Horst D. Deckert

Der unterschätzte Kältetod

Vielleicht weil es gut zur Klimapolitik passt, wird im Sommer viel über Hitzetote geredet. Vielleicht weil es zum drastischen Energiesparen nicht passt, will im Winter niemand über die viel bedrohlichere Kälte sprechen.

von Wolfgang Meins

In Bezug auf das temperaturbedingte vorzeitige Ableben gilt: Nicht die Wärme ist der Bösewicht, sondern die Kälte. Je nach untersuchten Ländern und verschiedenen Klimazonen kommt ein kältebedingter Tod sehr viel häufiger vor als ein wärmebedingter. Da ist die Forschungslage ausgesprochen einheitlich. Das gilt allerdings nicht im selben Maße auch für das Ausmaß der Unterschiede. So zeigt eine umfassende Lancet-Studie aus dem Jahr 2021, dass der kältebedingte Tod zum Beispiel global 9,4-mal, in Europa 3,7-mal, in Nordafrika 16,4-mal und in Subsahara-Afrika gar 59,3-mal häufiger vorkommt.

Eine Studie aus dem letzten Jahr demonstrierte dagegen für England und Wales ein sage und schreibe 78-mal höheres Risiko für einen kältebedingten Tod, was nicht wirklich gut zu den eben genannten Resultaten passt. Offensichtlich hängen die Ergebnisse auch stark von der (sehr komplexen) Forschungsmethodik, der Datenqualität und, böser Verdacht, vielleicht auch der politischen Grundhaltung ab. Wie dem auch sei: Ganz offensichtlich vermag der Mensch sich besser an Wärme anzupassen als an Kälte. Was wiederum kein Zufall ist, stand die Wiege der Menschheit doch in Ostafrika – und nicht am Polarkreis.

Obwohl es im internationalen Schrifttum mittlerweile zahlreiche fundierte Belege für die vorrangig von Kälte ausgehende gesundheitliche Gefährdung gibt, dringen diese, zumindest in Deutschland, kaum noch in die medizinische Diskussion ein, von der politmedialen ganz zu schweigen. Stattdessen geht es dort beim Problem der  temperaturabhängigen Todesfälle nur um die sogenannten Hitzetoten, meist in Verbindung mit dem dringenden Ruf nach Hitzeaktionsplänen. Kältetote geraten in dieser ideologisierten Welt allenfalls in Gestalt von erfrorenen Obdachlosen ins Blickfeld. Aber die spielen zahlenmäßig keine nennenswerte Rolle. Das Erfrieren ist letztlich eine (noch?) vergleichsweise selten vorkommende kältebedingte Todesart, die zudem häufig durch übermäßigen Alkoholkonsum getriggert ist.

So tötet Kälte

Wesentlich bedeutsamer sind bestimmte ungünstige Auswirkungen von Kälte auf den Körper beziehungsweise bestimmte Organsysteme. Kälte macht empfänglicher für virale und als Folge davon oft auch bakterielle Erkrankungen der oberen und unteren Atemwege, verschlimmert Asthmaerkrankungen, erhöht den Blutdruck und die Neigung zur Thrombenbildung, also zur „Verklumpung“ des Blutes. Im Gefolge davon steigt das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Deshalb kann es nicht verwundern, dass konstant über die Jahrzehnte auch in Deutschland die Sterblichkeit in den Wintermonaten deutlich am höchsten ausfällt. Die Opfer dieser kältebedingten Übersterblichkeit werden im Folgenden vereinfachend als „Kältetote“ bezeichnet.

Nach einer US-Studie aus dem Jahr 2007 sind 0,8 Prozent aller Todesfälle dort kältebedingt – und damit häufiger als die Summe der Todesfälle infolge von Leukämie, Mord und chronischen Lebererkrankungen. Unter den Kältetoten finden sich vor allem Personen über 75 Jahre, darunter zwei Drittel Frauen, warum auch immer. In Gegenden mit niedrigem Einkommen überwogen unter den Kältetoten dagegen Männer, Säuglinge und Kleinkinder. Im Gegensatz zu den wärmebedingten Todesfällen, deren Häufigkeit nach Abklingen einer Hitzeperiode sehr rasch rückläufig ist, hält eine Welle kältebedingter Übersterblichkeit auch noch Wochen nach erfolgter Temperaturnormalisierung an.

