Für den letzten Dienstag hatte der spanische Regierungschef Pedro Sánchez eine „Debatte zur Lage der Nation“ angesetzt. Sieben Jahre waren seit der letzten Debatte vergangen. Sie gehörte zu den Versuchen, die spanische Regierung aus der sozialistischen Partei PSOE und dem Linksbündnis Unidas Podemos (UP) aus ihrem Tief herauszuführen: krachende Niederlage bei den wichtigen regionalen Wahlen in Andalusien.
Umfragen im freien Fall, Medienjubel um den neuen Chef der Rechtspartei PP Alberto Núñez Feijóo, zunehmende Verstimmung des linken Koalitionspartners UP wegen eigenmächtiger Entscheidungen von Pedro Sánchez wie Erhöhung des Militäretats, Anerkennung der Westsahara, ehemalige spanische Kolonie, als marokkanisches Hoheitsgebiet (entgegen UNO-Resolution), Erweiterung der US-Militärbase in Rota usw. Das Tüpfelchen auf dem „i“ war dann das Projekt von Yolanda Díaz, Vizepräsidentin der Regierung, bei den nächsten Wahlen als Kandidatin einer neuen linken Sammelbewegung mit dem Namen „Sumar“ (Summieren) gegen die Sozialisten anzutreten. Bei deren Gründungsversammlung letzte Woche hatte sie die Regierung von Pedro Sánchez (der sie selbst angehört) als „seelenlos“ bezeichnet.
In seiner Eröffnungsrede zur Lage der Nation trat jetzt ein kaum noch wiederzuerkennender Pedro Sánchez auf: Mit Herz, Leidenschaft und Sympathie versprach er „seine Haut“ für die „arbeitende Mittelklasse“ des Landes zu geben und zu verhindern, dass diese für die Folgen der Krise bezahlt. Er verkündete ein ganzes Paket von Maßnahmen: Kostenloser ÖPNV für Bedürftige, Erhöhung der Stipendien für arme Studenten und die Krönung: eine auf zwei Jahre befristete Zusatzsteuer nach dem „Modell Draghi“ für Banken und den Energiesektor, um die Maßnahmen zu finanzieren. Eine gelungene Inszenierung: seit längerer Zeit wieder geschlossener Applaus aller die Minderheitsregierung stützenden Parteien.
Die rechte Oppositionspartei PP, die sich bereits für die Ablösung der Regierung rüstet, litt an einem Handicap: Ihr Führer Feijóo, den die Leitmedien bereits als zukünftigen Regierungschef feiern, hat selbst keinen Sitz als Abgeordneter im Kongress und damit kein Rederecht. Er konnte der Debatte nur als Gast aus dem Abseits folgen. Der Vorsitzenden der PP-Fraktion im Parlament, Cuca Gamarra, fiel wiederum nicht viel mehr ein, als eine Gedenkminute für die Opfer der vor vier Jahren aufgelösten baskischen Untergrundorganisation ETA zu fordern, an der sich alle Parteien, die aus der ETA hervorgegangene Partei EH Bildu eingeschlossen, beteiligten.
Die Mehrheit der spanischen Medien rief bereits am Tag darauf zum Vernichtungskrieg gegen die Regierung auf. Im Folgenden ein Beispiel, ein Kommentar von Ramón Pérez Maura in der digitalen Zeitung „El Debate“, die sich stolz als Erbin einer 1910 gegründeten katholischen Zeitung gleichen Namens versteht. Titel des Kommentars: „Die Würdelosigkeit von Sánchez“.
