Horst D. Deckert

Polens PiS-Puppenspieler: Die Kunst, bereits beantwortete Fragen zu stellen

Mitte Oktober finden nicht nur die Parlamentswahlen in Polen statt. Die PiS-Führung arbeitet auch an einem Referendum, das zeitgleich abgehalten werden soll. Die Fragen sind Meisterklasse, was die plebiszitäre Konsolidierung der eigenen Machtbasis angeht – für die Opposition ein Minenfeld.

Von Elem Chintsky

In den letzten Tagen hat die polnische Regierung stufenweise die verschiedenen Fragen ans Volk, die in einem Referendum zur Abstimmung gestellt werden sollen, bekannt gegeben.

Noch ist die Abhaltung dieses Referendums nicht beschlossene Sache, aber am 16. und 17. August soll eine zweitägige Sitzung des polnischen Sejms stattfinden, auf der unter anderem der Vorschlag für diese landesweite Abstimmung behandelt werden soll. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hat sie indes bereits von seinem Amt her bestätigt. Am 11. August sind nun die ersten beiden Fragen veröffentlicht worden.

Die eine Frage, welche vom PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński formuliert wurde, lautete:

(1) „Unterstützen Sie den Ausverkauf von Staatsbetrieben?“

Wer aus dem gemeinen Volk will schon, dass es zu einem annähernd kompletten Ausverkauf der Staatsbetriebe kommt? Die Konnotation hier könnte folgende sein: Die Menschen verstehen sehr wohl, dass Staatsbetriebe durchaus ein wichtiges Rückgrat einer Volkswirtschaft sind und eine aggressive Privatisierung dieser Betriebe in der Geschichte allzu oft zu Souveränitätsverlust und ökonomischer Uneigenständigkeit geführt hat. Ferner führten derartige große „Firmenübernahmen“ dazu, ausländischen Interessen und ihrer Profitgier eine signifikante Machtprojektion im polnischen Inland zu ermöglichen. Auch Russland hatte – besonders in den 1990er Jahren – Ähnliches zu erdulden. Die PiS will hiermit versichern: „Wir schützen den Fortbestand dieser Staatsbetriebe und die Arbeitsplätze, die damit verbunden sind – die Opposition nicht.“

Die zweite Frage kam von der PiS-Vizevorsitzenden und ehemaligen Ministerpräsidentin (2015–2017), Beata Szydło:

(2) „Sind Sie für die Anhebung des Rentenalters, das heute für Frauen bei 60 und für Männer bei 65 Jahren liegt?“

Wie in Frankreich oder Russland ist die Frage der Erhöhung des Rentenalters auch in Polen zumeist äußerst sensibel und wird aufmerksam von den Steuerzahlern verfolgt. Besonders, wenn ein Politiker verspricht, dass diese Ausdehnung nicht stattfinden wird – es aber später dennoch dazu kommt. Die Anhebung des Rentenalters wird in der Regel mit schlechter politischer Führungskraft der verantwortlichen Regierung assoziiert, die vermeintlich nirgendwo sonst den Staatshaushalt korrigieren oder reanimieren konnte, als allein in der Sphäre der „solidarischen“ Ruhestandskürzung – und damit Lebensqualitätssenkung – der eigenen Bürger. Vom soziologischen Feedback her weiß die PiS recht genau, dass dazu ein klares „Nein“ bei der Bevölkerung erklingen wird.

Die dritte Referendumsfrage – veröffentlicht am vergangenen Sonntag von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki lautet:

(3) „Unterstützen Sie die Aufnahme Tausender illegaler Einwanderer aus dem Nahen Osten und Afrika nach dem von der europäischen Bürokratie erzwungenen Umsiedlungsmechanismus?“

Dies ist mit Abstand die effektivste Frage, die im Subtext mit Schlagwörtern, wie „illegal“, „erzwungen“, „Bürokratie“ und „Umsiedlung“ – allesamt negativ konnotiert – populistisch punkten kann. Wobei die Frage, selbst in dieser steilen Form, durchaus legitim ist. Zwar antizipieren die PiS-Strategen ein mehrheitliches „Nein“, aber jeder nicht wahlverdrossene Wähler kann – je nach politischer Überzeugung – trotzdem durchaus „Ja“ angeben.

