Horst D. Deckert

Vorschriften-Tschungel: Sie haben uns eingesperrt in eine Welt für Deppen

Von PETER HAISENKO | Der Vorschriften-Dschungel wuchert vor sich hin und es gibt kaum noch etwas, das nicht durch detaillierte Anweisungen und Gesetze geregelt ist. Jede mögliche Gefahr soll von vornherein ausgeschaltet sein. Da fragt man sich, warum echte Kerzen am Christbaum noch nicht verboten sind.

Es gab Zeiten, da durfte, oder musste, ein Kind noch aus eigener Erfahrung lernen, dass es schmerzhaft ist, eine heiße Herdplatte anzufassen. Man kannte noch die einfache Regel: Messer, Schere, Licht, sind für kleine Kinder nicht! Das mussten die Kinder einhalten. Schon lange ist es aber so, dass zum Beispiel einfache Feuerzeuge mit einer derart starken Feder ausgerüstet sein müssen, dass die Kraft eines Kindes nicht ausreicht, eine Flamme zu erzeugen. Die Folge ist, dass die Plastikteile des Mechanismus zu schnell kaputt gehen. Die Hersteller freuen sich und die Eltern auch, weil sie bezüglich dieser Feuerzeuge keine Erziehungsarbeit mehr leisten müssen.

Als ich ein junger Mann war und begann, am Straßenverkehr mit motorgetriebenen Fahrzeugen teilzunehmen, gab es für Motorräder keine Helmpflicht und allgemein keine Promillegrenze. Ich habe es für sinnvoll erachtet, einen Helm zu tragen und die Sache mit dem Alkohol und dem Fahren hat man auch irgendwann verstanden. So kann man es als Wunder bezeichnen, dass ich und viele andere meines Alters überhaupt noch leben. Oder eben doch nicht? Ist es nicht eher so, dass wir damals selbst lernen durften, wie man Gefahren erkennt, mit ihnen umgeht, ihnen zuvorkommt? Dass daraus vernünftiges Verhalten entstand, das man aus eigener Überzeugung verstand und eingehalten hat? Nun gut, allen war diese Erkenntnisreife nicht gegeben, aber wie die Erfahrung zeigt, helfen da strenge und detaillierte Verbote auch nicht allen.

Der § 1 der StVO sollte ausreichen

Bleiben wir beim Straßenverkehr. Da gibt es einen Paragraph 1. Der besagt, dass alle Verkehrsteilnehmer zu gegenseitiger Rücksichtnahme und ständiger Vorsicht aufgefordert sind. § 1 Absatz 2 StVO fordert alle Verkehrsteilnehmer dazu auf, sich so zu verhalten, dass andere nicht geschädigt, gefährdet, belästigt oder behindert werden. Ist mit diesem §1 nicht schon alles gesagt, was zu beachten ist im Straßenverkehr? Wofür braucht man dann noch die Unzahl an folgenden Paragraphen? Ach ja, es gibt Juristen und Menschen, die ein Fehlverhalten nicht einsehen wollen. Oder wenn sie es sogar einsehen, einen Anwalt bemühen, der ihr Fehlverhalten mit juristischen Finten relativieren soll. Jedesmal, wenn das geschehen ist, bemüht sich der Gesetzgeber, auch diesen Fall mit neuen Paragraphen abzudecken. Dieser Vorgang betrifft alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens analog.

Einer der schlimmsten Auswüchse dieser Art ist die Produkthaftung, die natürlich auch ein amerikanischer Anwalt erfunden hat. Es war der US-Jurist Ralph Nader, der schon in den 1960er Jahren aufgefallen ist mit dem Standpunkt, alle Automobile stellen wegen ihrer Geschwindigkeit ein untragbares Risiko dar und müssten deswegen verboten werden. 1972 hat er sich dann auf VW eingeschossen und wollte den Käfer und den Bus verbieten lassen, weil diese seiner Ansicht nach ein besonderes Betriebsrisiko darstellten. Dieser Vorgang wird als der Anfang der Produkthaftung angenommen. Obwohl er mit seiner Kampagne gegen VW letztlich scheiterte, ließ er nicht ab, dieses profitable Genre weiter auszuschlachten. Das ging so weit, dass der Flugzeughersteller Cessna die Produktion seiner einmotorigen Modelle für zehn Jahre einstellte, weil Nader anführte, einmotorige Flugzeuge würden abstürzen, wenn der eine Motor ausfällt. Nun, die Gefahr besteht, aber jeder Pilot weiß das und trifft eben diesbezüglich seine eigene Entscheidung.

