Deutschland steht vor einem gigantischen makroökonomischen Schock. Die Großhandelspreise für Gas und Strom sind völlig außer Kontrolle, die zu erwartende Kostenlawine wird massive Auswirkungen auf die Binnennachfrage und die konjunkturelle Lage haben. Es braut sich ein „perfekter Sturm“ für eine anhaltende schwere Wirtschaftskrise zusammen. Man hat jedoch den Eindruck, dass dies weder in den Reihen der Spitzenpolitik noch bei den Leitartiklern angekommen ist. Das Handlungsfenster für nötige Eingriffe zur Dämpfung des Schocks schließt sich und es ist nicht erkennbar, dass sich die Verantwortlichen des Ernsts der Lage bewusst sind. Wir sind Passagiere auf dem Narrenschiff, das gerade eben volle Fahrt aufs Riff nimmt. Ein Kommentar von Jens Berger
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Gasumlage – Warum blickt niemand auf den Elefanten im Raum?
Der Gaspreis für Endkunden hat sich bereits mehr als verdreifacht, folgen die Endkundenpreisen den zur Zeit aufgerufenen Preisen im Großhandel, ist ein Verfünffachung in Sicht. Parallel dazu sind auch die Großhandelspreise für Strom völlig außer Kontrolle. Würden die Versorger die Großhandelspreise der letzten Woche voll auf die Endkunden umlegen, würde der Preis für eine Kilowattstunde die Ein-Euro-Marke erreichen und sich damit verdreifachen. Der Großteil dieser kommenden Preissteigerungen ist noch nicht zu spüren, da die Versorgerverträge für Gas sich erst in den kommenden Wochen und die für Strom sich je nach Vertragslänge erst in den nächsten Monaten auf den Rechnungen bemerkbar machen. Für Mieter kommt der Preisschock meist erst mit der nächsten Jahresabrechnung der Nebenkosten. In der aktuellen Preissteigerung von 7,9 Prozent sind die explodierenden Preise für Gas und Strom nur zu einem kleinen Teil eingepreist. Es wäre ein Wunder, wenn die Preissteigerung im Winter im einstelligen Bereich bleiben würde. Eine Verdoppelung auf 15 Prozent scheint wahrscheinlich. Zur Einordnung: Das sind fast zwei komplette Monatsgehälter, die von der Preissteigerung einfach ausgelöscht werden.
Viele Haushalte werden ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Aber es sind ja keinesfalls „nur“ die sozialen Folgen, die jedem aufmerksamen Beobachter den Schlaf rauben sollten. Lassen Sie uns doch mal über die volkswirtschaftlichen Folgen sprechen. Nicht nur die Haushalte, sondern auch die Industrie und das Gewerbe werden voll vom Energiepreisschock getroffen – sie verbrauchen mehr als die Hälfte des in Deutschland genutzten Erdgases und mehr als zwei Drittel des Stroms. Die Konkurrenz aus den USA und China lacht sich ins Fäustchen, denn diese Preissteigerungen sind für die Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen ein weitaus größerer Nachteil als es die über Jahrzehnte so heiß debattierten Lohnnebenkosten je sein könnten. Wenn die Preise nicht bald wieder unter Kontrolle kommen, droht dem Land die Deindustrialisierung.
Eine konservative Überschlagsrechnung des IMK-Ökonomen Sebastian Dullien prognostiziert alleine für die Gasimporte für 2023 einen Nettoabfluss in Höhe von mehr als 250 Milliarden Euro im Vergleich zu 2020. Das sind fast sieben Prozent des deutschen BIP. Schon jetzt importiert der ehemalige „Exportweltmeister“ Deutschland mehr Güter als er exportiert. Das wäre ja auch nicht weiter schlimm, wenn es sich hierbei nicht fast ausschließlich um einen Teuerungseffekt bei den Energieimporten handeln würde. Aber auch dies ist erst einmal nur ein Teil des Problems, dem sich die deutsche Volkswirtschaft nun stellen muss.
