erdogan
Auch in Österreich werden Nägel mit Köpfen gemacht. In Wien beschloss man am selben Tag, als die bundesweite 7-Tages-Inzidenz erstmals seit 10. August 2020 in den einstelligen Bereich fiel, eine Impfpflicht fürs Kindergarten-Personal. Beim EU-Gipfel berieten EU-Staatschefs darüber, der Türkei unter Erdogan bis 2024 weitere 3,5 Milliarden Euro für die Versorgung von Migranten zukommen zu lassen. In der Berichterstattung ist das nur eine Randnotiz, Hauptfokus ist das ungarische Gesetz, das schon auf die Fußball-EM ausstrahlte.
Dreiste Kontinuität
Es hat sich in 2000 Jahren nichts geändert: Der Pöbel sitzt im Kolosseum, hinter verschlossenen Türen im Senat mauscheln die Mächtigen über Streitbares. Tags darauf auf der Tribüne verkünden sie bestenfalls, was auf den Nebenschauplätzen passierte.
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