„Die Rede des Präsidenten in der Debatte zur Lage der Nation war eine der würdelosesten, die ich je gehört habe. Aber das Traurigste war, dass es wahrscheinlich ziemlich viele seiner Stammwähler gibt, die mit seinen Worten zufrieden sind. Allerdings gibt es weitaus objektivere Daten als die Reaktion seiner Getreuen, wie z.B. die gestrige Reaktion der Madrider Börse auf die Rede des Premierministers: ein totaler Zusammenbruch, ausgelöst durch seine Ankündigung einer radikalen Steuererhöhung auf Strom und Banken, die gestern in den Minuten nach der Ankündigung den (Börsenindex) Ibex auf Verluste von sechs Milliarden fallen ließ. Dieser Typ ist ein Genie. Und später wird er sagen, er habe einen Rettungsplan für die spanische Wirtschaft.
Jemand sollte Sánchez erklären, dass die Banker, die er sich mit einer Zigarre im Mund vorstellt, die verabscheuungswürdigen Leute, denen er gestern ankündigte, die Steuern zu erhöhen, in Wirklichkeit Millionen von Spaniern sind, Aktionäre der Banken und Stromversorger. Menschen, die ihre Rente mit den Dividenden der Unternehmen aufbessern, die Sánchez gestern zermalmen wollte. Sie werden also einen erheblichen Teil der ihnen zustehenden Dividenden verlieren. Derart werden diejenigen beraubt, die ihre Ersparnisse in völlig legitime Unternehmen investiert haben, die – noch wichtiger – für das Überleben und den Wohlstand eines Landes unverzichtbar sind.
Aber Sánchez geht noch weiter: Die Investmentfonds, in die Pensionsfonds in aller Welt investieren, investieren auch in diese großen Unternehmen, weil ihre Unternehmensführung in der Regel transparent ist und Probleme rechtzeitig erkannt werden können. Es bleibt abzuwarten, mit welcher Miene Sánchez damit prahlen wird, was er den Banken und Elektrizitätsunternehmen abgenommen hat, wenn diese Pensionsfonds Probleme haben, den Rentnern das zu zahlen, was sie ihnen versprochen haben.
Natürlich war die erste Reaktion der Elektrizitätsunternehmen gestern weit weniger harsch, weil ihre Aktionäre vermutlich Sánchez nicht glauben. Kann man einem Präsidenten glauben, dessen Lebenslauf als Schwindler in den westlichen Demokratien beispiellos ist? (…)
Aber die größte Würdelosigkeit der Debatte war nicht dies, was schon schlimm genug ist. Das Schlimmste war, der Partei PP zu sagen, sie habe versucht, vom Terrorismus zu profitieren. Der Präsident, der mit der Unterstützung der ETA-Terroristen regiert und der mit der Unterstützung der Nachfolger der Mörder an einem antidemokratischen Gesetz der historischen Erinnerung arbeitet. Die Unverfrorenheit, dem PP zu unterstellen, er habe die Attentate des 11. März 2004 ausgenutzt, wo wir doch alle wissen, wie das Ergebnis der darauffolgenden Wahlen ausfiel und, was noch wichtiger ist, dass die amtierende Regierung Aznar die Täter der Barbarei von Atocha festgenommen und aufgeklärt hat, ist an Unanständigkeit kaum zu überbieten. Der einzige, der die Toten benutzt, ist Sánchez (…) (Bemerkung des Autors: Aznar hatte längere Zeit die von Islamisten wegen der Beteiligung seiner Regierung am völkerrechtswidrigen Irakkrieg begangenen Attentate ETA zugeschoben, um seine Wiederwahl zu retten. Erfolglos.)
Sánchez könnte seine Empathie mit den Opfern unter Beweis stellen, indem er eine Woche, nur eine Woche, in einem Kerker wie dem von Ortega Lara (Gefangener der ETA im Jahr 1996) verbringt und ihnen dann sagt, wie sich das anfühlt. Nein, ich ziehe den Vorschlag zurück. Vade retro, Satana (Weiche Satan!).“
Das ist nur ein Beispiel. Eine Fülle von spanischen Medien schlagen den gleichen Ton an. Heinrich Heine würde sagen: „Denk ich an die spanische Demokratie in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“