Horst D. Deckert

Wie viele Menschen leben in China und vor allem in Xinjiang?

Beim Diskussionen über das kommunistische China kommt immer wieder der vermutete Genozid an den Uiguren in der nordwestlichen Provinz Xinjiang zur Sprache. Eine Million Menschen sollen in Konzentrationslagern interniert sein, wo sie medizinisch erstklassig betreut werden, um für den illegalen Organhandel ausgeschlachtet werden zu können, so die Vorwürfe. Verteidiger der Position Pekings bezeichnen dies als reine Propaganda, die sich leicht widerlegen lässt. Verwiesen wird dann beispielsweise auf die 10 Millionen Menschen betragende Uigurenbevölkerung in Xinjiang, in Anbetracht derer es kaum vorstellbar sei, dass 10% der (vor allem erwachsenen Erwerbs-) Bevölkerung in KZs verschwunden sein soll. Das blöde dabei ist, dass es keine verlässlichen Zensuszahlen aus Xinjiang gibt. Quasi jede Stelle gibt andere Werte dafür an, wie viele Menschen überhaupt in der Region leben, so dass es sehr einfach wird, mal ein paar “Extremisten” für die Organernte von den Straßen zu holen. Es folgen Plausibilitäten, die sich leider allzu sehr zu einem System verdichten.

Gute Umvolkung, böse Umvolkung

Da ich nicht der erste bin, der sich mit den beiden Themen in kombinierter Weise auseinandersetzt, sah sich niemand geringeres als Chinas Deutsche Welle, die Global Times, dazu gezwungen, einen Meinungsbeitrag darüber zu veröffentlichen. Darin ging es um die „lächerlichen Versuche“, aus den neuen Zensusdaten des Landes einen Genozid an den Uiguren abzuleiten. Das sei natürlich alles Quatsch, da die Uigurenbevölkerung im letzten Jahrzehnt um 1,6 Millionen Köpfe zunahm und daher nicht einmal von einem „langsamen Genozid“ die Rede sein kann.

Ich bin mir nicht ganz sicher, auf was sich der langsame Genozid bezieht, aber es geht danach noch um die Masseneinwanderung von Han-Chinesen (Chinas Hauptethnie) nach Xingjiang. Die Zuwanderung ist so stark, dass in offiziellen Verlautbarungen nur noch von „Minderheiten“ gesprochen wird. Auf Deutsch heißt dieser Prozess heute „Umvolkung“ und Yascha Mounk würde es als „historisch einzigartiges Experiment“ bezeichnen, was die Regierung in Peking ab den 1950ern den Uiguren anzutun began, wie sich unter der Zwischenüberschrift „Sinisierung Xinjiangs“ bei Wikipedia nachlesen lässt:

Die kommunistische Regierung entsandte ab 1953 die Massenwellen von Han-Siedlern nach Xinjiang, um die Region zu sinisieren und unter Kontrolle zu behalten.

Deutschlands Leidmedien übrigens beteiligen sich ebenso fleißig an der Kritik an den Umvolkungsbemühungen der KP. Das neben den Infohäppchen bei Wikipedia erhellendste zum Thema aber findet sich bei der im Fahrwasser von Zeit Online fahrenden BPB, die sich auf dem kognitiven Dissonanzfest mitten auf der Tanzfläche herumtobt:

Xinjiangs Regierung versucht, durch Umsiedlungsprogramme die “Durchmischung” zwischen Minderheitengruppen und Han-Chinesen zu fördern. (Johannes Buckow am 10.6.2016)

Vermutlich von der anderen Gehirnhälfte, aber ebenfalls von der BPB stammen die folgenden Zitate:

  • Prof. Dr. phil. Thomas Niehr am 16.1.2017: „Wird beispielsweise im Zusammenhang mit den aktuellen Flüchtlingsbewegungen von einer Umvolkung oder einem Bevölkerungsaustausch gesprochen, so wird damit – auch wenn es vielen gar nicht bewusst sein mag – ein nationalsozialistischer Topos aktiviert.“
  • Jenny Stern am 6.6.2018: Dahinter steckt das Szenario einer drohenden “Überfremdung” und “Umvolkung”, wie sie in rechtsextremen, aber auch rechtspopulistischen Kreisen verbreitet wird. [..] Anhängerinnen und Anhänger immer wieder auf kulturelle Veränderungen in der Gesellschaft hin. Diese Idee baut auf einem rassistischen Verständnis der Welt auf, in der – vereinfacht gesagt – Menschen verschiedener Kulturen nicht miteinander vermischt werden sollen.
  • Pia Lamberty am 11.11.2020: Diese Verschwörungserzählung wird oft auch als “Der große Austausch” oder “Umvolkung” bezeichnet [..] Der Glaube an Verschwörungserzählungen ist kein Randphänomen, sondern weit verbreitet. Und das gilt nicht nur in Deutschland – sondern weltweit.

