Den Beschäftigten insgesamt droht als Folge der niedrigen Tarifabschlüsse der führenden Gewerkschaften 2024 gegenüber 2023 ein spürbarer Reallohnverlust. Mit Sonderzahlungen wurden niedrigere sozialversicherungspflichtige Lohnerhöhungen ermöglicht. Es ist außerdem untragbar, Einkommenserhöhungen von erwerbstätigen Lohnabhängigen mit Verschlechterungen bei nicht erwerbstätigen Lohnabhängigen zu finanzieren. Gewerkschaften, die das tun, spalten die Lohnabhängigen und handeln unsolidarisch. Von Tobias Weissert.
Die diesjährige Tarifrunde begann im Kanzleramt. Im Juni 2022 schlug Olaf Scholz aufgrund der krisenhaften Wirtschaftssituation steuerfreie Einmalzahlungen durch die Arbeitgeber vor – als Ausgleich für die überall steigenden Kosten. Im Gegenzug sollten die Gewerkschaften auf einen Teil der Lohnsteigerungen verzichten. Die Wirtschaft begrüßte dies, aber selbst Ökonomen widersprachen. So sagte der Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratscher:
„Höhere Löhne sind der einzige nachhaltige Weg, wie Menschen mit geringem Einkommen dauerhaft höhere Preise für Energie und Lebensmittel verkraften können.“
Auch die Gewerkschaften haben die Scholz’sche Idee anfangs zurückgewiesen. Der Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, sagte: „Tarifverhandlungen werden nicht im Kanzleramt geführt. Über Ziele unserer Tarifpolitik entscheidet nicht die Politik, sondern die Tarifkommissionen und Gremien der IG Metall.“ (Die Zeit vom 2. Juni 2022) Frank Werneke erklärte für Ver.di: „Einmalzahlungen bringen nicht weiter.“ (Süddeutsche Zeitung vom 27. Juni 2022)
Kurz danach lud Olaf Scholz Unternehmerverbände und Gewerkschaften zur konzertierten Aktion. Dort wurde sein Plan weiterverfolgt und um Freistellung von Sozialversicherungsbeiträgen ergänzt, mit dem Ergebnis, dass der Bundestag Anfang November im Rahmen eines Entlastungspakets die Möglichkeit zu Sonderzahlungen beschloss. „Der Bund ist bereit, bei zusätzlichen Zahlungen der Unternehmen an ihre Beschäftigten einen Betrag bis zu 3.000 Euro von der Steuer und den Sozialversicherungsabgaben zu befreien.“ Diese Möglichkeit gilt bis Ende 2024.
Die Inflationsrate in Deutschland lag 2022 gegenüber dem Vorjahr bei 7,9 Prozent (Destatis, Pressemitteilung Nr. 022 vom 17. Januar 2023). Extrem gestiegen waren die Preise für Energie (34,7 Prozent) und Nahrungsmittel (13,4 Prozent). Da diese beiden Ausgaben Arbeitnehmerhaushalte mit unterdurchschnittlichem Einkommen stärker belasten, beträgt die Inflationsrate für diese Gruppe vermutlich mindestens 9 Prozent.
Auch 2023 bleibt die Inflationsrate hoch. Im April lag sie gegenüber dem Vorjahresmonat bei 7,2 Prozent. Experten erwarten im Jahr 2023 keinen grundlegenden Rückgang. Deswegen kann auch 2023 für unterdurchschnittlich verdienende Haushalte von Preissteigerungen in Höhe von 8 Prozent ausgegangen werden.
Gleichen die Tarifabschlüsse die Inflationsverluste aus?
Die großen Gewerkschaften haben in vollem Umfang die Sonderzahlungen in Anspruch genommen und sich mit relativ geringen tariflichen Lohnerhöhungen zufriedengegeben. Das sind die Ergebnisse:
- In der Chemieindustrie steigen die Löhne zum 1. Januar 2023 um 3,5 Prozent und ab 1. Januar 2024 nochmals um 3,5 Prozent.
- In der Metallindustrie steigen die Löhne ab Juni 2023 um 5,2 Prozent und ab Mai 2024 um 3,3 Prozent bei einer Laufzeit von 24 Monaten.
- Ver.di vereinbarte für 2023 eine Nullrunde. Ab 1. März 2024 steigen die Tabellenlöhne um einen Sockelbetrag von 200 Euro und darauf um 5,5 Prozent. Die Laufzeit des Tarifvertrags beträgt ebenfalls 24 Monate.
- Alle Vollzeitbeschäftigten, für die diese Tarifverträge gelten, erhalten 3.000 Euro als Sonderzahlungen.
Besonders negativ wirken sich die langen Laufzeiten aus. Berechnet man die tariflichen Lohnsteigerungen auf 24 Monate, ergeben sich bei der IG Chemie 3,5 Prozent, bei der IG Metall 3,6 Prozent und bei Ver.di 4,6 Prozent. Sollte die Inflationsrate 2023 nicht zurückgehen, sind auch für die tarifgebundenen Erwerbstätigen dieser Branchen Reallohnverluste um 4 Prozent zu erwarten.