Die viel größere Gefahr besteht im absehbaren Zusammenbruch der Binnenkonjunktur. Dazu ein einfaches Rechenbeispiel. Ein Haushalt der Mittelschicht hat ein verfügbares Nettoeinkommen von 4.000 Euro. Bislang zahlte er 200 Euro für Gas und 200 Euro für Strom. Wenn sich – konservativ gerechnet – der Gaspreis verdreifacht und der Strompreis verdoppelt, sind es 600 Euro mehr. Dieses Geld fehlt diesem Haushalt künftig pro Monat für alle anderen Ausgaben. Und wir reden hier erst einmal nur von den direkten Kosten bei der Energieversorgung. Unterstellen wir mal, dass sich die indirekten Folgen, also die Preissteigerungen, die von der Industrie und vom Gewerbe auf den Endkundenpreis umgelegt werden müssen, auf rund 10 Prozent belaufen, kämen noch einmal rund 360 Euro hinzu. Die preissteigerungsbedingten Mehrkosten liegen also für diesen Haushalt bei fast 1.000 Euro pro Monat oder einem Viertel des verfügbaren Einkommens. Dieses Geld kann dann nicht mehr für andere Sachen ausgegeben werden. Man verzichtet auf den Restaurant- oder Konzertbesuch, man lässt den Urlaub und den Einkaufsbummel ausfallen, verschiebt den Kauf neuer Sachen oder die geplante Renovierung.
Die Ausgaben der Haushalte sind jedoch auf der anderen Seite die Einnahmen und Aufträge der Unternehmen. Es sind also nicht nur die Unternehmen, die vom Export leben und durch die höheren Kosten massive Wettbewerbsnachteile haben, sondern auch und vor allem die unzähligen meist kleineren Unternehmen und Betriebe, die ihre Güter und Dienstleistungen vor allen lokalen Endkunden anbieten, die massiven Umsatzeinbußen entgegensehen. Wir reden hier nicht über ein oder zwei Prozent, sondern über ein Viertel des verfügbaren Einkommens, das auf der anderen Seite die Einnahmen widerspiegelt. Als kleine Randnote: Dies sind oft genau die Unternehmen, die bereits durch die Corona-Maßnahmen schwer angeschlagen wurden.
Das ist der perfekte Sturm. Die Energiepreisexplosion ist ein massiver externer Effekt, der auf allen Ebenen die Volkswirtschaft angreift und Prozesse auslöst, die in einer tiefen Rezession münden. Und diese Entwicklung ist nicht auf Deutschland beschränkt. Ähnliche Entwicklungen sind in der gesamten EU und in benachbarten Ländern, deren Energiemarkt mit dem EU-Markt verwoben ist, zu beobachten.
Derzeitiger Spotmarktpreis für eine Megawattstunde Strom im Großhandel. 604 Euro für eine Megawattstunde entspricht 60,4 Cent pro Kilowattstunde.
Quelle: EEX
Dies ist kurz umrissen und keinesfalls übertrieben die Situation, in der wir uns im Spätsommer 2022 befinden. Man muss schon ein Narr sein, um dies nicht zu erkennen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Dramatik der Lage sich nicht einmal im Ansatz in der politischen Debatte widerspiegelt. Man redet sich lieber die Köpfe über so wichtige Themen wie „Winnetou“ heiß und wenn es mal ums Thema Energiepreise geht, streitet man lieber über Nebenkriegsschauplätze wie die Mehrwertsteuer auf die handwerklich schlecht gemachte Gasumlage. Man kommt sich vor wie der Passagier auf einem auf ein Riff zusteuerndes Schiff, der realisiert, dass der Kapitän und die gesamte Mannschaft offenbar ihren Verstand verloren haben und den Kurs beibehalten.
Dabei wäre für die Politik noch Zeit, das Ruder herumzureißen und die unabwendbaren Schäden zumindest zu minimieren. Dazu gehört, wie von den NachDenkSeiten bereits gefordert, eine grundsätzliche Reform der Strompreismechanismen. Und ja, Kernpunkt der Kursänderung ist die unverzügliche Wiederaufnahme der vollen Gasimporte aus Russland – wie auch immer die Politik dies erreichen kann. Im Februar erklärte Außenministerin Baerbock: „Wir sind bereit, für die Sicherheit der Ukraine einen hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen“. Die Folgen diesen Narrengeschwätzes zeichnen sich jetzt deutlich ab. Nein, ein Großteil des Landes ist nicht bereit, diesen hohen Preis für die fehlgeleiteten Träume eines transatlantischen Harakiri-Kurses zu bezahlen. Und nein, ein Großteil des Landes hat auch kein Verständnis dafür, dass vor allem die Grünen die Energiekrise offenbar als eine Schock-Strategie im Sinne Naomi Kleins verstehen, um die Energiewende zu forcieren. Die Energiewende ist wichtig und sollte hohe Priorität haben. Sie kann aber nur in einer gesunden Volkswirtschaft gelingen.
