Ende November 2020 sendete der Tessiner Kantonsarzt Giorgio Merlani einen Brief an alle Tessiner Ärzte. Der Zweck des Briefes war, Ärzte davon abzuhalten, Atteste zur Maskenbefreiung auszustellen. Im Schreiben des obersten Tessiner Arztes ist Erstaunliches zu lesen.
Merlani streitet in seinem Brief die gesundheitsgefährdende Wirkung der Masken ab. Nicht nur für die Allgemeinbevölkerung, sondern auch für Menschen mit Atembeschwerden. Es würden erst jetzt einige «Artikel» erscheinen, laut denen die Maskenbefreiung nicht evidenzbasiert sei. Merlani gibt dazu in den Quellen gerade mal drei im letzten Jahr erschienene Studien an. Es gebe zudem derzeit keine Liste von medizinischen Gründen, die eine Befreiung vom Tragen einer Maske rechtfertigen würden, merkte er an.
Merlani scheint die wissenschaftliche Literatur nur oberflächlich durchforstet zu haben, ausserdem sehr selektiv. Am 30.April 2020 berichteten wir über eine neue Meta-Studie, die die vorhandenen Studien über die Wirkung von Masken analysierte. Die Autoren haben dabei auch 22 relevante Studien unter die Lupe genommen, die vor Covid-19 erschienen sind. Insgesamt wurden 65 Studien ausgewertet.
Das Resultat der Meta-Studie ist unmissverständlich: Das Tragen von Masken kann sowohl kurzfristige als auch langfristige medizinische Schäden verursachen, bis hin zu kardiovaskulären und neurologischen Erkrankungen. Es kann zudem vorbestehende Krankheitsbilder negativ beeinflussen, da es zu verstärkten entzündlichen und krebsfördernden Auswirkungen führen kann. Die Autoren der Meta-Studie fügten auch eine lange Liste hinzu – die Merlani offensichtlich nicht vorlag –, in denen «Krankheiten und Zustände mit einem erhöhten Risiko von negativen Auswirkungen durch das Tragen von Masken» aufgeführt sind.
Krankheiten und Zustände mit einem erhöhten Risiko von negativen Auswirkungen durch das Tragen von Masken (Quelle: International Journal of Environmental Research and Public Health, IJERPH)
Trotzdem schreibt Merlani, dass das Tragen einer Maske sogar bei Menschen, die an chronischen Atemwegserkrankungen leiden, kein zusätzliches Risiko darstelle, die Atemschwierigkeiten zu verschlimmern. Die längere Verwendung einer Gesichtsmaske könne unangenehm sein, doch es habe sich gezeigt, dass sie – bei korrekter Anwendung – nicht zu einem erhöhten Kohlenstoffdioxidgehalt (Hyperkapnie) oder zu Sauerstoffmangel im Blut (Hypoxämie) führen würde. Der Tessiner Kantonsarzt weiter:
«Das Tragen einer Maske schränkt leichte bis mittelschwere körperliche Aktivitäten nicht signifikant ein. Es wird daher empfohlen, auch bei Kindern und Jugendlichen körperliche Aktivitäten mit moderater Intensität zu fördern, währenddem sie eine Maske tragen.»
Merlani warnt die Ärzte in seinem Schreiben vor dem Ausstellen eines Maskenattests, wenn dies medizinisch nicht gerechtfertigt sei. Es sei möglich, dass die Gesundheitsaufsichtsbehörde den Arzt um eine Stellungnahme zu den von ihm ausgestellten Ausnahmegenehmigungen bitten könnte. Merlani erinnert die Tessiner Ärzte daran, dass das ärztliche Attest ein offizielles Dokument ist und Gefälligkeitsbescheinigungen verboten sind.
Auch wenn der Arzt der Meinung sei, dass eine Befreiung von der Maskenpflicht angebracht ist, solle er dem Patienten zuerst Alternativlösungen vorschlagen. Diese lauten wie folgt:
- «Wählen Sie chirurgische Masken und verwenden Sie keine Masken wie FFP2 oder FFP3, die zwar eine höhere Filterkapazität haben, aber schwieriger zu tolerieren und teuer sind, wodurch das Risiko besteht, dass sie zu lange wiederverwendet werden. Zudem sind diese dem medizinischen Personal vorbehalten.
- Vermehrtes Händewaschen mit Wasser und Seife, Vermeidung von Desinfektionsmitteln, die zu Atembeschwerden führen können; bei Verwendung von waschbaren Masken kann es hilfreich sein, sie häufig zu waschen und duftstofffreie Waschmittel zu verwenden, die empfohlene Dosierung zu beachten und gründlich nachzuspülen.
- Gehörlose oder schwerhörige Menschen, die auf das Lippenlesen angewiesen sind, können den Abstand vergrössern und die Maske bei Bedarf absenken. Für diese Fälle werden durchsichtige und zertifizierte Masken ausgewertet; wir werden Sie auf dem Laufenden halten.»
Der Tessiner Kantonsarzt befasst sich dann auch mit dem «Sach- und Rechtsattest» des Juristen Heinz Raschein, in dem dieser die rechtliche Lage bezüglich der Maskenpflicht aus seiner Sicht darlegt. Auf Bitte von Merlani und Kollegen hin, habe das BAG eine rechtliche Beurteilung dazu vorgenommen. Danach sei «keine der im Attest von Raschein gemachten Aussagen als relevant anzusehen», das Attest stelle keinen Grund für eine Befreiung von der Maskenpflicht dar. Das Gutachten des BAG fügte Merlani jedoch nicht an.
Interessant ist auch die Logik, die Merlani anwendet, um zu rechtfertigen, dass im Tessin Kinder in den Schulen schon ab elf Jahren eine Maske tragen müssen. Denn die Covid-Verordnung schreibt vor, dass Kinder unter zwölf Jahren von der Maskenpflicht befreit sind. Im Tessin beginne die Mittelschule jedoch schon mit elf Jahren, somit bestehe ein Unterschied zur Bundesverordnung, meint Merlani. Doch es gebe eine kantonale Verordnung – auf die Merlani natürlich Einfluss hatte – die eine Maskenpflicht ab der ersten Klasse der Mittelschule vorschreibe.
Merlani vertieft seine Argumentation nicht weiter, doch es ist anzunehmen, dass der Grund die angebliche Ansteckungsgefahr durch den maskenlosen Jahrgang im selben Schulgebäude ist. Aber wie sollen sich die anderen Kinder anstecken, wenn sie alle «maskiert» sind? Könnte dies ein implizites Eingeständnis dafür sein, dass Masken nicht vor Viren schützen?
Jedenfalls ist es äusserst leichtsinnig, die auf keiner wissenschaftlichen Grundlage basierende Verordnung zur Maskenpflicht ab zwölf Jahren, einfach um ein Jahr herabzusetzen. Zumal die Bundesverordnung in den Schulen eine Maskenpflicht erst ab der Sekundarstufe II vorschreibt. Und in öffentlichen Verkehrsmitteln und anderen öffentlich zugänglichen Bereichen, in denen Kinder weniger Zeit verbringen als in der Schule, ist sie auf zwölf Jahre festgelegt.