Wie immer, wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, dann zeigen mindestens drei Finger auf einen zurück. Imposant ist, dass es nur ein halbes Jahr gedauert hat. Man muss sich fast schon wundern, dass der Computer bei derartigen Widersprüchen nicht abstürzt. Einfacher jedenfalls könnten sie es den Verlautbarungsorganen der KP kaum machen. Schade, dass deren Propagandisten nicht darauf eingehen. (E-Mails an Niehr und die BPB sind raus. Mal sehen, ob sie antworten.)

Eine Million KZ-Insassen von wie vielen?

Zurück zum Thema mit der Fragestellung, ob es auf den Straßen von Urumqi auffallen müsste, wenn plötzlich eine kolportierte Million Uiguren fehlt. Bei der griffigen Zahl handelt es sich zweifelsohne um eine Spekulation, die mit Sicherheit öffentlichkeitsfreundlich gerundet wurde. Auf der anderen Seite steht die Macht des chinesischen Staates, dessen Talentepool sicherlich groß genug ist, um einige der weltbesten Erbsenzähler beschäftigen zu können.

Der letzter Zensus in China fand im Jahr 2020 statt, dessen wichtigsten Ergebnissen sogar ein eigener Eintrag bei Wikipedia gewidmet wurde. Dort steht die Bevölkerungsuhr für Xinjiang bei exakt 25.852.345 Einwohnern, darunter Uiguren, Han und wer sich sonst noch dauerhaft dorthin verirrt hat. Das Problem mit dieser Zahl ist, dass sie nicht die einzige ist und deutlich von anderen, teils auf Weiterführungen von alten Zensuszahlen basierenden Werten abweicht.

Im Jahr 2018 beispielsweise schätzte das Statistikamt der KP die Gesamtbevölkerung von Xinjiang auf 24,87 Millionen Menschen. Das war knapp eine Million Menschen weniger, wobei kaum anzunehmen ist, dass zusätzliche Million die KZ-Insassenschaft abbilden soll. Gleichzeitig ist auch eher unwahrscheinlich, dass in einem Land mit einer rasch alternden Bevölkerung und einer Menge anderer Orte mit erheblich besseren Lebensbedingungen verglichen mit Xinjiang täglich über 1.000 Menschen hin wandern. Auf diesen Wert kam zwar Deutschland in den Jahren 2015 und 2016, allerdings brauchte es dazu den Winkelzug über Afrika und massiver Werbung durch NGOs und andere Interessenten, um die „Massenwelle“ wie es Wikipedia bezeichnet, auslösen können.

Unfähige Zahlendreher oder politische?

Bleibt noch der Schätzwert selbst, der eventuell massiv daneben liegen könnte. Schaut man sich andere Bevölkerungstabellen an, die das Statistikamt anbietet, wie etwa diese zur Altersverteilung und von Eltern abhängigen Kindern, dann hatte Xinjiang im Jahr 2018 plötzlich nur noch 20,375 Millionen Einwohner. Für Gesamtchina fehlen im Vergleich zur ersten Tabelle ganze 250 Millionen Menschen, was ausschließt, dass hier womöglich die sich nur temporär an einem Ort aufhaltenden Wanderarbeiter abgezogen wurden. Da die Tabelle keine Legende enthält, kann ich nur spekulieren und würde vermuten, dass hier die Einzelhaushalte außen vor gelassen wurden. Es bleibt aber ein Fragezeichen hinter den Zahlen.

Wie das chinesische Konsulat in München auf seiner Webseite zeitgleich zum Global Times Dementi auf Englisch bekannt gab, kam es für die Fortführung der Zahlenreihen des 2010er Zensus tatsächlich zu „Abweichungen“ bei der Ermittlung der genauen Bevölkerungszahlen für Xinjiang:

The region’s permanent resident population from 2011 to 2019, after being revised by the National Bureau of Statistics, was 22.25 million persons, 22.53 million persons, 22.85 million persons, 23.25 million persons, 23.85 million persons, 24.28 million persons, 24.8 million persons, 25.2 million persons, 25.59 million persons, respectively.

