Walter Lippmann (1989 bis 1974) war einer der meistgelesenen Publizisten der USA im 20. Jahrhundert, von enormem Einfluss und nicht unumstritten. Ursprünglich Sozialist, regte er Woodrow Wilson 1917 zur Bildung des Committee on Public Information an, da die Bevölkerung einem Kriegseintritt der USA ablehnend gegenüberstand. Dabei war Wilson 2016 noch als Gegner eines Kriegseintritts gewählt worden.
Lippmann leitete nach dem Krieg einen Untersuchungsausschuss zum Ersten Weltkrieg, aus dem 1921 der Council on Foreign Relations hervorging, in dessen Direktorium er tätig war. Grossen Einfluss erlangte Lippmann mit seinem Buch «Die öffentliche Meinung» von 1922, in dem er die Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung und die Rolle der Massenmedien analysierte und sich für eine Steuerung der öffentlichen Meinung durch eine intellektuelle Elite im Interesse des Gemeinwohls aussprach.
Obwohl ein Mann der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, kann man immer noch einiges von Lippmann lernen. Es ist das Verdienst der Kollegen von der «edition Buchkomplizen» aus dem Westend-Verlag, drei massgebende Aufsätze von Lippmann in neuer Übersetzung herausgegeben zu haben.
Der schmale Band «Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News» umfasst drei Aufsätze, die vor ziemlich genau hundert Jahren erschienen: «Journalismus und Rechtsstaat», «Was moderne Freiheit bedeutet» und «Nachrichten und Freiheit».
Die drei Texte zeigen, dass sich die Probleme in ihrer Natur nicht geändert haben. Das bedeutet zwar, dass Lippmanns Rezepte — zum Beispiel bessere Ausbildung der Journalisten und Prüfung der Fakten — die Situation nicht wirklich verbessert haben. Das heisst aber auch, dass für die Probleme von heute nicht einfach die aktuellen Akteure verantwortlich gemacht werden können.
Im Vorwort schreiben die Herausgeber Silja Graupe und Walter Otto Rötsch:
«Die vornehmliche Gefahr liegt — ob beim Klimaschutz, bei der Pandemiebekämpfung oder bei Fragen sozialer Gerechtigkeit — im zunehmend fehlenden Konsens darüber, was jenseits von Meinungen als Realität anzusehen ist. Es scheint immer weniger Fakten zu geben, die Menschen über Parteien, Schichten und Generationen hinweg als allgemeingültig im Sinne von für alle gültig anerkennen könnten. Oftmals fassungslos beobachten wir stattdessen, wie sich Gesellschaften noch nicht einmal darauf einigen können, was das Infektionsgeschehen in ihrem Land zu bedeuten hat oder (wie in den letzten Monaten in den Vereinigten Staaten) ob eine Präsidentschaftswahl korrekt abgelaufen ist oder nicht. Das dominante Problem ist nicht, über die gleichen Dinge anderer Meinung zu sein. Vielmehr sind die Fakten selbst ungewiss geworden, ohne dass es ausreichend Mittel gäbe, damit konstruktiv umzugehen. Kann aber eine Demokratie ohne einen minimalen Konsens darüber, was Realität eigentlich ist, langfristig überleben? …
[Lippmann] arbeitet das folgende Grundproblem heraus: In komplexen Gesellschaften handeln Menschen zunehmend nicht mehr aufgrund realer Erfahrungen — und können es auch nicht mehr, weil sie über Dinge entscheiden müssen, die sie nicht direkt erlebt haben. Sie verlassen sich stattdessen, meist ohne es zu merken, auf blosse Meinungen, in denen sich Weltanschauungen mit Emotionen und stereotypen Sprachbildern mischen. Mehr noch: Sie verwechseln diese Meinungen mit tatsächlicher Wahrheit.»