Die Kältetoten in Europa

Nach aktuellen Berechnungen des Economist fiel in „Europa“ – das heißt 27 EU-Staaten, außer Malta, plus Großbritannien, Norwegen und der Schweiz – von 2000 bis 2019 die temperaturbedingte Übersterblichkeit während der Monate Dezember bis Februar jeweils deutlich höher aus als die von Juni bis August. Im Mittel starben während dieses 20-jährigen Zeitraums in den drei Wintermonaten pro Woche 21 Prozent mehr Menschen als während der drei Sommermonate. In absoluten Zahlen waren das in einem „milden“ Winter insgesamt 32.000 Extratote beziehungsweise Kältetote, in einem „harten“ Winter 335.000.

Im Mittel führt eine Abweichung von der langjährigen winterlichen Durchschnittstemperatur von minus 1 Grad in Europa zu 1,2 Prozent mehr Toten und in Deutschland zu knapp 2 Prozent mehr Toten. Im Hinblick auf die Ergebnisse in den einzelnen Ländern gilt es zu berücksichtigen, dass der Unterschied zwischen Wärme- und Kältesterblichkeit in wärmeren Ländern deutlich stärker ausgeprägt ist. Der wesentliche Grund dafür sind die in den kühleren Ländern besseren Heizungsmöglichkeiten und Isolationen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sowohl in den warmen als auch den kalten Ländern – etwa Portugal gegenüber Finnland – die Kälte jeweils deutlich mehr Todesopfer fordert.

Wie wirken sich die gestiegenen Energiepreise aus?

Was läge angesichts dieser eindeutigen medizinischen Datenlage also näher als der Frage nachzugehen, ob, und wenn ja, wie viele zusätzliche Kältetote in diesem Winter infolge der gestiegenen Energiepreise beziehungsweise deren Auswirkungen auf das praktische Leben – vor allem durch niedrigere Wohnungstemperaturen – zu erwarten sind? Eigentlich wäre das die Aufgabe des Umweltbundesamtes (UBA) oder auch der anderen einschlägigen epidemiologischen Forschungseinrichtungen. Aber auf deren Ergebnisse kann man lange warten. Dabei wäre das UBA – das sich ansonsten zu jeder noch so abseitigen Thematik ausführlich äußert – geradezu in der Pflicht, zu diesem Thema sowohl die Fachdiskussion zu befördern als auch den politisch Verantwortlichen die Konsequenzen ihrer Energiepolitik im Hinblick auf die Volksgesundheit aufzuzeigen.

Diese Forschungsleerstelle hat nun das angesehene britische Wirtschaftsmagazin The Economist zumindest teilweise ausgefüllt. Im Heft vom 26. November wird eine eigene Studie zu der Frage vorgestellt, wie sich der Anstieg der Energiepreise in diesem Winter auf die Sterblichkeit in den oben genannten europäischen Staaten auswirken wird. Als Korrelat für die Energiepreise wird der Strompreis verwendet, was angesichts der engen Verknüpfung der Preise von Elektrizität, Gas und anderen Brennstoffen auch durchaus angemessen erscheint. Diese methodisch überzeugende Studie des Economist hat bei deutschen Medien – von einer Ausnahme abgesehen – bisher keine Resonanz gefunden. Und das, obwohl – oder weil? – die Ergebnisse ausgesprochen besorgniserregend sind.

Im Zeitraum von 2000 bis 2019 hatten die vergleichsweise niedrigen und nur wenig schwankenden Energiepreise jeweils nur einen geringen Effekt auf die Anzahl der Kältetoten. Ein Preisanstieg von 10 Prozent allerdings, so die Berechnungen des Economist, führt bereits zu einem Anstieg der Kältetoten um 0,6 Prozent, abgeschwächt oder auch verstärkt durch besonders milde oder kalte Temperaturen. Aufgrund der diesjährigen starken Verteuerung von Energie, so die Hypothese der Economist-Autoren, ist folglich davon auszugehen, dass die Energieknappheit beziehungsweise der Preisanstieg die winterbedingte Übersterblichkeit deutlich in die Höhe treiben wird.

