Im Jahr 2022 gehörte zum ersten Mal kein einziges deutsches Unternehmen mehr zu den einhundert wertvollsten Unternehmen der Welt. 2015 waren es immerhin noch sechs. Das ergab eine Untersuchung des Beratungsunternehmens EY, die kurz vor dem Jahreswechsel veröffentlicht wurde. Europas und vor allem Deutschlands Großkonzerne verlieren in Relation zum Rest der Welt seit den letzten beiden Jahrzehnten. Dominant in der Welt der Großkonzerne sind mehr und mehr die USA. Neun der zehn wertvollsten Unternehmen der Welt haben dort ihren Sitz. Dies ist auch eine Folge einer deutschen Politik, die direkt und indirekt den Interessen amerikanischer Großkonzerne ins Blatt spielt. Von Jens Berger
Vor zwanzig Jahren sah die Welt für viele Beobachter noch anders aus. Ich kann mich noch lebhaft an Debatten im Freundes- und Kollegenkreis erinnern, bei denen die Sichtweise sehr populär war, dass die USA über kurz oder lang wirtschaftlich auf globaler Ebene keine Rolle mehr spielen würden. Man verwies dabei gerne auf die Industrieruinen von Detroit und stellte dem die damals aufstrebende deutsche Automobil- und Maschinenbauindustrie entgegen. Es kam anders. Im September letzten Jahres kamen die beiden US-Automobilhersteller Tesla und Ford zusammen auf eine Marktkapitalisierung von mehr als einer Billion US-Dollar – mehr als fünfmal so viel wie die deutschen Großkonzerne VW, Mercedes und BMW zusammen. Heute ist allein der wertvollste Konzern der Welt, der kalifornische Computerhersteller Apple, mehr wert als alle 40 Dax-Unternehmen zusammen. Und schaut man auf die Details, wird es noch düsterer. Das größte deutsche Unternehmen ist der Industriekonzern Linde, der jedoch mittlerweile seinen Sitz in Dublin und seine operative Zentrale in London hat. Der größte Konzern, der tatsächlich seinen Sitz in Deutschland hat, ist heute der Walldorfer Softwarekonzern SAP und der befindet sich mit einem Marktwert von 120 Milliarden Euro nicht unter den einhundert größten Unternehmen der Welt.
Was für Deutschland gilt, gilt jedoch unisono – wenn auch nicht derart dramatisch – für die gesamte EU. Neben den drei französischen Luxusgüterkonzernen LVMH, Hermès und Dior gibt es mit Novo Nordisk (Pharma/Dänemark), ASML (Halbleiter/Niederlande), L’Oréal (Kosmetik/Frankreich), Accenture (Unternehmensberatung/Irland), Total (Energie/Frankreich) und Prosus (Beteiligungen/Niederlande) gerade mal eine Handvoll EU-Unternehmen unter den Top100 – weniger übrigens als China. Aus den USA kommen indes ganze 61 Unternehmen aus fast allen Branchen.
Diese Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. So könnte man einwenden, dass der Marktwert – also die Börsenkapitalisierung – nicht der geeignete Marker ist, um die Bedeutung von Konzernen abzubilden. Da mag was dran sein. Nimmt man andere Marker, sieht die Verteilung für den Standort Deutschland aber auch nur unwesentlich besser aus. Gemessen am Umsatz findet sich mit Volkswagen, Mercedes Benz, BMW, der Allianz, der Deutschen Telekom, E.ON, der Deutschen Post, BASF und kurioserweise Uniper (eine Folge der hohen Gaspreise) zwar in der Tat die Crème de la Crème der deutschen Großindustrie unter den einhundert umsatzstärksten Unternehmen der Welt, aber auch hier dominieren die USA mit 38 Unternehmen unter den Top100 und fünf unter den Top10. Und auch hier ist die Entwicklung spiegelbildlich – während US-Unternehmen Jahr für Jahr dominanter sind, nimmt die Rolle deutscher Unternehmen von Jahr zu Jahr ab.
Das war nicht immer so. Vor zwanzig Jahren war Deutschland – gemessen an seiner Größe – in der Tat eine wirtschaftliche Macht. Will man einen Wendepunkt herausheben, so war dies die Finanzkrise von 2007/2008. Seitdem ist der Trend eindeutig, wobei sich jedoch ein monokausaler Zusammenhang mit der Finanzkrise nicht erschließt. Es ist natürlich so, dass deutsche – und auch französische – Banken vor der Finanzkrise zu den größten der Welt gehörten und heute im Grund kaum noch eine Rolle spielen – die einst so mächtige Deutsche Bank verfügt heute über eine Marktkapitalisierung von 23 Milliarden Euro und liegt damit hinter der indonesischen Bank Mandiri und der malaysischen Maybank. Das erklärt aber nicht den Absturz auf breiter Front und über alle Branchen hinweg.
