Horst D. Deckert

Buchtipp: «Demokratie und Globalisierung»

Mit «Demokratie und Globalisierung» legt der deutsche Historiker Andreas Wirsching eine kurze, überblicksartige Gegenwartsgeschichte zur Entwicklung Europas seit 1989 vor.

Wirsching erzählt diese Geschichte beginnend mit dem Zusammenbruch des Kommunismus jenseits des Eisernen Vorhangs, bis er zum Schluss einige Fragen rund um den aktuellen Ukraine-Konflikt anspricht.

Methodisch liegt der beschreibende Schwerpunkt auf den Prozessen und Entwicklungen der gesellschaftlichen Makrostrukturen, vor allem Politik und Wirtschaft. Dies deuten die titelgebenden Leitbegriffe «Demokratie» und «Globalisierung» bereits an.

In diesen Zusammenhang eingebettet tauchen prägende Institutionen und Persönlichkeiten auf. Einige davon sind massgebend und konstant, wie die Europäische Union (EU), die ein eigenes Kapitel umfasst, andere dagegen tauchen nur periodisch begrenzt und ereignisbezogen als Nebenprotagonisten auf.

Eine Geschichte von Paradoxien

Wirsching erzählt die jüngste Geschichte Europas als eine Geschichte von Paradoxien. Europa sei von einem historischen Trend zur Konvergenz geprägt, der gleichzeitig aber immer wieder zu neuen Krisen führe, so die These. Dieses Spannungsverhältnis bildet für Wirsching den wiederkehrenden Referenzpunkt, um Europas Entwicklung seit 1989 zu charakterisieren.

So filtert er einige typische Paradoxien Europas heraus, die abstrakte wie konkrete Lebensformen betreffen: die wirtschaftlichen Krisen (von den Ölkrisen der 1970er Jahre und der Dotcom-Blase bis zur Finanzkrise 2008), den technologischen Strukturwandel von der Industrie zur Dienstleistung, zunehmende Staats- und Privatschulden, beschleunigte Individualisierung, pluralisierte Lebensformen, neue Freiheiten, aber auch mehr Entscheidungsdruck und den Verlust tradierter Sicherheiten. Dabei benennt Wirsching Gewinner und Verlierer, Chancen und Risiken, kurz- und langfristige Konsequenzen.

So hatte der Mauerfall nicht nur einen ökonomischen Globalisierungsschub in den osteuropäischen Staaten und eine Erweiterung ihrer politisch-institutionellen Integration zur Folge, sondern reproduzierte ebenso soziale Ungleichheit zwischen gesellschaftlichen Schichten.

Die Elite im Osten konnte, verglichen zur allgemeinen Bevölkerung, durch ihre im Kommunismus verankerten Netzwerke auch unter der marktwirtschaftlichen Transformation stärker profitieren. Die anfängliche Euphorie über den Neuanschluss an Europa verflog rasch und die Hoffnungen der Menschen wurden enttäuscht – die Zustimmung zur Demokratie schwand, europakritische Stimmen wurden lauter. Die neu gewonnene Freiheit musste im östlichen Europa dennoch durch den Nationalstaat verwirklicht werden – just jenem Gebilde, das in Westeuropa zunehmend überwunden wurde.

Es bringt einen analytischen Mehrwert, dass Wirsching sich in solchen verflochtenen Thematiken von nationalstaatlichen Zugriffen emanzipiert bzw. diese europäisch kontextualisiert. Wo es nationale oder gar regionale Eigenheiten gibt, versucht Wirsching sie mit parallelen europäischen Entwicklungen zu verbinden und Vergleiche herzustellen.

So zum Beispiel bei den Autonomiebestrebungen Schottlands oder Kataloniens, die unter anderem deshalb Aufwind erhielten, weil im Zuge von supranationalen Regelungen und Globalisierungstendenzen ein gefühlter Kontrollverlust entstanden war und diesem durch die höhere Legitimität regionaler Politik entgegengewirkt werden sollte.

Zu den weiteren Paradoxien gehört, dass die angestossene Deregulierung aufgrund der strukturellen Wirtschaftsschwäche der 1970er und 1980er Jahre zusammen mit den computerisierten Finanzmärkten die Globalisierung vorantrieb. Als Folge wurden Finanzakteure wie Banken gestärkt, deren Macht man heute zu Recht beklagt.