Diese Faktoren spielen eine Rolle

Die Autoren „bauten“ und prüften also ein statistisches Modell, in das sie – neben dem Strompreis für jedes Land – die Faktoren einschlossen, von denen bekannt ist, dass sie einen Einfluss auf die Anzahl der Kältetoten haben. An erster Stelle stehen dabei natürlich die kommenden Wintertemperaturen von „mild“ über „durchschnittlich“ bis „hart“ – basierend auf dem Temperaturspektrum von 2000 bis 2019. Außerdem wurden in das Modell noch eingeschlossen der Schweregrad der (noch nicht beendeten) Grippesaison – unterstellt wurde eine „normale“ Saison – und die relevanten demographischen Charakteristika der einzelnen Länder.

Nicht in die statistische Analyse einbezogen werden konnte das Problem, wie sich Covid-19 auf die zu erwartende Übersterblichkeit in diesem Winter auswirken wird. Dabei könnte, so die Autoren, Covid-19 durchaus auch zu einer Verminderung der winterlichen Übersterblichkeit beitragen, da das Virus in den beiden vorangegangenen Wintern bereits viele alte und gebrechliche Menschen dahingerafft hat. Entlastungen der Bürger in Form von staatlich festgesetzten Obergrenzen für Strompreise wurden bei der Analyse berücksichtigt, nicht jedoch direkte Geldtransfermaßnahmen wie in Deutschland.

Deutschland geht voran

Unter der Annahme von Elektrizitätspreisen, die in etwa auf dem jetzigen Niveau verharren, würden in einem durchschnittlichen Winter in Europa 147.000 (+4,8 Prozent) mehr Menschen sterben, als es dem langjährigen Mittel von 2000 bis 2019 entspricht. Ein milder Winter würde zu 79.000 (+2,7 Prozent), ein harter zu 185.000 (+6,0 Prozent) zusätzlichen Toten führen. Deutschland gehört dabei zu den stärker betroffenen Ländern. Hier wäre bei einem „harten“ Winter mit etwa 42.000 (ca. +18 Prozent) zusätzlichen Toten zu rechnen, das heißt, etwa 14.000 Menschen würden dann in jedem der drei Wintermonate zusätzlich sterben, weil die Energie zu knapp und zu teuer ist.

Der Economist führt die gestiegenen Energiepreise zu einseitig, wie ich finde, auf den durch Putin vom Zaun gebrochenen Ukrainekrieg zurück. Schließlich setzte der Preisanstieg doch bereits 2021 mit dem Anspringen der Konjunktur nach dem Corona-Einbruch ein. Die gestiegene Nachfrage traf dabei auf eine bereits seit Jahren gewollte und teils auch bereits erreichte Verknappung und Verteuerung fossiler Energien. Zudem liegt Russlands Invasion nun fast schon ein Jahr zurück. Und mit jedem weiteren Tag wächst die Verantwortung (auch) der deutschen Regierung, wirksame Maßnahmen gegen die aktuelle und zukünftige Energieknappheit rasch und energisch auf den Weg zu bringen. Wummse und Doppelwummse werden das Problem auf Dauer jedenfalls nicht lösen können.

Aber die Ampelkoalition gefällt sich darin, dauerhaft teures LNG in notgedrungen zu geringen Dosen einzukaufen, weiter an der Mär von der künftigen Rundum-Versorgung mit den „Erneuerbaren“ zu spinnen, das baldige und dann wohl endgültige Aus der Atomkraft zu besingen und gleichzeitig eigene ergiebige Gaslagerstätten nicht erschließen zu wollen. Obwohl diese geeignet wären, den hiesigen Energiemangel innerhalb eines Jahres nachhaltig zu beheben – wenn man denn wirklich wollte.

Über den Autor

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.

Der Beitrag erschien zuerst bei ACHGUT hier

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