Also alles halb so wild, der Praktikant hat sich beim Abtippen einfach nur in der Spalte vertan – oder so ähnlich. Bedenkt man das sonst so hoch gelobte Elitesystem des Landes mit dem abertausende Köpfe umfassenden Talentwettbewerb mit Hang zum analytisch-mathematischen, muss man sich schon fragen, was dort gesoffen wird. Vom Niveau her ist das kaum besser als das, was das in dieser Beziehung notorisch unzuverlässige Nigeria zu bieten hat.

In Nigeria jedoch verhindern vor allem politische Erwägungen und strukturelle Schwächen eine zuverlässige Erfassung der Bestandszahlen. Finanzderivaten nicht unähnlich werden Risikobewertungen für nigerianische Zensuszahlen erwogen, die eine Aussage darüber treffen sollen, ob der jeweilige Wert so stimmen könnte, oder ob er lediglich dem Abgreifen von Geld und Parlamentssitzen dient. Selbiges müsste auch in Rotchina geschehen, jedoch gibt es dort nur die KP und damit eine einzige Interessengemeinschaft und sie braucht die manipulierten Zahlen ganz offenbar.

Ebenso gemein ist Nigeria und Rotchina auch eine weiterhin wachsende Bevölkerung mit starker Binnenmigration. In Nigeria lässt sich dies in den wuchernden Slums um die Großstädte ablesen, in China mindestens in den Zensuszahlen für Xinjiang. Beides erleichtert die Manipulation, wobei im Fall von Xinjiang noch hinzu kommt, dass eine Million Menschen nicht allzu sehr auffallen, wenn jeden Monat über 1.000 Han-Chinesen hinzukommen, um dort ihr Glück zu suchen. Spätestens nach drei Jahren ist die Delle wieder ausgedengelt.

Abschließend noch ein letzter Abstecher auf Chinas Botschaftsseite für die Türkei. Da die Uiguren ein Turkvolk sind, sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern in dieser Hinsicht besonders wichtig. Als Faktum über die Provinz Xinjiang wird dort festgestellt, dass die Bevölkerungszahl der Provinz im März 2001 bei 16,53 Millionen Menschen lag. Für CGTN kamen sogar noch im Jahr 2020 „alle Minderheiten in Xinjiang“ zusammen auf lediglich 15 Millionen Köpfe. Laut dem offiziellen Wikipediaeintrag des Zensus des Jahres 2000 stand die „korrigierte“ Zahl bei 19,25 Millionen Menschen, während der Zensus von 2010 bei Wikipedia für das Jahr 2000 von 18,459 Millionen Xinjiangern ausging. Leider konnte ich kein statistisches Jahrbuch vor 2008 finden. Aber ich bin mir sicher, ich hätte dort noch einmal einen weiteren Phantasiewert für Xinjiangs Bevölkerung gefunden.

Viel vages, wenig gesichertes

Mehr als das Arbeiten mit Plausibilitäten bleibt dem Beobachter oftmals nicht Dickicht medialer Verzerrungen, in denen zu oft geheime Interessen unsichtbar als Magnet fungieren und das öffentliche Bewusstsein steuern. So ist es mit Sicherheit auch in diesem Fall, bei dem unabhängig vom Wahrheitsgehalt auf den ersten Blick schon sichtbar ist, dass maximal viel auf dem Spiel steht. Einen industriell organisierten Massenmord in Konzentrationslagern bekommt nicht jeder vorgeworfen, es ist wirklich die maximale Fallhöhe. So wichtig ist Xinjiang für jene, die den Vorwurf erheben und im Zweifel auch für jene, die ihn womöglich durchführen.

Hier die Ausgangslage in zusammengefasster Form mit allen als gesichert geltenden Informationen zum Thema:

  1. Ein nicht mehr steigerbarer, maximaler Vorwurf durch ideologische Feinde, während es weit weniger totalitäre Mittel zur Kontrolle von zivilen Unruhen gibt.
  2. Das Stiften von Unruhe bei einem strategischen Konkurrenten ist bekannt von den USA, von Russland, die beide neben einigen weiteren Ländern auch ein Interesse an einem innerlich zerrissenen Rotchina hätten.
  3. Ankläger mit einer massiven kognitiven Dissonanz in ihrer Argumentationskette.
  4. Das auffällige Verwischen jeglicher Möglichkeiten zur Nachprüfung der Vorwürfe über statistische Erhebungen.
  5. Das Ausmerzen der Falung Gong Bewegung als Vorbild.
  6. Schräge Uigurenpropaganda bei YouTube, das in China selbst gesperrt ist und immer wieder (leider emotionalisierende) Berichte von Betroffene, die der Außenwelt kryptisch von ihrem Schicksal berichten.
  7. Hypothetisch verdammt gute Einnahmen aus dem Betrieb der KZs mit einem Gewinn im Milliardenbereich.

