Teil II des gestrigen Beitrags
Zu den Rätseln des überfallartigen Einmarschs gehört für mich die fehlende Perspektive. Ich hatte die russische Intervention schon allein deshalb für unwahrscheinlich gehalten, weil zu erwarten war, was jetzt zu beobachten ist: Putin hat sein Land auf vielen gesellschaftlichen Ebenen isoliert; schon ökonomisch ein verlustreiches Spiel. China wird mit Blick auf die eigenen Ziele wenig Ambitionen zeigen, sich in einem Wirtschaftskrieg allzu deutlich an der Seite Putins zu positionieren. Auch politisch macht die russische Expansion wenig Sinn. Selbst im Fall eines – mit jedem Tag unwahrscheinlicher werdenden – schnellen militärischen Erfolgs, in dessen Ergebnis die Regierung Selenskyi gestürzt würde, bleibt unklar, was folgt. Kiew ist nicht Grosny. Die Ukraine ist als Flächenland mit 44 Millionen Einwohnern nicht wie Tschetschenien per installiertem Statthalter fernzusteuern.
Eine annektierte Ukraine würde – noch mehr als ohnehin schon – zu einem Schwelbrand, der Russland auf Jahrzehnte beschäftigen würde. Zumindest theoretisch denkbar wäre vielleicht ein Szenario, in dem Russland der verarmten ukrainischen Bevölkerung zu rasant einsetzenden verbesserten Lebensbedingungen verhilft und so hinter der Agenda eines Großreichs versammelt.
Putin bläst der Gegenwind ins Gesicht
Aber auch dies erscheint angesichts der historisch weit zurückreichenden Ambivalenz des ukrainisch-russischen Verhältnisses und der begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen Russlands kaum realistisch.
Je länger es gelingt, den Vormarsch aufzuhalten, aber auch im Fall der Einnahme Kiews, wird Putin der innenpolitische Gegenwind ins Gesicht blasen. Schon jetzt bilden sich erkennbare Risse in seinem Umfeld. Auch die eigene Bevölkerung zeigt sich angesichts der durchsickernden Bilder wenig euphorisch. Raketen auf ein Brudervolk sind auf Dauer nicht zu verkaufen. Die reichlich gezwungene sprachliche Umwidmung eines Angriffskrieges in eine „begrenzte militärische Sonderoperation” hat so nur eine begrenzte Haltbarkeit. Putin könnte sich an diesem Brocken verschluckt haben. Möglicherweise fällt nicht Selenskyi, sondern er selbst. Dies wiederum könnte die geostrategische Tektonik auf ganz andere Weise verändern, als bisher von den meisten erwartet. Stay tuned.
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