Gesellschaftliche Folgen der Tarifabschlüsse
Die Gewerkschaften haben es nur mit Hilfe von Sonderzahlungen geschafft, die Inflation für ihre Mitglieder für das Jahr 2022 annähernd auszugleichen. Doch diese Methode bringt längerfristig Reallohnverluste für ihre Mitglieder und andere Arbeitnehmergruppen und schadet vor allem den Rentnerinnen und Rentnern stark.
„Nachhaltig“ ist eines der Lieblingsworte bei der Bewertung der Tarifabschlüsse durch die Beteiligten. Davon kann jedoch keine Rede sein.
Der Preis für die sozialversicherungsfreien Sonderzahlungen von 3.000 Euro sind Beitragsausfälle der Sozialversicherungen von 1.200 Euro pro Person, da Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge entfallen. Für den Einzelnen wirkt die Sonderzahlung als Lohnerhöhung. Für Industriekonzerne führt der Wegfall von Arbeitgeberbeiträgen zu höheren Profiten. Den Sozialversicherungen aber fehlen im Jahr 2023 bei 7,2 Millionen Beschäftigten der genannten drei Branchen dadurch 6,64 Milliarden Euro. Für die Rentenversicherung ergibt sich ein Ausfall von ca. 3,05 Milliarden Euro, den Krankenversicherungen fehlen 2,39 Milliarden Euro, der Pflegeversicherung 500 Millionen Euro und der Arbeitslosenversicherung 427 Millionen Euro. Der Staat verzichtet darüber hinaus auf Steuereinnahmen von ca. 3,6 Milliarden Euro.
Die Sonderzahlungen sollten hohe Lohnabschlüsse vermeiden. Sie sind eine Lohnsubvention des Staates und der Sozialversicherungen für die Unternehmer.
Folgen für andere Arbeitnehmer
Die Tarifabschlüsse der großen Gewerkschaften sind die höchsten aller Branchen und haben Richtungsfunktion. Die Abschlüsse aller anderen Branchen, seien sie tarifgebunden oder nicht, liegen darunter. Die Unternehmer in diesen Bereichen werden die niedrigen tariflichen Abschlüsse der großen Gewerkschaften dazu nutzen, um die Löhne zu drücken. Auch sie werden die Möglichkeit von Sonderzahlungen nutzen, um lineare Lohnerhöhungen zu vermeiden, aber keineswegs im vollen Umfang von 3.000 Euro. Dadurch gibt es weitere erhebliche Ausfälle bei den Sozialversicherungen und den Finanzämtern. Es ist skandalös, dass Tarifverträge abgeschlossen werden, die große Löcher in die Einnahmen der Sozialversicherungen reißen, obwohl deren Krise bekannt ist. Stellt man alle Sonderzahlungen und die dadurch ermöglichten niedrigeren sozialversicherungspflichtigen Lohnerhöhungen in Rechnung, handelt es sich um Ausfälle im zweistelligen Milliardenbereich.
Den Beschäftigten insgesamt droht als Folge der niedrigen Tarifabschlüsse der führenden Gewerkschaften 2024 gegenüber 2023 ein spürbarer Reallohnverlust. „Nach einer Inflationsrate von acht Prozent 2022, sechs Prozent 2023 und drei Prozent 2024 werden die Löhne im Öffentlichen Dienst am Ende zirka sechs Prozent weniger Kaufkraft haben, sagte der DIW-Präsident Marcel Fratscher der Augsburger Zeitung“, wie Medien berichten. Der Reallohnverlust 2022 betrug laut „Destatis“ schon 4,1 Prozent gegenüber 2021. Im Zeitraum von 2022 bis 2024 beträgt der Reallohnverlust dann schon vorsichtig geschätzt 10 Prozent. Nach unserer Rechnung ist der Verlust deutlich höher, denn die Prognose von Fratscher berücksichtigt weder die höhere Inflationsrate von Arbeitnehmerhaushalten mittlerer und unterer Einkommen noch die Folgen für die Sozialversicherungen. Wenn nämlich die Löcher der Sozialversicherungen mit höheren Beiträgen bzw. der Kürzung von Leistungen gestopft werden, kommen weitere Reallohnsenkungen dazu.
Auch für den Mindestlohn haben die niedrigen tariflichen Abschlüsse unmittelbare Folgen, denn die Mindestlohnkommission orientiert sich an der Entwicklung der Tariflöhne.