Man fragt sich, was derzeit in den Köpfen der Spitzenpolitiker vor sich geht. Eine überzeugende Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Ist es Narretei? Ist es eine geplante oder zumindest in Kauf genommene Schock-Strategie? Ist es Fatalismus? Ist es Nibelungentreue gegenüber den USA? Verstehen die Verantwortlichen schlicht nicht, was auf dem Spiel steht? Sind sie Getriebene der Medien, die Angst haben, auf dem medialen Scheiterhaufen verbrannt zu werden, wenn sie die transatlantische Russlandpolitik in Frage stellen? Ganz ehrlich, ich weiß es auch nicht.
Wenn die politische Debatte dieser Tage verfolge, fühle ich mich jedoch immer an das Lied „Narrenschiff“ von Reinhard Mey erinnert:
Das Quecksilber fällt, die Zeichen stehen auf Sturm
Nur blödes Kichern und Keifen vom Kommandoturm
Und ein dumpfes Mahlen grollt aus der Maschine
Und Rollen und Stampfen und schwere See
Die Bordkapelle spielt: Humbatätärä
Und ein irres Lachen dringt aus der LatrineDie Ladung ist faul, die Papiere fingiert
Die Lenzpumpen leck und die Schotten blockiert
Die Luken weit offen und alle Alarmglocken läuten
Die Seen schlagen mannshoch in den Laderaum
Und Elmsfeuer züngeln vom Ladebaum
Doch keiner an Bord vermag die Zeichen zu deutenDer Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
Die Mannschaft, lauter meineidige Halunken
Der Funker zu feig um SOS zu funken
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs aufs RiffAm Horizont Wetterleuchten: die Zeichen der Zeit
Niedertracht und Raffsucht und Eitelkeit
Auf der Brücke tummeln sich Tölpel und Einfallspinsel
Im Trüben fischt der scharfgezahnte Hai
Bringt seinen Fang ins Trockne, an der Steuer vorbei
Auf die Sandbank bei der wohlbekannten SchatzinselDie andern Geldwäscher und Zuhälter, die warten schon
Bordellkönig, Spielautomatenbaron
Im hellen Licht, niemand muss sich im Dunklen rumdrücken
In der Bananenrepublik wo selbst der Präsident
Die Scham verloren hat und keine Skrupel kennt
Sich mit dem Steuerdieb im Gefolge zu schmückenDer Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
Die Mannschaft, lauter meineidige Halunken
Der Funker zu feig um SOS zu funken
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs aufs RiffMan hat sich glattgemacht, man hat sich arrangiert
All die hohen Ideale sind havariert
Und der grosse Rebell, der nicht müd wurde zu Streiten
Mutiert zu einem servilen, giftigen Gnom
Und singt lammfromm vor dem schlimmen alten Mann in Rom
Seine Lieder, fürwahr! Es ändern sich die ZeitenEinst junge Wilde sind gefügig, fromm und zahm
Gekauft, narkotisiert und flügellahm
Tauschen Samtpfötchen für die einst so scharfen Klauen
Und eitle Greise präsentieren sich keck
Mit immer viel zu jungen Frauen auf dem Oberdeck
Die ihre schlaffen Glieder wärmen und ihnen das Essen vorkauenDer Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
Die Mannschaft, lauter meineidige Halunken
Der Funker zu feig um SOS zu funken
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs aufs RiffSie rüsten gegen den Feind, doch der Feind ist längst hier
Er hat die Hand an deiner Gurgel, er steht hinter dir
Im Schutz der Paragraphen mischt er die gezinkten Karten
Jeder kann es sehen, aber alle sehen weg
Und der Dunkelmann kommt aus seinem Versteck
Und dealt unter aller Augen vor dem KindergartenDer Ausguck ruft vom höchsten Mast: “Endzeit in Sicht”
Doch sie sind wie versteinert und sie hören ihn nicht
Sie ziehen wie Lemminge in willenlosen Horden
Es ist als hätten alle den Verstand verloren
Sich zum Niedergang und zum Verfall verschworen
Und ein Irrlicht ist ihr Leuchtfeuer gewordenDer Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
Die Mannschaft, lauter meineidige Halunken
Der Funker zu feig um SOS zu funken
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs aufs RiffDer Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
Die Mannschaft, lauter meineidige Halunken
Der Funker zu feig um SOS zu funken
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs aufs Riff
Titelbild: Sebastian Brant – Doctor Brants Narrenschiff , Basel 1499, Seite 1r. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource