Horst D. Deckert

Triage-Urteil: Politische Dilettanten entscheiden über Leben und Tod

Ärzte im Entscheidungsstress (Foto:Imago)

Was es mit der (hochfragwürdigen) Devise „Trust the Science” – sinngemäß: „Hört auf die Wissenschaft und folgt ihr!” – wirklich auf ihr hat und in welch exklusivem Auslegungsrahmen diese im tiefen Linksstaat Deutschland fortan zur Anwendung gelangen darf, ist mit dem Triage-Urteil des Bundesverfassungsgerichts nun wohl endgültig beantwortet: Nur solche Experten und Forscher sind fortan vermutlich noch wohlgelitten, zitiert- und meinungsberechtigt, die sich zur Unterfütterung einer von fachfremden Regierenden bereits zuvor beschlossenen Maßnahmenpolitik eignen. Der Rest ist entweder keine „seriöse Wissenschaft“ oder darf geflissentlich überhört werden.

Neben den geistigen Schlachtfeldern Klimaschutz und Migration oder den biologistischen Pseudowissenschaften des Transgender-Paralleluniversums wird damit nun auch die Gesundheitspolitik endgültig dem Ratschluss unabhängiger Fachleute und tatsächlich im praktischen Alltag mit ihr befassten Spezialisten entzogen – und damit ein weiteres gesellschaftlich hochsensibles Fachgebiet dem Primat politischer Laien unterworfen, die nach sachfremden und, wie sich zeigte, zunehmend irrationalen Beweggründen munter an den Stellschrauben drehen darf. Das Karlsruher Urteil ist Wasser auf die Mühlen derer, die einen Putsch der dritten Gewalt sehen, eine Gleichschaltung von Höchstrichtern, die nicht länger als oberste Verfassungsschützer, sondern als Erfüllungsgehilfen eines übergriffigen, machtversessenen, zunehmend totalitären Staats urteilen.

Mit seiner nur allzu willkommenen „Aufgabe” an den Bundestag, im kommenden Jahr ein Gesetz zu beschließen, das „Leitplanken für die Behandlung von Patienten in Knappheitssituationen” setzen soll, wird einer dilettierenden politischen Lobbyisten- und Kurpfuschertruppe, getragen von fachfremden und unqualifizierten Berufspolitikern, die Oberhoheit über die Begrifflichkeiten (wie definiert man eigentlich eine „Knappheitssituation”?) und auch die wieder einmal angeblich „alternativlosen“ Gegenmaßnahmen, verbrämt als Sachzwänge, auf dem silbernen Tablett serviert.

Ärzte müssen spuren

Nicht mehr Ärzte, Pfleger und Gesundheitsexperten definieren künftig also die Korridore, an denen sich die Politik – wie eigentlich in allen komplexen fachpolitischen Detailfragen – orientieren müsste (und dies schon gar nicht demokratisch, wie die letzten 22 Monate gezeigt haben) – sondern ab sofort soll umgekehrt der Staat die Maßstäbe festlegen, nach denen Ärzte ihren Job erledigen – inklusive Gewissensfragen, intuitiver oder emphatischer Ad-hoc-Entscheidungen und und konkreter hochethischer Lagebeurteilungenen die sich überhaupt nicht bürokratisch-zentralistisch regeln lassen. Wenn die Regierung künftig also sagt: Es IST Pandemie, es herrscht Notstand, wir sind im Krisenmodus – und deshalb behandelt ihr diese oder jene zuerst: Dann müssen Ärzte, selbst wenn sie vom genauen Gegenteil überzeugt sind, spuren.

Klar, dass dieser neue Autoritarismus bei denen bombig ankommt, denen der Staat schon bisher viel zu lasch mit seinen Interventionen war. So frohlockte Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery über das neue Urteil und forderte den Gesetzgeber laut „dts“ ebenfalls auf, schnell die  „Leitplanken” zu definieren, an denen sich Ärzte „bei ihrer Entscheidung orientieren” könnten. Begeistert sind auch die Patientenschutzverbände; der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, sprich von einer „überfälligen” Entscheidung. Denn (Achtung, hier wird es dann selbstreferenziell, Stichwort Zirkelschluss!), so Brysch: „Wir erleben ja jetzt in der Coronakrise solche Knappheiten auf den Intensivstationen.” Und dann folgt der Schlüsselsatz, der den Wahn gut zusammenfasst: „Entscheidungen über Leben und Tod in Knappheitssituationen dürfen nicht den Ärzten überlassen werden.” Sondern fortan dann eben sich dauerirrenden politischen Lobbyisten und Funktionären – und Neurotikern wie Karl Lauterbach?

Der schrieb sogleich ebenfalls bei Twitter, wie sehr er das Urteil begrüße. Denn „Triagen” (die es in Deutschland bis heute überhaupt noch nicht gab, schon gar nicht in dieser sogenannten Pandemie) sind seit Corona-Anbeginn einer von dessen liebsten Panikbegriffen: „Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. Erst Recht im Falle einer Triage.” Nun heiße es, Triage durch wirksame Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern, so der SPD-Politiker. „Der Bundestag definiert die Leitplanken, medizinisch-wissenschaftlich kompetente Organisationen formulieren die Handlungsleitlinien – und passen sie entsprechend dem Stand der Wissenschaft an”, sagte Lauterbach gegenüber Medienvertretern.

Zwielichtige Politiker treffen hochethische Entscheidungen

Welch Wunder, dass da auch die scheinliberalen Umfaller der FDP wieder schnell ins Konsenslager wechseln: FDP-Vize Wolfgang Kubicki, dieser „Täuschkörper der Freiheit“ (Tim Kellner), bezeichnete das Triage-Urteil als „rechtlich nachvollziehbar” und flötet gegenüber der „Rheinischen Post” ebenfalls, dass „nach der Wertentscheidung des Grundgesetzes… Fragen von Leben und Tod durch den Gesetzgeber entschieden werden und nicht durch private Übereinkunft” entschieden werden müssten. Wenn dies so eindeutig war, wieso wurde es dann nicht schon viel früher, lange vor Corona, beschlossen? Wieso sondern ausgerechnet jetzt, in einer behaupteten Krise, in der die wieder und wieder falsch berechneten und irreführend kommunizierten „Situationen in den Kliniken” politisch instrumentalisiert werden wie niemals zuvor – unter anderem, um eine verwerfliche, da faktisch tauglose und hochexperimentelle Impfkampagne durchzusetzen? Anders gefragt: Wem nützt es wirklich, wenn nicht mehr die Ärzte „über Leben und Tod” im Rahmen hypothetischer Triagen entscheiden sollen, sondern zwielichtige Politiker und Impf-Lobbyisten?

Und auch Kubickis FDP-Kollege Marco Buschmann, die Treppe ins Bundesjustizministerium hinaufgefallen, verliert keine Zeit, sich frisch ans Werk zu machen: Er will „zügigeinen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. „Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage kommt.” Falls aber doch, dann bedürfe es „klarer Regeln”, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten. Die Grünen wollen unterdessen nach der Entscheidung aus Karlsruhe rasche Beratungen im Bundestag unter Einbeziehung von Union und Linkspartei führen. So klar vielleicht wie die bisherigen Regeln, nach denen harmlose Regelpatienten von der Ambulanz ruck-zuck auf die Intensivtstation verlegt werden, um dort die Covid-Belegungsstatistik dramatisieren und Geld in die Kassen spülen zu helfen?

Im Parlament werde nun jedenfalls eine „sorgfältige und zügige Prüfung und Erörterung” nötig sein, wie die Entscheidung der Karlsruher Richter umgesetzt werden könne, sagte auch Grünen-Fraktionsvize Maria Klein-Schmeink dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland”. Es sei nun am Gesetzgeber, hier Vorkehrungen zu treffen. „Wir werden gemeinsam mit SPD und FDP beraten, wie dieser Auftrag des Verfassungsgerichts eine Umsetzung finden kann und mit den anderen demokratischen Fraktionen dazu ins Gespräch kommen.” Die Union hatte zuvor bereits darauf gedrängt, das Karlsruher Urteil schnell umzusetzen.

Was ist der wahre Zweck des Manövers?