So kann der These Wirschings, die Politik sei zu abhängig geworden von der Finanzwirtschaft, nur zugestimmt werden.

Darüber hinaus arbeitet Wirsching im Schatten der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozesse die damit zusammenhängenden und immer wieder neu evozierten Fragen nach der europäischen Identität heraus.

Ihre Gefährlichkeit besteht in ihrer ethnisch aufgeladenen Politisierung, die im zerfallenden Jugoslawien auch die Rat- und Machtlosigkeit der europäischen Institutionen zu Tage förderte. Letztere antworten auf Krisen unterschiedlicher Couleur in der Regel, das demonstriert Wirsching wiederholt, mit «mehr Demokratie» und «mehr Integration».

Konturiertes Profil

Wirsching wagt etwas, das in der Geschichtswissenschaft eher verpönt ist: Er schreibt als Zeitzeuge Gegenwartsgeschichte. Die Stärke dieser Darstellung liegt darin, die historisch unterfütterte Analyse nicht im Elfenbeinturm verkümmern zu lassen, sondern als nötige Orientierung der Allgemeinheit zu vermitteln. Die Schwäche davon ist naturgegeben: Sie liegt in der fehlenden zeitlichen Distanz der Interpretation.

Über viele der beschriebenen Prozesse lässt sich aufgrund des noch offenen Ausgangs kein abschliessendes Urteil fällen.

Wirschings Buch erhält durch begründet hergeleitete Positionsbezüge ein konturiertes Profil, freilich muss dem Argumentarium nicht überall zwingend gefolgt werden, vor allem nicht dort, wo der Eindruck normativ gefärbter Einschätzungen unverkennbar ist.

Ob zum Beispiel die Lösung der so vielseitigen Gegenwartsprobleme in einer supranationalen Organisation wie der EU liegt, kann bezweifelt werden. Man kann Europäer sein, ohne die EU auf den heiligen Sockel zu stellen. Bei allen Integrationserfolgen ist es doch unbestreitbar, dass viele beabsichtigte und angestossene Prozesse der EU den Anschein des Unvollendeten aufweisen, sodass ausser einer sich selbst bestätigenden Classe politique wenig übrigbleibt.

So war und ist die EU ein technokratisches Elitenprojekt mit einem notorischen Legitimations- und Problemlösungsdefizit. Die «Lissabon-Strategie» der EU zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit kann als neoliberale Globalisierungsvision bezeichnet werden. Auch deswegen wird Bildung immer häufiger als funktionale Verwertungseinheit für den Arbeitsmarkt betrachtet.

Im Zuge einer Modernisierungsideologie wird der Mensch an die Umstände angepasst, mit dem impliziten politischen Eingeständnis, weder Markt noch Technologie bändigen zu können.

Nicht nur Staaten, auch politische Institutionen unterliegen einer Logik des Selbstzwecks. Sie schaffen das Bedürfnis nach ihrer Notwendigkeit und versuchen ihre Macht auszubauen und zu festigen.

Im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses lehnten immer wieder Bevölkerungen in nationalen Abstimmungen diesen Gang der Dinge ab, stellvertretend dafür kann beispielsweise das «Nein» Irlands beim Referendum über den EU-Vertrag von Lissabon von 2008 stehen. Anschliessend wurde die Öffentlichkeit mit einer «Ja»-Kampagne bearbeitet, woraus beim zweiten Referendum 2009 eine Annahme resultierte.

Auch die immanente Paradoxie im Wirken der EU beschreibt Wirsching. So führte das Bestreben, einen wirtschaftlichen Binnenmarkt zu schaffen, nicht nur einfach zur Deregulierung von bestehenden Handelsbestimmungen zwischen Einzelstaaten, sondern es mussten für ein einheitliches Regelwerk wiederum neue bürokratische Instrumente geschaffen werden.