Warum gilt die Produkthaftung nicht für Waffen und Messer?

Die Produkthaftung ist mittlerweile derart ausgeufert, dass sogar MC-Donalds verklagt werden konnte, weil sie Styropor-Becher für heißen Kaffee verwenden, die dem Druck zweier fetter Schenkel nicht standhalten und so zu Verbrührungen führen können. Der Zustand der Welt ist fortan, dass überall Warnhinweise angebracht werden, damit die Hersteller nicht von eifrigen Juristen verklagt werden können. Da gab es eine Frau, die auf Schadenersatz klagte, weil auf ihrer Mikrowelle kein Hinweis stand, dass man seine Katze nicht darin trocknen darf. Kurz und schlecht, überall sind wir mittlerweile von Warnhinweisen überflutet, von Vorschriften, die für jeden Mensch überflüssig sind, der noch einigermaßen denken kann.

Vor 1990 gab es einen Witz, der den Unterschied zwischen dem „freien Westen“ und der UdSSR zum Thema hatte. Das war so: Im Westen ist alles erlaubt, was nicht verboten ist und in der UdSSR ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. Betrachten wir dazu die Entwicklung der letzten 30 Jahre muss festgestellt werden, dass wir dem beklagten Zustand in der ehemaligen UdSSR verdammt nahe gekommen sind. Oder ist es sogar noch schlimmer? In unserem System kann nichts Neues mehr probiert werden, weil sofort Heerscharen von Bedenkenträgern, vornehmlich wieder Juristen, aufschreien, der Versuch könnte daneben gehen. Man könnte meinen, die Maxime ist: Wer arbeitet, macht Fehler. Wer nicht arbeitet, kann auch keine Fehler machen. Wer also sicher gehen will, keine Fehler zu machen, muss das Arbeiten einstellen. Das Arbeiten und das Denken.

Unwetterwarnungen ohne Unwetter

Normale Wetterberichte gibt es kaum noch. Andauernd werden Warnungen ausgesprochen vor extremen Wetterlagen. Warum? Weil es wieder findige Juristen gibt, die den Wetterdienst verklagen, weil er nich trechtzeitig vor eine Katastrophenlage gewarnt hat. Im Sommer wird vor Hitze gewarnt, die uns umbringen soll, und im Winter vor Kälte. All das sind Erscheinungen, die es seit Jahrtausenden gibt. Wie konnte die Menschheit ohne diese Warnungen und Anweisungen überhaupt überleben? Ist es da falsch, von „betreutem Leben“ zu sprechen? Man hat den Menschen die Fähigkeit abgesprochen, ohne genaue Anweisungen überleben zu können.

Allenthalben werden Baumaßnahmen durchgeführt, die auch noch die letzte Stolperfalle eliminieren sollen. Es wird bestraft, wenn der Gehsteig nicht sofort von Schnee und Eis gesäubert wird. Und nein, es gilt nicht mehr die alte und natürliche Regel, dass man eben selbst aufpassen muss, wenn es Glatteis gibt oder eine Stolperstelle. In meiner Jugend sagte man noch nach einem Stolperer oder Ausrutscher, heb´ die Füße und pass auf. Aber selbst diesen eigenen Selbstschutz hat man institutionalisiert und so eine Gesellschaft erschaffen, die ohne Betreuung kaum noch überlebensfähig ist.

