Horst D. Deckert

Gott schläft in der idyllischen Landschaft der Masuren

Die ostpreußische Landschaft der Masuren mit seinen Fast 3.000 Seen ist ein vom europäischen Tourismus noch weitgehend unentdecktes Reiseziel. Das gilt aber nicht für die Polen. Für die sind die Masuren in etwa das, was das Salzkammergut für die Österreicher ist, nur eben ein polnisches Salzkammergut ohne Berge. 

„Wir sind gesegnet durch dieses Land, auf dem wir leben dürfen. Es ist der schönste Flecken Erde auf dieser Welt. Noch ist nichts zerstört, noch ist alles unverfälschte Natur. Wenn Gott zur Ruhe geht, wenn er schlafen will, so glaube ich, würde er zu uns kommen…“

So lässt der im ostpreußischen Osterode geborene Autor Hans Hellmut Kirst seine Romanfigur, den Gutsbesitzer Johann Leberecht, im Jahr 1933 über seine idyllische Heimatregion schwärmen.

Diesem Landstrich hat der Schriftsteller, der selbst aus dieser Gegend kommt, mit seinem Buch „Gott schläft in Masuren“ nicht nur ein literarisches Denkmal gesetzt, sondern mich schon als Jugendlicher frühzeitig auf diese weit von meiner Heimatstadt Wels entfernt gelegene Landschaft neugierig gemacht.

Als Erwachsener ins Sehnsuchtsland meiner Kindheit

Wenn ich groß bin, so schwor ich mir in den 1960er Jahren, werde ich die Masuren besuchen. Es sollte dann aber noch sechs Jahrzehnte dauern, bis ich mein mir gegebenes Versprechen in die Tat umsetzte.

Ich habe in den Masuren, einem ehemals deutschen Gebiet, das heute zu Polen gehört, keine Verwandten, keine Bekannten, keine Freunde und keine Vorfahren, trotzdem hat mich diese Landschaft immer irgendwie angezogen, fasziniert. Warum das so war, kann ich nicht wirklich sagen.

Mit meinem Freund Axel, der erst im Mai in den Masuren war, machte ich mich Anfang August schließlich auf, um nun gemeinsam mein Sehnsuchtsland mit dem Auto zu erkunden und der Atmosphäre dieser Vielseen-Landschaft aus dem Kirst-Roman nachzuspüren.

Zum Glück immer noch provinziell, aber nicht fad

Wir fuhren am ersten Tag unserer Reise gleich durch bis Olsztyn, das bis 1945 Allenstein hieß. Diese Stadt ist noch immer das kulturelle, wirtschaftliche und politische Zentrum der Masuren. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Allenstein etwa 45.000 Einwohner, 170.000 sollen es heute sein.

Doch diese Menschenmasse spürt man eigenartigerweise nicht. Sie verteilt und zerstreut sich wohl weit ins Umland hinaus. Denn in seinem kompakten Kern macht Allenstein zum Glück noch immer einen leicht provinziellen, aber keineswegs faden Eindruck. Seit den Zeiten des Gutbesitzers Johann Leberecht hat es sich zu einem pulsierenden Städtchen gemausert, in dem die Kneipen und Gaststätten – anders als bei uns in Österreich – allesamt und auffallend gut besucht sind.

Viele Sehenswürdigkeiten am Wegesrand

Ich habe in Polen auch nur lauter neue Straßen gesehen und muss meine Vorurteile, die ich bis vor kurzem noch über dieses Land gehabt hatte, revidieren. Irgendwo hatte ich auch gelesen, dass Polen – neben Vietnam – zu den am stärksten wachsenden Volkswirtschaften zählt, was sich auf unserer Reise auch zu bestätigen schien.

In den Masuren – und damit ist die Woiwodschaft Ermland–Masuren gemeint – ist davon allerdings noch wenig zu merken. In der Landschaft rund um die Seen scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. In dem wald-, wiesen- und wasserreichen Gebiet präsentieren sich die Dörfer und Straßen fast noch so wie vor dem Zweiten Weltkrieg. 

Auf schmalen, verwinkelten, buckligen Katzenpflasterstraßen rumpeln mein Freund und ich angenehm angetan durch „Gottes Schlafquartier“ und streifen dabei halb verfallene Adelsgüter, barocke Kirchen, gotische Burgen und mühsam angelegte Kanäle und Schleusen sowie Bunker.

Ehemalige Bunkerstadt im Görlitzer Wald

Wir passieren viele verwunschene Dörfer und kommen dabei auch nach Ketrzyn, dem früheren Rastenburg, wo Ermland und Masuren sich vereinen. Mit ihren 27.000 Einwohnern zählt Rastenburg zu den größeren Orten in den Masuren, deren Bewohner sich nicht mehr über die vielen Touristen wundern, die ihren Ort meist durchfahren.