Man muss sich in der Sache schon fragen, warum sich beide Seiten in einer derart undurchsichtigen Weise präsentieren. Letztlich lässt sich allerdings feststellen, dass Abweichler in China erheblich schärfere Sanktionen zu befürchten haben als im Westen. Entgegen der immer öfters brennenden medialen Scheiterhaufen gibt es weiterhin ein breites Meinungsspektrum, das sich lediglich selektiv nur noch dann Bahn brechen kann, wenn es gewissen Interessen dient. Das hat ein Gschmäckle der unerträglichen Sorte, ist aber noch immer wesentlich besser als das, was einem von Seiten der KP schlimmstenfalls droht, wenn man die falsche Meinung äußert.

Ist es möglich, dass es sich bei den KZ-Vorwürfen gegen die Partei um gezielte Propaganda handelt? Durchaus und es wäre schön, wenn es sich bei einer solchen Übertreibung um ein reines Phantasieprodukt aus der Abteilung für Horrorvorstellungen handeln würde. Das Problem bei alledem allerdings ist, dass der KP buchstäblich alles zugetraut werden muss. So auch der Betrieb von Konzentrationslagern für Zwangsarbeit und als Lager für frische Organe der höheren Parteikader. Einen solchen Vorwurf erhebt man nicht leichtens, immerhin endet er zwangsläufig mit dem Komplettverlust der persönlichen Reputation, falls es sich als Lüge entpuppt. Die Namen George W. Bush, sein General Colin Powell und Tony Blair kennt jeder und wir alle wissen, was von ihnen zu halten ist.

Wie wahrscheinlich ist der Uigurengenozid?

Der Dreh- und Angelpunkt in der Bewertung der Angelegenheit scheint mir tatsächlich in den Zensuszahlen verborgen zu liegen. Warum sind ausgerechnet die Zahlen aus der Uigurenprovinz so unzuverlässig, frage ich mich, und dann noch über einen so langen Zeitraum. Ein mächtiges Land mit derartigen Ambitionen, wie sie China pflegt, sollte doch in der Lage sein und umgehend umsteuern können. Im Zweifel wird die gesamte Behörde dicht gemacht und nebenan eine neue eröffnet, entsprechend gebildetes Personal gibt es in dem Land zuhauf, wenn man der Propaganda glaubt.

Nicht zuletzt ist es so, dass wollte die Partei eine genaue Bevölkerungszahl ermitteln, sie könnte diese Aufgabe dank ihres dystopischen Sozialkreditsystems mit einer einfachen Datenbankabfrage erledigen. Dies zu jedem Zeitpunkt und für jeden Zeitraum, und sie könnte dabei sogar feststellen, wer sich wie oft an welchem Ort in China aufhält, aus welchem Grund und wann er das letzte Mal einen Samenerguss hatte und sie einen Eisprung. Die Totalität des Systems gibt das her. (Wahrscheinlich kann die Partei das auch in Echtzeit für Chinesen überall auf der Welt herausfinden – und wer weiß, vielleicht sogar für uns alle.)

Als gesicherte Erkenntnis bezeichnen lässt sich der Genozid per KZ an den Uiguren nicht, plausibel aber ist er definitiv. Die Indizien sind vorhanden und ein Motiv seitens der Täter wäre ebenfalls da, wobei diese sogar über eine an vergleichbaren Gräueltaten reiche Geschichte verfügen. Der letzte in den 1960ern aktive Funktionärstäter liegt mit Sicherheit noch nicht mit Demenz im Pflegeheim, eine direkte Erblinie der Mentalität ist damit gegeben.

Müsste ich die Wahrscheinlichkeiten bestimmen, dann würde ich schätzen zu 10% schätzen, dass die Vorwürfe gänzlich fabriziert wurden. Auf weitere 15% entfallen für mich Übertreibungen, die weit jenseits dessen gehen, was auch in Guantanamo und Abu-Ghuraib getrieben wurde. Alles in allem deuten für mich aber 75% darauf hin, dass es genauso furchterregend dort ist, wie es von manchen beschrieben wird.

Quelle Titelbild

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