Horst D. Deckert

Wer nur noch gesund lebt, lebt ungesund

Achten Sie auf Ihre Gesundheit? Sehr vernünftig! Aber man sollte dies nicht übertreiben. Denn dann könnte dies zu einem Bumerang werden, der mehr schadet als nützt. Das meint jedenfalls unser Autor Udo Brandes. Er warnt vor zu viel gesundheitlicher Selbstoptimierung.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wenn es einen dominanten Trend in unserer neoliberalen Wettbewerbsgesellschaft gibt, dann ist das die Selbstoptimierung. Und das betrifft schon längst nicht mehr nur die berufliche Leistungsfähigkeit. Heutzutage werden Menschen schon schief angeguckt, wenn sie es wagen, nicht rundherum gesund zu leben.

Ein Bild für diesen gesellschaftlichen Trend sind für mich die „Ernährungsdocs“ aus der gleichnamigen NDR-Sendung im 3. Programm. Ihr Ansatz ist wirklich gut. Ich habe einiges von diesen Ärzten gelernt und konnte so etwas für meine eigene Gesundheit tun. Aber was mich an dieser Sendung wirklich stört, ist die Moralisierung des Essens, die besonders eine der Ärzte, Dr. Anne Fleck, geradezu auf die Spitze treibt mit einem Ritual.

„Das alles haben Sie diese Woche gegessen!“

Auf Basis eines Ernährungsprotokolls stellt sie alles an Lebensmitteln zusammen, die die Patienten in einer Woche gegessen haben. Und dann sagt Anne Fleck: „Das alles haben Sie diese Woche gegessen!“ Und das mit einem vorwurfsvollen Blick, als wenn der Patient zum Frühstück regelmäßig am Span gegrillte Babys verspeisen würde.

Was ich damit sagen will: Es ist gut und ok, auf die Gesundheit zu achten. Aber das wird zu einem Bumerang, der einen selbst trifft, wenn man es übertreibt. Denn so macht man das Leben zu einem Sparguthaben: Wenn ich immer schön brav auf mein Lebenskonto einzahle und nicht zu viel ausgebe, dann werde ich 95 Jahre alt. Oder vielleicht sogar 100. Fragt sich nur: Wozu? Zu leben und wirklich lebendig zu sein, das heißt auch, sich mal verschwenderisch zu verausgaben im Hier und Jetzt. Und warum dann nicht auch mal genüsslich eine Zigarette rauchen, zu viel Alkohol trinken, oder an einem Abend eine ganze Tüte Gummibären vertilgen.

Ein zuverlässiges Rezept, um unglücklich zu werden: Die Illusion der Kontrolle

Hinter dem gesellschaftlichen Selbstoptimierungstrend, oder man muss ja schon fast sagen Selbstoptimierungszwang, steht die neoliberale Ideologie und Illusion der Kontrolle, die in unserer Gesellschaft fleißig befördert wird. Wenn wir uns richtig ernähren, wenn wir uns genügend bewegen, wenn wir genügend schlafen usw., ja dann bleiben wir gesund. Kann sein. Muss aber nicht. Es gibt genügend Menschen, die perfekt gesund leben und trotzdem krank werden.

Außerdem gibt es nicht nur individuelle Faktoren wie die Ernährung, die einen Einfluss auf die Gesundheit haben. Auch das gesellschaftliche Klima spielt eine große Rolle. In beeindruckender Weise wurde dies von den Epidemiologen Kate Picket und Richard Wilkinson in ihrem Buch „Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ nachgewiesen. Sie belegten, dass in Gesellschaften mit hoher sozialer Ungleichheit Krankheiten wie Diabetes, Adipositas, Herz-Kreislauferkrankungen, Suchterkrankungen, Depressionen aber auch Suizide oder Teenagerschwangerschaften wesentlich häufiger auftreten als in sozial ausgeglicheneren Gesellschaften. Und dass davon keineswegs nur Arme betroffen sind. In Gesellschaften mit hoher sozialer Ungleichheit, wie z. B. den USA, sind auch die Reichen anfälliger für Krankheiten als dies in egalitären Gesellschaften der Fall ist.

