Am 24. Januar wurde die bekannte „Weltuntergangsuhr“ um 10 Sekunden nach vorne gerückt. Demnach sind es nun 90 Sekunden, also genau anderthalb Minuten vor zwölf! Für mindestens 99 Prozent der Zeitgenossen kein Grund zur Beunruhigung. Von Leo Ensel
Lesen Sie dazu bitte auch: Jens Berger – Es ist 90 Sekunden vor Mitternacht – wer noch bei Verstand ist, sollte jetzt aufwachen
Das amerikanische Wissenschaftsmagazin „Bulletin of the Atomic Scientists“ hat am 24. Januar – wie es der Zufall wollte, genau elf Monate seit Beginn der russischen „Spezialoperation“ gegen die Ukraine und am selben Tag, an dem abends die Zustimmung des deutschen Kanzlers zur Lieferung von „Leopard 2“-Kampfpanzern an die Ukraine duchsickerte – die Zeiger der symbolischen ‚Weltuntergangsuhr‘, die die Gefährdung der Menschheit, ja: des Planeten signalisiert, von 100 Sekunden auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgerückt. Dies ist der dramatischste Wert seit Einführung der sogenannten ‚Doomsday Clock‘ im Jahre 1947 überhaupt. Zur Erinnerung: Selbst im Jahr der Kubakrise, 1962, lag der Wert bei ‚nur‘ sieben Minuten vor zwölf und sogar Mitte der Achtziger Jahre, als Europa sich bei kürzesten Vorwarnzeiten vollgestopft mit atomaren Mittel- und Kurzstreckenraketen sah, war die Frist mit drei Minuten noch doppelt so lang wie jetzt!
Glückliche Zeiten, als es, wie im Jahre 2012, ‚nur‘ fünf vor zwölf war! Idyllische Zeiten, als 1991 nach dem – vor allem der Politik der damaligen Sowjetadministration um Michail Gorbatschow zu verdankenden – Ende des ersten Kalten Krieges die Uhr auf ganze siebzehn Minuten vor zwölf zurückgestellt werden konnte! Der ‚entspannteste‘ Wert seit Einführung der Doomsday Clock überhaupt.
„Die Menschheit lebt in einer noch nie dagewesenen Gefahr!“
Nach Rachel Bronson, Geschäftsführerin des „Bulletin of the Atomic Scientists“, seien die Experten der festen Überzeugung, dass die Menschheit derzeit in einer „noch nie dagewesenen Gefahr“ lebe. „Russlands kaum verhüllte Drohungen, Atomwaffen einzusetzen, erinnern die Welt daran, dass eine Eskalation des Konflikts – durch einen Unfall, durch Absicht oder Fehlkalkulation – ein fürchterliches Risiko darstellt.“ Es gebe ein hohes Risiko, dass der Konflikt außer Kontrolle gerate und es sei nicht auszuschließen, dass Präsident Putin im Falle einer sich abzeichnenden Niederlage in der Ukraine als „verzweifelten letzten Versuch“ Atomwaffen einsetze, auch wenn diese keinen militärischen Zweck mehr erfüllen würden. Bei den Kämpfen um die Atomanlagen von Tschernobyl und Saporischschja werde zudem die Freisetzung von radioaktivem Material riskiert. Infolge einer „frenetischen Suche“ nach neuen Erdgasquellen seien auch die Treibhausgas-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe im vergangenen Jahr auf einen neuen Rekordwert geklettert, was die CO₂-Konzentration in der Atmosphäre weiter steigen lasse. – Soweit die Kernargumentation des Wissenschafts- und Sicherheitsgremiums, die sich – zumindest, was die Schuldzuweisung für den Ukrainekrieg angeht – zufälligerweise zu hundert Prozent mit der Position von USA und NATO deckt.
Die dramatische Einschätzung der Lage hielt zudem mehrere Kommissionsmitglieder nicht von atemberaubenden Harakiri-Konsequenzen ab: Gerade bezogen auf die langfristigen Risiken eines Atomkrieges und nuklearer Proliferation, so Professor Steve Fetter von der University of Maryland – und man traut seinen Augen nicht –, seien US-Waffenlieferungen an die Ukraine essenziell, damit diese einer russischen Invasion widerstehen und die Streitkräfte zurückdrängen könne. „Daher sollten wir alles, was in unseren Möglichkeiten steht, tun, um die Ukraine darin zu unterstützen!“ Und der ehemalige Präsident und Premierminister der Mongolei, Elbegdorj Tsakhia, legte noch einen drauf: Da die Ukraine nichts weniger als das „globale Streben nach Freiheit“ verteidige, müsse der Westen – der Zeitpunkt war gut gewählt – der Ukraine auch mehr Panzer zur Verfügung stellen.