Kinder werden systemkonform erzogen

Mit den Videospielen lernen schon die Kinder, dass man nur zum Erfolg kommen kann, wenn man sich an die Regeln hält, die sich der Spieleentwickler ausgedacht hat. So hat man die jungen Generationen darauf trainiert, dass sie alle Anweisungen und Regeln kritiklos einhalten, um Erfolg zu haben oder überhaupt überleben zu können. Für die Karriere gilt, dass man nur durch Anpassung, durch systemgerechtes Verhalten, aufsteigen kann. Wer „querdenkt“ wird aussortiert. So haben wir es zugelassen, zu einer Gesellschaft zu werden, die zwar durch Zwangsbetreuung kaum noch Lebensrisiken haben soll, aber dadurch in einen Zustand des Entwicklungsstillstands gekommen ist.

Einerseits wird Initiative gefordert, andererseits aber sanktioniert, wenn man sich nicht genau an Vorgaben oder Regeln hält. Welchen Sinn kann aber Initiative haben, wenn sie sich im Rahmen aller Regeln aufhält? Betreutes Leben und Denken würgen jegliche Eigenverantwortung ab. Unsere Lebensumstände sind so eingerichtet worden, dass auch noch der letzte Depp nicht ins Stolpern kommen kann. Das mag ja schön sein für ebendiese, aber wie soll sich jemand da noch wohlfühlen, der ohne diese Art von Betreuung gut leben könnte. Gut, es mag ja bequem erscheinen, wenn man sich um nichts mehr kümmern muss, solange man alle Regeln und Ermahnungen einhält. Aber machen wir so über Kurz oder Lang nicht alle zu Deppen? Verlernen wir so nicht, auch mit außergewöhnlichen Umständen umzugehen, für die es noch keine „Gebrauchsanweisung“ gibt?

Menschen werden zu Menschenmaterial (human resources)

Dieser Wahn, alles und jedes durch Vorschriften und Anweisungen auch für den Dümmsten ungefährlich machen zu wollen, wird letztlich zu einer lebensunfähigen Gesellschaft führen. Die ist aber dann so gut auf Gehorsam und Verzicht auf eigenes Denken und eigene Erfahrungen trainiert, erzogen, dass auch auf politischer Ebene kein Widerstand mehr zu erwarten ist. Geht es bei der übermäßigen Betreuung also genau darum? Menschenmaterial zu schaffen, das brav und ohne Widerspruch vor sich hinarbeitet, nicht protestiert oder auch nur erkennt, was mit ihm geschieht? Bürger, die mit „Brot und Spielen“ ruhig gehalten werden in dem Bewusstsein, alles wird gut, wenn ich mich nur an die Regeln halte und mögen die noch so widersinnig sein.

Zum Abschluss komme ich zurück zu den Kerzen. Nicht nur zu denen am Christbaum. Jeder sollte es wissen: Bei einer Kerze brennt etwas und wo etwas brennt, muss man aufpassen, dass nicht mehr entzündet wird, als man will. Man muss also achtgeben, wenn man eine Kerze anzündet. Wer das nicht weiß, den kann man getrost als Depp bezeichnen. Neulich habe ich eine Kerze gekauft und musste erkennen, dass auch Kerzen mittlerweile deppensicher gemacht worden sind. Betrachten Sie dazu die Anweisungen auf dem Etikett an der Kerze auf dem Bild unten. Nicht nur, dass sie als Piktogramme auch für Analphabeten geeignet sind, beleidigen diese meinen Intellekt.

Aber vielleicht wird man in Zukunft erst einen Test absolvieren müssen mit dem Nachweis, dass man mit einer Kerze umgehen kann. Ohne diesen Nachweis kann man dann keine Kerzen mehr kaufen. Da wird sich die Feuerwehr sicher freuen. Aber in diesem Sinn stellt sich mir die Frage, warum es für Politiker oder Minister überhaupt keine Nachweispflicht gibt, ob sie annähernd geeignet sind, ihren Aufgaben gerecht zu werden. Und so muss die nächste Frage aufkommen, ob die Überregulierungen nicht genau das zur Ursache haben. Kann es nicht sein, dass es eine zwangsläufige Entwicklung ist, dass wir in einer Welt für Deppen eingesperrt werden, wenn Deppen regieren und die Welt so einrichten, dass sie selbst darin überleben können?


Zum Autor: Peter Haisenko ist Schriftsteller, Inhaber des Anderwelt-Verlages und Herausgeber von AnderweltOnline.com

 

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