Denn ganz in der Nähe befinden die Überreste des ehemaligen „Führerhauptquartiers Wolfsschanze“, worauf auch mit Hinweistafeln aufmerksam gemacht wird. Dort, wo sich früher in etwa der Posten des inneren Sperrkreises dieser Wolfsschanze befand, ist heute der Haupteingang dieser offensichtlich gut frequentierten Touristenattraktion mit ihrem großen Besucherparkplatz. In unmittelbarer Nähe liegt auch die ehemalige Bahnstation Wolfsschanze, wo Hitler nach dem Attentat am 20. Juli 1944 Mussolini empfing.

Viele Besucher im „Disneyland“ Wolfsschanze

Dieses gesamte Areal, das heute im Besitz des polnischen Staates ist und von diesem auch vermarktet wird, wie uns Professor Jaroslaw Zarzecki zur Geschichte dieser Bunkeranlage im Görlitzer Wald erläutert, quillt bei unserem Rundgang geradezu über vor Besuchern.

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Professor Jaroslaw Zarzecki (li.) im Gespräch mit dem Autor

Diese kommen – wie die Autokennzeichen am Parkplatz verraten – aus allen Ländern Europas, die mit den deutschen Nummerntafeln sind am spärlichsten vertreten. Die Masse der Gäste sind junge Polen, darunter viele Mädchen, die offenbar ein ganz entspanntes Verhältnis zu diesem Kapitel der Kriegsgeschichte haben.

Vergnügt und ohne Betroffenheitsblick stapfen sie fröhlich zwischen den Bunkertrümmern herum, so dass ich mich manchmal des Eindrucks nicht erwehren kann, in einer Art geschichtlichem Disneyland gelandet zu sein. Diesen Eindruck hatte auch der Besucher Erik Lehnert gehabt, der in seinem Reisebericht in der Zeitschrift „Der Eckart“ ebenfalls „von einem Disneyland vor realer Kulisse“ schreibt.

Noch mehr alte Bunker am Mauersee

In dieser Kulisse baute man auch jene Baracke mit dem Kartentisch nach, unter dem Oberst Stauffenberg einst die Aktentasche mit der Bombe platziert hatte. Der jeweilige Standort der Teilnehmer am Tisch dieser damaligen Besprechung ist genau angegeben – und Hitler und Stauffenberg sind als Schaufensterpuppen in voller Lebensgröße vertreten. 

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In einem sogenannten Museumsladen kann man das dazugehörige Informationsmaterial über die Wolfsschanze und ihre Geschichte kaufen.

Ganz in der Nähe, am Westufer des Mauersees, nahe der Mündung des Masurischen Kanals, hatte auch das Oberkommando des Heeres (OKH) eine eigene „kleine Wolfsschanze“ errichtet, in der zeitweise 40 Generäle und 1.500 Offiziere Dienst verrichteten, wie der aus Freiburg im Breisgau stammende Masurenkenner Markus Bingel – er studierte in Allenstein osteuropäische Geschichte – erläutert. Dieses einstige OKH-Bunkerquartier hat eine deutlich besser erhaltene Bausubstanz als die echte Wolfsschanze, weil die Anlage des OKH keinerlei Demolierungsversuchen ausgesetzt war.

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Wo schläft Gott konkret in den Masuren?

Auf dem Rückweg nach Allenstein schauen mein Freund Axel und ich auch im Wallfahrtsort Swieta Lipka vorbei, dem früheren Heiliglinde, in dem die angeblich schönste Kirche Nordpolens steht – ein barockes Kleinod, das jährlich von einer Million Gläubigen und Touristen aufgesucht wird. Ob Gott hier schläft, überlege ich.

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Man weiß es nicht. Sicher ist: „Gott schläft in Masuren“, jedenfalls nach der Überzeugung des Schriftstellers Hans Hellmut Kirst; und am Ende unserer Reise durch diese idyllische Landschaft des ehemaligen Ostpreußens mit seinen fast 3.000 Seen glaube auch ich, dass das stimmen könnte. Aber wo würde Gott dort konkret sein Haupt zur Ruhe betten? 

Meiner Meinung nach würde das irgendwo zwischen dem Mauersee, dem Löwentinsee und dem Spirdingsee sein. Letzterer ist mit einer Fläche von 114 Quadratkilometern auch der größte See Polens.

Zum Autor: Kurt Guggenbichler war Mitbegründer und Chefredakteur des „Wochenblick“. Sein journalistisches Handwerk hat er bei der „Goslarschen Zeitung“ in Norddeutschland erlernt, wo er acht Jahre lang als Redakteur, Reporter und Kolumnist tätig war. Wieder zurück in seiner Heimat, arbeitete Guggenbichler in der Funktion eines Ressortleiters dann 25 Jahre lang für die „Oberösterreichischen Nachrichten“. Zum „Wochenblick“ wechselte er einige Zeit nach seiner Tätigkeit als Chefredakteur der Tageszeitung „Oberösterreichs Neue“ und für AUF1-Info ist Guggenbichler nun als Nachrichten-Redakteur, Kommentator und Reporter im Einsatz.

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