„Nur Mut“
Man muss die bemerkenswert einseitige Schuldzuweisung der Wissenschaftler und ihre zum Teil hasardeurmäßigen Empfehlungen, noch mehr Benzin ins Feuer zu schütten, allerdings nicht teilen, um zu konstatieren, dass mit dem Ukrainekrieg, von dem gegenwärtig weder ein Ende noch die höchste Eskalationsstufe abzusehen ist, im Kontext anderer Krisen ein neues Niveau der Bedrohung für den gesamten Planeten erreicht ist. Immerhin hat, das spricht sich langsam herum, dieser militärische Konflikt im Zentrum Europas das Potenzial zu einem Dritten Weltkrieg!
Waren vor drei Jahren, als die Zeiger von zwei Minuten auf 100 Sekunden vor Mitternacht vorgerückt wurden, die Abwiegler in den Leitmedien noch Legion – multiple Wahnvorstellungen wurden bemüht, den Autoren die wissenschaftliche Qualifikation abgesprochen – so blieb dieses Mal die Reaktion merkwürdig verhalten. Die meisten Medien berichteten kurz über das ‚Event‘ – das heißt, sie übernahmen den betreffenden Bericht der Nachrichtenagenturen – und verzichteten auf einen eigenen Kommentar. (Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete die Süddeutsche Zeitung, die unter der trotzigen Überschrift „Nur Mut“ mehr ‚Resilienz‘ einforderte – ganz so, als handele es sich hier um die neueste Mutation eines Grippevirus.)
Wie aber sieht die Reaktion von uns Bürgern, den prospektiven Opfern dieser rasanten Fahrt in den Abgrund aus?
Halten wir es uns nochmal illusionslos vor Augen: Nach Einschätzung des „Bulletin of the Atomic Scientists“ ist es nicht etwa fünf vor zwölf – ganze anderthalb Minuten trennen uns noch von der Totalkatastrophe!
So lesen wir es in den Zeitungen, so hören wir es im Radio, so lesen wir es im Internet.
Und wie reagieren wir darauf?
Wie wir eben auf Zeitungsmeldungen reagieren: Gar nicht.
Die dramatische Situation löst nicht nur keine Angst, keinen Schrecken – sie löst nur noch gähnende Langeweile aus!
Gefahren, die man nicht hört und sieht, die überdies seit Jahrzehnten anhalten und scheinbar immer noch nicht eingetreten sind, existieren eben – für die Psyche – de facto nicht.
Die ‚Wurschtigkeit‘
Der unvergessene 1986 verstorbene Wiener Kabarettist, Helmut Qualtinger hat diese Haltung der ‚Wurschtigkeit‘ bereits vor Jahrzehnten auf klassische Formulierungen gebracht, indem er seinen Herrn Karl in reinstem ‚Weanerisch‘ folgendes sagen ließ:
„… man interessiert si‘ nimmer so … Es lasst halt alles nach … zum Beispiel das Atomzeitalter … hab kan Kontakt mit der Atombomben. Es ist außerhalb meines Interessengebietes … Ich überlass des anderen Menschen … mi fragt ja niemand … bitte sollen sich die andern den Kopf zerbrechen. Wenn i mi zerstreuen will, brauch i ka Wasserstoffbomben … i geh spazieren in Überschwemmungsgebiet …“
In diesem genialen Text hat Qualtinger den Nagel auf den Kopf der Schwachköpfigen getroffen: Die Atomkriegsgefahr ist dadurch entschärft, nein: = Null, dass Herr Karl sich bescheidenerweise für sie „nicht interessiert“. Dadurch dass er außerdem über andere Mittel verfügt, um sich zu „zerstreuen“: „Wasserstoffbomben“ zu diesem Zweck also nicht „braucht“. Da er sich für sie nicht interessiert, kann er wohl von ihnen erwarten, dass sie sich fairerweise auch nicht für ihn interessieren werden. Durch diese magische Verwandlung der Wasserstoffbomben zu Mitbürgerinnen, mit denen er in keinerlei Beziehung steht, entschärft er sie ein für alle Male.
Herrn Karls – aber nicht etwa nur dessen – Prinzip lautet:
„Für wen ich mich nicht interessiere, der wird sich – soviel gegenseitige Rücksicht darf man von der Welt wohl noch erwarten – auch für mich nicht interessieren!“
Und da dies ja seit Jahrzehnten immer gut gegangen ist, haben wir auch weiterhin allen Grund, uns beruhigt zurückzulehnen.
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