Es gibt zahlreiche Gründe für den relativen Bedeutungsverlust und die meisten davon sind durchaus, wenn auch nicht politisch gewollt, so doch zumindest durch die Politik begünstigt. Vor allem bei der Digitalisierung wurde politisch eigentlich alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. Man hat Konzernen wie Apple, Microsoft, Alphabet (Google) und Amazon, die heute zusammen mit dem saudischen Erdölgiganten Saudi Aramco die Top5 bilden, den Markt über- und deren Monopole zugelassen, die heute kaum noch zu zerschlagen sind. Europa und allen voran Deutschland hat den Sprung von der Industrie- zur Informationsgesellschaft schlicht verschlafen. Ähnliches findet zur Zeit mit der Energiewende statt. Ab 2035 sollen in der EU keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen werden und Stand heute – gerade mal 12 Jahre vor dem Verbot – sind die deutschen Automobilhersteller in Sachen Elektromobilität so schlecht aufgestellt wie die Hersteller in keinem anderen Land der Welt.
Als wichtigster Faktor für den relativen Niedergang deutscher Konzerne ist jedoch die Liberalisierung der Finanzmärkte und die Privatisierung der Altersvorsorge zu nennen. Mit jedem Euro, den wir in private Altersvorsorgeprodukte stecken (müssen), wächst der relative Einfluss der US-Konzerne. Derartige Produkte sind meist „breit aufgestellt“, um Risiken zu minimieren und die Anbieter sind dabei bei der heute schon beinahe omnipräsenten Anlageform „ETF“ gezwungen, die Kundengelder auf dem Aktienmarkt zu investieren – und dies in einem festen, vorgegebenen Verhältnis. Dies lässt sich gut am wohl weitverbreitetsten Aktienindex erklären, der bei der privaten Altersvorsorge mit ETFs die wichtigste Rolle spielt – der MSCI World.
Aufgabe des MSCI World ist es eigentlich, die Weltkonjunktur mittels eines globalen Aktienindizes zu spiegeln. Es gibt keinen Index, der breiter aufgestellt ist und sich nach Logik der Risikominimierung daher so gut für die Altersvorsorge über Aktien eignet. Das Problem: Obgleich die USA global nur für rund 15% des Bruttoinlandsprodukts stehen, bilden US-Konzerne mit rund 70% die absolute Mehrheit des MSCI World. Von jedem Euro, der weltweit in Altersvorsorgeprodukte geht, die sich am MSCI World oder einem ähnlichen globalen Index orientieren, fließen also 70 Cent in die USA – obgleich das streng genommen nicht stimmt, da bei einem Aktienkauf nicht die Aktiengesellschaft, sondern der Verkäufer der Aktie das Geld bekommt. Die stetige Nachfrage nach US-Aktien treibt jedoch deren Kurse und jede Neuausgabe von Aktien orientiert sich an diesem Aktienkurs. Wenn US-Konzerne ihre globalen Konkurrenten aufkaufen, zahlen sie den Kaufpreis in der Regel zu einem großen Teil ebenfalls in eigenen Aktien. Um es zuzuspitzen: Die US-Konzerne können dank des stetigen Kapitalabflusses der weltweiten Sparer Geld drucken, um Investitionen vorzunehmen und andere Unternehmen zu übernehmen. Anders ist der Siegeszug der US-Großkonzerne nicht zu erklären.
Natürlich reicht ein kleiner Artikel auf den NachDenkSeiten nicht aus, um die Problematik mit all ihren Facetten ausführlich zu schildern. Diese Zahlen sind auch nur eine Momentaufnahme und die Dynamik dürfte in diesem Jahr dramatisch zunehmen, da europäische und vor allem deutsche Konzerne durch die sanktionsbedingten Energiepreissteigerungen auch realwirtschaftlich gegenüber der Konkurrenz aus den USA und Asien an Boden verlieren. Deutschland schafft sich zwar nicht selbst ab, ist aber auf dem besten Weg, seine industrielle und wirtschaftliche Basis zu zerstören.
Dieser kleine Abriss soll zumindest einen Eindruck vermitteln, wo die Probleme liegen und welche Instrumente die Politik in der Hand hätte, um gegenzusteuern. Doch das wird in Deutschland nicht gemacht. Im Gegenteil. In Sachen Energiepolitik ist keine Wende in Sicht und auf der Ebene der Finanzströme werden die Weichen sogar in die Gegenrichtung gestellt. Aktuell plant die Ampel die Einführung einer Aktienrente – dazu werden die NachDenkSeiten in den nächsten Wochen noch ausführlicher berichten. Setzt sich diese Politik fort, wird sich Deutschland über kurz oder lang endgültig aus der Reihe der führenden Wirtschaftsmächte verabschieden. Polemisch könnte man sagen: „Erst wenn der letzte Automobilhersteller Konkurs angemeldet, die letzte Chemiefabrik geschlossen und der letzte Maschinenbauer das Land verlassen hat, werdet ihr merken, dass man mit Gleichstellungsbeauftragten und Yogaschulen keine Volkswirtschaft ernähren kann.“
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