Im Folgenden, gewissermassen als Leseprobe und Einstieg, ein paar Zitate aus Lippmanns Aufsätzen:
So wie ein von höchster Stelle aufgehetzter Mob die verderblichste Form der Unordnung darstellt — und das unmoralischste Handeln ein unmoralisches Regierungshandeln ist — , so besteht die gefährlichste Form der Unwahrheit in den Spitzfindigkeiten und der Propaganda derjenigen, die von Berufs wegen eigentlich für gute Berichterstattung sorgen sollten. Die Zeitungsspalten sind öffentliche Informationsträger. Wenn diejenigen, die sie kontrollieren, sich das Recht herausnehmen, zu bestimmen, was zu welchem Zweck berichtet werden soll, dann kommt der demokratische Prozess zum Erliegen. …
Aber das moderne Problem mit den Nachrichten ist nicht einfach nur eine Frage der Moral von Zeitungsmachern. Es ist, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, das vielschichtige Resultat einer Zivilisation, die für die persönliche Wahrnehmung eines einzelnen Menschen viel zu komplex geworden ist. Da das Problem vielseitig ist, muss auch das Heilmittel vielseitig sein. Es gibt kein Allheilmittel. Doch so verzwickt die Angelegenheit auch immer sein mag, stehen einige Dinge widerspruchsfrei fest, nämlich dass es erstens ein Nachrichtenproblem gibt, das von absolut grundlegender Bedeutung für den Fortbestand der Volksregierung ist, und dass zweitens die Bedeutung dieses Problems momentan weder gebührend erkannt noch hinreichend berücksichtigt wird. …
Vor dem Hintergrund unserer jüngsten Erfahrungen wird deutlich, dass die traditionelle Rede- und Meinungsfreiheit auf einem brüchigen Fundament ruht. In einer Zeit, in der die Welt in erster Linie eine gehörige Portion aktiver Fantasie sowie eine kreative Führung durch vorausplanende und erfinderische Köpfe benötigt, zeigt sich unser Denken vor Panik verkümmert. Zeit und Energie, die zum Zweck des Fortschritts eingesetzt werden sollten, verwendet man stattdessen darauf, schmerzhaft empfundene Vorurteile abzuwehren und einen Guerillakrieg gegen Missverständnisse und Intoleranz zu führen. Denn Unterdrückung wird wahrgenommen. Und zwar nicht nur aufseiten vereinzelter Individuen, die tatsächlich unterdrückt werden. Sie arbeitet sich in die standhaftesten Köpfe vor und erzeugt überall Anspannung; und die Anspannung der Angst erzeugt ihrerseits Sterilität. Die Leute hören auf, zu sagen, was sie denken; und wenn sie es nicht mehr sagen, dann hören sie auch bald auf, es zu denken. …
Denn die Zeitung ist im wahrsten Sinne des Wortes die Bibel der Demokratie, das Buch, aus dem heraus ein Volk sein Handeln bestimmt. Für die meisten Leute ist es das einzige ernsthafte Buch, das sie überhaupt — und sogar täglich — lesen. Nun ist die Macht, jeden Tag zu bestimmen, was wichtig scheinen soll und was zu vernachlässigen ist, mit nichts zu vergleichen, seit der Papst seinen Einfluss auf den säkularen Geist verloren hat. …
Der Kardinalfaktor ist hier stets der Kontaktverlust zu objektiven Informationen. Von ihnen hängen das öffentliche und das private Urteilsvermögen ab. Nicht das, was jemand sagt, nicht das, wovon jemand wünscht, dass es wahr wäre, sondern das, was unberührt von unseren Meinungen so ist, wie es ist: Das ist der Prüfstein für unser Urteilsvermögen und unsere geistige Gesundheit. Und eine Gesellschaft, die aus zweiter Hand lebt, wird unvorstellbare Torheiten begehen und undenkbare Gewalttaten erdulden, wenn dieser Kontakt unregelmässig und unzuverlässig ist. Demagogie ist ein Parasit, der dort gedeiht, wo man nicht mehr differenziert. Und nur diejenigen, die zu den Dingen an sich Kontakt haben, sind dagegen immun. …
Dass dieser Zusammenbruch des öffentlich zugänglichen Wissens zu einer Zeit immensen Wandels stattfindet, erschwert die Problematik zusätzlich: Von der Verunsicherung zur Panik ist es nur ein kurzer Schritt, wie jeder weiss, der schon einmal eine Menschenmenge beobachtet hat, wenn Gefahr droht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es leicht möglich, dass eine ganze Nation ein solches Verhaltensmuster annimmt. Unter dem Einfluss von Schlagzeilen und Panikmache kann sich die ansteckende Krankheit der Unvernunft in einer friedlichen Gemeinschaft leicht ausbreiten. …
Walter Lippmann: Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung von Fake News. edition Buchkomplizen, 2021. 79 S. Fr. 13.–/€ 12.–
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