Mit Blick auf die Art und Weise, wie die PiS daraus weiteres Kapital schlägt, sollte man sich daran erinnern, was Donald Tusk im Jahr 2017 (damals als Chef des Europäischen Rates) gesagt hatte:

„Wenn die polnische Regierung [zu dem Zeitpunkt bereits unter der PiS] entschlossen ist, sich nicht an dieser solidarischen Teilung in der Flüchtlingsfrage zu beteiligen, wird dies unweigerlich bestimmte Konsequenzen nach sich ziehen.“

Im selben Tenor sagte im Jahr 2015 der damalige stellvertretende Leiter des polnischen Außenministeriums (unter der PO, der heutigen oppositionellen Bürgerplattform) und heute einer der wichtigsten Oppositionellen neben Tusk, Rafał Trzaskowski: In puncto Umsiedlung von Flüchtlingen nach Polen „wird es notwendig sein, diesen Schritt zu machen und sich wahrscheinlich dem Vorschlag der Europäischen Kommission zu öffnen.“

Die jüngste Frage kam am Montag vom polnischen Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak, der letztes Wochenende eine ‚Militäroperation‘ nahe der weißrussischen Grenze eingeleitet hat:

(4) „Befürworten Sie die Beseitigung der Barriere an der Grenze zwischen der Republik Polen und der Republik Belarus?“

Es ist sicher nicht die PiS-Regierung, die einen solchen Vorschlag der Beseitigung dieser Barriere je öffentlich gemacht hat. Stattdessen waren es Liberale, linksprogressive Parteien und Donald Tusk selbst, die eine Öffnung dieser Grenze aus einem „humanitären Impuls“ heraus forderten. In diesem Sinne ist der politische Zwist um eine „Mauer“ ähnlich dem Streit der Republikaner und Demokraten um die US-amerikanisch-mexikanische Grenze in Übersee. Die derzeitige Regierung suggeriert auch hier: Wenn man sie im Oktober nicht wiederwählt, würde Donald Tusk diese Grenze weit öffnen. Gleichzeitig ist damit auch das Thema der Wagner-Einheiten an der weißrussisch-polnischen Grenze abgedeckt, da zurzeit regierungsnahe Spekulationen verbreitet werden, dass die Söldner der Gruppe Wagner über eine derart schwach geschützte Grenze inkognito ins Inland geraten könnten, um Polen zu ‚destabilisieren‘. Die ‚Militäroperation‘ Błaszczaks ist eine direkte Antwort darauf. Genau zu diesem Aspekt nahm Oppositionsführer Donald Tusk Ende Juli bereits Stellung und sprach davon, wie die „PiS aus Furcht vor den kommenden Wahlen Hilfe bei den Wagner-Kämpfern sucht.“

Zwei Zitate von PiS-Politikern zur vierten Volksabstimmungsfrage – aus den sozialen Medien – helfen, die Ratio hinter dieser Frage noch besser zu entschlüsseln:

„Die Sicherheit der Polen ist eine unbezahlbare Sache, eine fundamentale Angelegenheit. Gleichzeitig ist es eine Frage, die zu schwerwiegend für die Jungs ‚in kurzen Hosen‘ von der Opposition ist. Eine Voraussetzung für die Sicherheit ist eine starke und hervorragend bewaffnete polnische Armee und andere Dienste. Eine Bedingung für die Sicherheit der Polen ist auch eine gesicherte Grenze, die sie [die Opposition] öffnen und entsiegeln wollten und wollen, während sie auf die polnische Uniform spucken.“ – polnischer Bildungsminister unter Morawiecki, Przemysław Czarnek

„Im Moment steht das Schicksal Polens für die nächsten Dekaden auf dem Spiel. Tusk sagte, die Barriere an der Grenze zu Weißrussland werde nicht gebaut. Andere Oppositionspolitiker wollen sie abreißen. Deshalb sollten die Polen entscheiden, ob sie die Beseitigung der Barriere an der Grenze zu Weißrussland unterstützen.“ – Leiter des Ministeriums für Staatsvermögen (MAP), Jacek Sasin

Am Montag twitterte der liberalkonservative Oppositionsführer Tusk zur vierten Frage etwas, was von vielen als eine plötzliche Abkehr von seiner üblicherweise linksliberalen Grenzpolitik verstanden wurde:

„Da jeden Tag eine Rekordzahl von Migranten durch Błaszczaks Zaun nach Polen durchdringen, sollte die richtige Frage lauten: Sind Sie für den Bau einer echten Barriere an der Grenze zu Weißrussland?“

Zügig wurden dem Politiker von vielen Nutzern des Kurznachrichtendienstes X all die Male in Erinnerung gerufen, wo er sich gegen den Bau einer solchen Barriere geäußert hatte oder sie schlicht für unmöglich hielt. Seine Aussage wurde von den Kommentatoren unter anderem als „ratloser Hohn“ bezeichnet – außerdem war die Rede von einer „180 Grad-Drehung“. Am Ende gab es dann sogar eine direkte Antwort Błaszczaks auf Tusks Tweet:

„Die Barriere funktioniert, Herr Tusk! Auf der weißrussischen Seite hält sie Scharen von illegalen Einwanderern auf, auf der polnischen Seite die Expeditionen von PO-Abgeordneten mit Pizza und Einkaufstüten.“

Die Opposition in Polen gleicht in ihrer Durchsetzungsfähigkeit einem Sieb

Wie hier demonstriert wurde, sind diese bereits jetzt veröffentlichten Fragen natürlich nicht neutral – dennoch aber sehr klug und mit Kalkül formuliert, da sie eine ganz bestimmte Suggestivkraft in sich tragen. Es ist das perfekte Format, um die Bevölkerung zu einem demokratisch-populistischen, zwei Monate andauernden Vorspiel einzuladen. Zum einen bekommt die derzeitige Regierung dann im Oktober ein aussagekräftiges Stimmungsbild samt der eigentlichen Wahlergebnisse. Zum anderen kann sie bereits jetzt den öffentlichen Diskurs beobachten und lenken – notfalls sogar Anpassungen in der Rhetorik und Wahlkampfstrategie vornehmen.

Während die Kritik seitens der Opposition mit relativer Mühelosigkeit als „skeptisch gegenüber direkter Demokratie“ abgetan werden kann.

Diese nun aufgeworfenen Fragen sind nicht nur eine interaktiver, direkter Weg für die PiS, um ihre politischen Ziele zu artikulieren, sondern auch um eine inhaltlich genauere, verbindliche Positionierung der Wähler empirisch zu erheben.

Man kann über die PiS denken, was man möchte. Aber wer auch immer die Idee für dieses Referendum hatte, versteht sein politologisch-technologisches Handwerk wirklich sehr gut und hat eine massenpsychologische Goldader getroffen. Zumal das eine Goldader ist, die andernorts nicht so ohne Weiteres repliziert werden könnte: Nicht ohne triftigen Grund sind in der Bundesrepublik Deutschland diese Art Referenden sowieso eine extreme Seltenheit oder sogar ein Affront gegen die Erwartungshaltung der alten Systemparteien. Berlin kam im Jahr 2015 auch ganz ohne Volksentscheid gut durch die Flüchtlingskrise.

Auch die Oppositionskräfte rund um Donald Tusk sind jetzt in einer undankbaren Position, da es sehr schwer ist innerhalb des Volkes Referenden glaubwürdig anzuschwärzen. Die plebiszitäre Miteinbeziehung der Wähler – in Form von multiplen Fragen innerhalb eines Referendums, das als potenter Katalysator für eine neue Legislaturperiode fungiert – könnte geradezu ein Schachmatt darstellen. 

Ja, man kann das Motiv, weshalb man diesen Volksentscheid abhalten möchte, infrage stellen und der PiS vorwerfen, sie betreibe Manipulation und Panikmache. Das ändert jedoch nichts daran, dass man – trotz der bissigen und suggestiven Formulierung – eine dramatische, binäre Wahloption hat: Man kann die Prämisse verweigern, man kann sie aber auch befürworten.

Fragen, die die PiS – aus welchen Gründen auch immer – ‚vergessen‘ hat, in den Katalog des geplanten Referendums aufzunehmen, sind zum Beispiel:

„Unterstützen Sie den Beitritt der Ukraine zur NATO?“

„Würden Sie einen direkten Krieg Polens mit Russland unterstützen, auch wenn die US-Führung damit unser Land und andere NATO-Mitglieder Osteuropas aus dem Verteidigungsbündnis ausschließt, um einem dritten Weltkrieg zu entgehen?“

„Würden Sie hypothetisch, im Rahmen eines heißen Krieges mit Russland, den Anschluss großer Teile der Westukraine an die polnische Republik unterstützen beziehungsweise zumindest tolerieren?“

Die Stimmenauswertungen solcher Fragen wären sicherlich auch interessant und letztendlich von Gewicht. Würden sich die Politiker bei eher unerwünschten Resultaten dem Volkswillen dann trotzdem beugen? 

Letzen Endes ist ‚ein Referendum‘ immer noch besser als ‚kein Referendum‘ – immerhin kann man ja trotzdem binär antworten und es handelt sich hierbei um ‚direkte Demokratie‘. Selbst wenn man PiS-Gegner ist, kann man zum Beispiel die offizielle Frage Nummer drei selbstbewusst und politisch überzeugt mit einem enthusiastischen ‚Ja‘ beantworten: also „Ja – zur illegalen Massenmigration“. Wie viele Menschen diese Frage am Ende tatsächlich bejahen werden, scheint die PiS indes bereits zu wissen – so wie es auch die von Torschlusspanik geplagte Opposition Donald Tusks bereits zu befürchten beginnt.

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Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Chintsky publiziert unter anderem für RT DE und das Nachrichtenmagazin Hintergrund. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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