Die schlimmsten Folgen ergeben sich für die Renten
Die wichtigste Größe für die Erhöhung der Renten sind die Durchschnittslöhne aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten des Vorjahres. Sonderzahlungen spielen bei Durchschnittslöhnen keine Rolle, nur die durch sie ermöglichten niedrigen Lohnabschlüsse. Das hat erhebliche Auswirkungen. Die durchschnittliche Rentenanpassung (Gesamtdeutschland) von 5,5 Prozent ab Juli 2022 betrug auf das Jahr gerechnet 2,75 Prozent. Bei einer Jahresinflation von 9 Prozent beträgt 2022 der Kaufkraftverlust 6,25 Prozent.
Im Juli 2023 werden die Renten vermutlich um 4,6 Prozent (Gesamtdeutschland) erhöht. Auf das ganze Jahr verteilt sind das 2,3 Prozent monatlich mehr Geld. Bei einer Teuerung von 8 Prozent bedeutet das erneut einen Kaufkraftverlust um diesmal 5,7 Prozent. Dank der minimalen Tariflohnerhöhungen könnte die Rentenanpassung 2024 weit unter 3 Prozent liegen. Dadurch sind weitere Verluste der Kaufkraft zu erwarten. Da die Durchschnittsrente der Rentenbezieher wegen Alters gegenwärtig 1.050 Euro monatlich ist, könnten die zu erwartenden Verluste Ende 2024 im Durchschnitt 130 Euro monatlich betragen. Die Zahl der Rentnerinnen und Rentner, die in Armut leben, wird weiter deutlich zunehmen.
Die milliardenschweren Ausfälle von Sozialversicherungs- und Steuereinnahmen vergrößern ferner den Druck auf Krankenhausschließungen, verschlechtern die Versorgung von pflegebedürftigen Menschen und die Leistungen der Arbeitslosenversicherung.
Fazit
Es ist untragbar, Einkommenserhöhungen von erwerbstätigen Lohnabhängigen mit Verschlechterungen bei nicht oder nicht mehr erwerbstätigen Lohnabhängigen zu finanzieren. Gewerkschaften, die das tun, spalten die Lohnabhängigen und handeln unsolidarisch.
Die großen Gewerkschaften haben sich dadurch als Interessenvertreter aller Lohnabhängigen disqualifiziert, aber auch dadurch, dass die Sonderzahlungen in voller Höhe von 3.000 Euro nur für ihre tarifgebundenen Branchen und Unternehmen gelten, während andere Arbeitnehmergruppen mit geringerer Durchsetzungsfähigkeit mit weit weniger abgespeist werden.
Indem sie den freiwilligen Bonuszahlungen außerhalb von Tarifen zustimmten, haben sie der Aushöhlung des Tarifsystems Vorschub geleistet. Die Arbeitgeber höhlen das Tarifsystem seit Langem aus. Ihr Grundinteresse ist, das System der Branchentarifverträge durch betriebliche Abmachungen und Einzelverträge zu ersetzen. Auf diesem Weg haben sie schon große Erfolge errungen. In den alten Bundesländern ging die Tarifbindung seit 1998 um 22 Prozent zurück und in den neuen um 18 Prozent. In den alten Bundesländern fallen noch 45 Prozent der Beschäftigten unter einen Branchentarifvertrag und 9 Prozent haben Firmentarifverträge. In den neuen Bundesländern unterliegen nur noch 34 Prozent der Beschäftigten einem Branchentarifvertrag, während 11 Prozent einem Firmentarifvertrag angehören, so Destatis.
Die diesjährige Tarifrunde, die unter der Bedingung der schweren Inflation ganz besondere Bedeutung hätte haben müssen, hat das tarifliche Lohnsystem weiter geschwächt, denn die Gewerkschaften haben es versäumt, entschlossen dafür zu kämpfen, die Tariflöhne auf das erforderliche Niveau anzuheben, und sie haben für außertarifliche Sonderzahlungen auf höhere, länger wirkende Tariflöhne verzichtet. Sie haben damit hohe Reallohnverluste akzeptiert.
Sie haben in der konzertierten Aktion mit Regierung und Unternehmerschaft geklüngelt und sich deren „Staatsraison“ unterworfen. Dabei haben sie auch das Recht auf selbstständige Tarifpolitik mit den Mitteln des Arbeitskampfes verkauft.
Sie haben die Unternehmer in unzulässiger Weise geschont, denn die Europäische Zentralbank berichtet, dass die hohen Unternehmensgewinne die Inflation stärker getrieben haben als gedacht, wie Medien berichten:
„Die Auswirkungen der Unternehmensgewinne auf den Preisdruck sind aus historischer Sicht außergewöhnlich.“
Die FAZ schreibt am 26.12.2022:
„Die 99 umsatzstärksten Unternehmen ohne Uniper konnten ihre Ebit-Margen auf gut 9 Prozent halten und erzielten mit 145 Milliarden Euro Rekordgewinne, ein Plus von 22 Prozent zum Vorjahr.“
Seit wann ist es eine Aufgabe von Gewerkschaften, auf riesige Profitsteigerungen Rücksicht zu nehmen?
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