Soziale Bedrohungen schaden der Gesundheit

Dazu passt, was der irische Neurowissenschaftler Ian Robertson in seinem Buch „Macht. Wie Erfolge uns verändern“ schreibt:

„Bei allen Tieren, auch beim Menschen, löst soziale Bedrohung (also zum Beispiel der Verlust des Arbeitsplatzes, Armut, oder sonstige soziale Faktoren, die zu sozialem Ausschluss, Demütigungen und Statusentwertung führen; UB) starke Wirkungen auf das Immunsystem aus. Wenn dieses Gefühl der Herabsetzung oder Zurückweisung länger andauert, kann es zu Gesundheitsschäden führen. Es ist dieses Gefühl der sozialen Ablehnung, das Entlassungen so schmerzlich macht, auch wenn man eine gute Abfindung erhält“ (Robertson S. 193).

Eine weitere von Robertson zitierte Studie untersuchte britische Beamte. Das Ergebnis: Die Beamten auf den höheren Hierarchiestufen lebten länger als die Beamten weiter unten in der Hierarchie.

Mit anderen Worten: Auch der soziale Status und die gesellschaftliche Anerkennung, die man genießt, beeinflussen die Gesundheit. In unserer Gesellschaft aber ist der Glaube verbreitet, wir selbst als einzelne Menschen seien unseres Glückes Schmied und hätten es in der Hand, wie lange wir leben und ob wir gesund bleiben. Das ist nicht nur die Illusion der Kontrolle. Es ist auch ein zuverlässiges Rezept, um unglücklich zu werden. Denn wer dann erlebt, dass er eine schwere Krankheit bekommt, obwohl er doch immer „richtig“, nämlich „gesund“ gelebt hat, der ist doppelt geschlagen: Erstens muss er die Krankheit mit all den Beeinträchtigungen für sein Leben ertragen, und zweitens bekommt er womöglich noch Schuldgefühle, weil er glaubt, er habe irgendwie etwas falsch gemacht in seinem Leben.

Und last but not least führt der Selbstoptimierungstrend dazu, dass die Gesellschaft und dann auch irgendwann der Staat eine gesundheitliche „Bringeschuld“ erwarten. Wer raucht, müsste dann mehr Geld in die Krankenkasse einzahlen. Wer so etwas beim Rauchen vielleicht gut findet, den möchte ich fragen: Wo ist dann die Grenze? Darf man dann irgendwann auch kein Bier mehr trinken, ohne einen höheren Krankenkassenbeitrag zu zahlen?

Lust ist ein wichtiges Lebenselexier

Ich höre schon, wie Sie sagen „Aber…“. Richtig. Es ist durchaus vernünftig, auf seine Gesundheit zu achten. Tue ich auch. Aber wer es übertreibt, der bringt sich selbst um viel Lebensfreude. Deshalb empfehle ich, ab und zu mal alte Serien aus den 70er-Jahren wie „Der Kommissar“ auf Youtube oder in der ZDF-Mediathek anzuschauen. Aus heutiger Sicht kann man kaum glauben, wie dort ständig geraucht und Alkohol getrunken wurde. Das war natürlich nicht gesund. Aber eines hatten sie uns Heutigen voraus: Sie lebten vielleicht nicht gesünder, aber ihre Lebenseinstellung war lustvoller. Und das wiederum hat auch etwas mit Lebensqualität zu tun.

Denn: Lust ist ein wichtiges Lebenselexier. Wer nur noch Über-Ich-gesteuert (wie Psychoanalytiker sagen würden) vollkommen diszipliniert und damit im Ergebnis lustfeindlich lebt, der beraubt sich nicht nur der Freude am Leben, sondern auch eines wichtigen Lebenselexiers. Denn lustvolle Erlebnisse sind es, die uns Energie und Lebenskraft geben. Letztendlich schadet man sich also mit einem lustfeindlichen, nur noch „gesunden“ Lebensstil. Und außerdem sollte man sich ein Wort des Schriftstellers Günter Grass zu Herzen nehmen: „Wer selbst nicht mehr genießt, wird ungenießbar“. So ist es! Prost!

Titelbild: RossHelen/shutterstock.com

Ähnliche Nachrichten