Vor diesen Hintergründen ist es nicht nachvollziehbar, weshalb Wirsching die in verschiedenen Regionen Europas verbreitete EU-Skepsis mit Autonomie- und Separatismus-Bestrebungen als «populistisch» bezeichnet, ohne den Begriff genau zu differenzieren oder auf tieferliegende Motive einzugehen. Schliesslich ist der Prozess der europäischen Integration keine gesicherte geschichtsphilosophische Determinante hin zum Guten.

Wirsching hätte solche prophezeienden Ausflüge hinsichtlich seiner präsentierten historisch-analytischen Weitsicht nicht nötig.

So sollten auch die von der EU postulierten Werte (zum Beispiel Demokratie und Marktwirtschaft) dahingehend einer kritischen Überprüfung unterzogen werden, ob sie nicht doch zu häufig durch eigenes widersprüchliches Handeln unterminiert werden, um noch glaubwürdig zu sein.

Was meinen EU-Protagonisten eigentlich mit diesen Werten, wenn man den sprachlichen Gleichklang des transnationalen Diskurses als Foucaultsches «Gewebe» (S. 84) berücksichtigt? Wirsching identifiziert dies als europäisches Dilemma (S. 103 f), aber offenbar nicht als eines der EU. Eine verstärkte Selbstreflexion über die eigene, als selbstverständlich vorausgesetzte Position könnte teleologische Deutungsversuche unterbinden.

Diese skizzierten Schwächen sind besonders in den letzten beiden Kapiteln ersichtlich, wo Wirsching phasenweise Aspekte der Weltmacht- und Aussenpolitik Europas thematisiert, die ins Spekulative einer hypothetischen Zukunft driften. Im Gegensatz zum grössten Teil des Buches, wo es ihm gelingt, durch die Grosserzählungen die Paradoxien rund um die komplexe europäische Identität freizulegen, verlässt er hier die Vogelperspektive und begnügt sich mit einer Fülle partikular aneinandergereihter Ereignisse.

Nicht mehr die Metanarrative dominieren, sondern diverse Niederungen einer aktivistischen Tagespolitik, die aber deutlich macht, dass die europäische Aussen- und Sicherheitspolitik keine durchsetzungsfähige war, weder in den 1990er Jahren auf dem eigenen Kontinent in Jugoslawien noch nach dem Jahrtausendwechsel ausserhalb der eigenen geografischen Gebiete im Irak und in Afghanistan.

Fortschreitende Einheit und fortbestehende Vielfalt

Zum Schluss kehrt Wirsching wieder zu den grösseren Kontexten zurück. In der europäischen Staatsschuldenkrise, die auf die Finanzkrise 2008 folgte, sieht er kein alleiniges europäisches Phänomen, sondern eine Verschiebung der globalen Finanzmacht, weg vom alten Industriestaat hin zu neuen Industrie- und Finanzmächten mit stattlichen Staatsfonds im arabischen und asiatischen Raum.

Eine offene Frage bleibt, weshalb die Rolle der USA, abgesehen von Präsident Reagans zunehmendem Unilateralismus, kaum besprochen wird, denn gerade die vom Autor als solche bezeichnete neoliberale Schocktherapie in Osteuropa nach 1989 ist eine aus Übersee stammende wirtschaftspolitische Massnahme mit hohen sozialen Kosten.

Nichtsdestotrotz gelingt Wirsching insgesamt eine Balance zwischen entnationalisierter Europa-Perspektive, unter Berücksichtigung regionaler und ereignisbezogener Besonderheiten, sowie einem angemessenen Einbezug der EU als zweifellos wichtigster kontinental-politischer Integrationskraft.

Wirschings Buch wird seinem Anspruch gerecht und offeriert stilsicher formuliertes Überblickswissen über die jüngsten Herausforderungen und Erfolge des europäischen Kontinents. Dessen Stärken und Schwächen, so kann das Fazit nach der Lektüre lauten, resultieren tatsächlich aus den eigenen Paradoxien – bestehend aus Krisen und Integration – im dialektischen Spannungsfeld von fortschreitender Einheit und fortbestehender Vielfalt (S. 8).

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Zum Autor:

Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und Professor für Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Buch-Hinweis:

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Andreas Wirsching: Demokratie und Globalisierung. Europa seit 1989. C.H.Beck, 2015. 248 S., 14,95 €. ISBN 978-3-406-66699-5.

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