Was ist hier, muss man fragen, eigentlich los, worum geht es hier wirklich? Die seit Wochen nicht steigenden, sondern rapide sinkenden Belegungszahlen der Intensivstationen sowie die mittlerweile erwiesene viel geringere tatsächliche Bedeutung von Corona als bloße Nebendiagnose unter den sogenannten „Covid-Fällen” werden offenbar überhaupt nicht mehr thematisiert, ebenso wenig wie die Frage, wie die Politik es zulassen konnte, dass binnen eines Jahres infolge bizarrer Fehlanreize und -steuerungen viele tausend Intensivbetten inmitten der „Pandemie“ abgebaut wurden – doch dafür sollen nun ausgerechnet die Regierenden, die diesen Dauerpfusch verbrochen haben, Triagierungs-Vollmachten erhalten? Was ist der eigentliche Zweck dieses Manövers? Sollen am Ende womöglich eher Coronaleugner, Impfverweigerer, Querdenker und andere Staatsfeinde kalt gemacht werden – vielleicht durch die fortan dann „politische“ Grundsatzentscheidung, ihnen die Behandlung zugunsten vorbildlich Durchgeboosterter zu verweigern? Erste Stellungnahmen von „Top-Juristen“ wie der Rechtsphilosophin Tatjana Hörnle weisen genau in diese Richtung: Im „Spiegel“ prescht sie mit der Forderung vor, den „Impstatus“ einer Person bei Triage-Entscheidungen zu berücksichtigen. Wenn man derlei Apartheidsideologen hört, fragt man sich, ob hier nicht demnächst bald künstlich genau die „Knappheit“ geschaffen werden soll (sofern dies nicht bereits geschieht), aus der heraus man dann endlich die verhassten „Unsolidarischen“ krepieren lassen kann.

Was immer Regierung und Parlament aus der von Karlsruhe wunschgemäß abgesegneten Vorgabe machen werden: Es kann nichts Gutes sein. Die Ermächtigungsgesetze kommen heute am Fließband daher. Wir bewegen uns in Richtung eines Betreuungs- und Wächterstaats, dessen Vertreter sich nicht länger als Diener der Bürger, sondern als ihre Lebensretter oder paternalistische Vormunde aufspielen. Die „Leitplanken“ sind nämlich in Wahrheit immer nur ideologische. Wenn also ein selektiv herausgegriffenes, im Vergleich zu anderen immerdar in Kauf genommenen Lebensrisiken harmloses Phänomen von der Politik zur Schicksalsfrage hochgejazzt wird – ein Virus, Feinstaub, Wetterveränderungen -, dann darf sich nach dem Willen des Bundesverfassungsgerichts die Regierung fortan zum obersten Notstandsschamenen aufschwingen und alle anderen Rechte, kraft einer somit bereits vorweggenommenen einseitigen Interessenabwägung, aushebeln. Es kommt auf die richtige Verpackung an, mit der politische Anmaßung und Aufdringlichkeit legitimiert wird. Und erneut sei in diesem Kontext erinnert an den Wortlaut des originalen Ermächtigungsgesetzes von 1933, das nicht etwa hieß „Errichtung einer Diktatur, Abschaffung von Grundrechten und Aufhebung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit von politischen Entscheidungen zugunsten von Willkür“ – sondern „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich”.

Dieselbe „Behebung der Not“, ob sie nun definiert wird als „Knappheitssituation“, als „Triage“ oder Umsturzgefahr von Impfgegnern oder fortan als Erderwärmung, liegt der vom Bundesverfassungsgericht nun vorgegebenen Ermächtigung der Politik zugrunde, nach eigenem Ermessen in fragile, hochkomplexe Systeme munter hineinzuregieren. Es wird diesmal ebenso „prächtig“ funktionieren, wie dies in allen anderen dirigistischen und planwirtschaftlichen Systemen funktioniert hat. Am Ende liegt der Karren im Dreck. Anscheinend hat man in Deutschland noch immer nicht die Nase voll vom Prinzip „alles Gute kommt von oben”, vom vielgerühmten linken Primat der Politik. Gute Besserung!

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