Israels Anspruch auf Selbstverteidigung nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober gerät immer mehr ins Kreuzfeuer der Kritik. Denn die gesetzten Militäraktionen betreffen vor allem die Zivilbevölkerung und sind nicht mehr als militärisch notwendiger „Kollateralschaden“ abzutun.
Der aktuelle Einmarsch israelischer Soldaten in das al-Shiva Krankenhaus in Gaza, unter dem Vorwand, darunter befänden sich strategische Hamas-Stellungen, wird nun auch von WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus als „alarmierend und inakzeptabel“ kritisiert. In der Diskussion herrscht zunehmende Übereinstimmung in einem Punkt: Auch wenn Israel dieses Recht habe, gehen seine Kriegsaktionen im Gazastreifen weit darüber hinaus. Indes ringt der UNO-Sicherheitsrat nach vier gescheiterten Anläufen um den fünften Resolutionsentwurf bezüglich Israel und Hamas.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Vorwürfe bezüglich Kriegsverbrechen und die Annäherung an einen Genozid am palästinensischen Volk stehen im Raum. Insbesondere das Abschneiden der Zivilbevölkerung von Nahrung und elementaren Lebensbedürfnissen, sei zumindest ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, heißt es. Ebenso die israelische Order an über einer Million Palästinenser, sich in den Süden zu bewegen, wo sie auf dem Weg dahin bombardiert werden. Diese Anschuldigungen erheben u.a. Francesca Albanese, Sonderberichterstatterin im Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte und der mittlerweile zurückgetretene Direktor des New Yorker Büros des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCHR), Craigh Mokhiber.
Krieg entstand nicht im Vakuum
Francesca Albanese erläuterte in einer Posting-Serie auf X, warum Israel das Recht auf Selbstverteidigung missbrauche. Sie beruft sich dabei auf die Einschätzung von Professor Ardi Imseis, Experte für internationales Recht. Er sagt offen, was UNO-Chef Antonio Guterres sehr diplomatisch formulierte und deshalb von Israels UNO-Botschafter zum Rücktritt aufgefordert wurde: Der aktuelle Krieg im Gazastreifen sei eine Fortsetzung der israelischen über Jahrzehnte andauernden Gewalt gegen die Palästinenser und habe jetzt einen Höhepunkt erreicht. Guterres sagte es weniger scharf: Der aktuelle Krieg sei nicht in einem Vakuum entstanden.
Rebellion in der UNO
In der UNO rumort es gewaltig. Der hohe UNO-Beamte Mokhiber, seit über 30 Jahren Menschenrechtsanwalt, gab Ende Oktober sein Amt auf, weil – wie er in einem Interview sagte – die pro-israelische Lobby innerhalb der UNO seit März eine Kampagne gegen ihn führte und ihm ein Redeverbot erteilte. In einem Interview wiederholte er den Vorwurf, der auch in seinem Rücktrittsschreiben steht: Israel sei auf dem Weg zum Genozid und die UNO schaue zu. Das derzeitige massenhafte Abschlachten des palästinensischen Volkes beruhe ausschließlich auf seinem Status als Araber, es herrsche Rassismus und Apartheid im ganzen Land. All das sei ein Paradebeispiel für Völkermord. Die Regierungen der USA, Großbritanniens und eines Großteils Europas seien daran zur Gänze beteiligt.
Keine Zwei-Staaten-Lösung
In seinem Schreiben listet Mokhiber in 10 Absätzen auf, was die UNO zur langfristigen Lösung des Konflikts tun solle: Das gescheiterte Oslo-Paradigma einer Zwei-Staaten-Lösung aufgeben, es gebe bereits einen Staat. Man müsse den internationalen Menschenrechten und dem Völkerrecht folgen. Mit dem Vorwand aufräumen, es handle sich nur um einen Konflikt zwischen zwei Kriegsparteien um Land oder Religion. Tatsächlich werde die indigene Bevölkerung aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit verfolgt und enteignet. Er fordert die Errichtung eines einzigen, demokratischen, säkularen Staates im gesamten historischen Palästina mit gleichen Rechten für Christen, Muslime und Juden. Die Apartheid müsse bekämpft werden, wie es bei Südafrika der Fall gewesen sei.
Israels Waffenarsenal vernichten
Alle Palästinenser und ihre Familien, die derzeit in der Diaspora auf der ganzen Welt leben, müssen ein Recht auf Rückkehr und Entschädigung haben. Eine Übergangsjustiz sei erforderlich, um alle Täter zur Rechenschaft zu ziehen und Wiedergutmachung zu leisten. Eine UN-Schutztruppe mit dauerhaftem Auftrag müsse die Zivilbevölkerung schützen. Die massiven nuklearen, chemischen und biologischen Waffenbestände Israels müssen beseitigt und vernichtet werden, um nicht eine völlige Zerstörung der Region und darüber hinaus zu riskieren. Es müsse erkannt werden, dass die USA und andere westliche Mächte nicht Vermittler, sondern Konfliktparteien seien, die sich gemeinsam mit Israel an der Verletzung palästinensischer Rechte beteiligen. Der Zustrom von Israel-Lobbyisten in die Büros der UN-Führer müsse gestoppt werden. Kurzfristig forderte er einen sofortigen Waffenstillstand und ein Ende der langjährigen Belagerung von Gaza.
Schutz von Zivilisten und Kindern gefordert
Wie unwahrscheinlich die Umsetzung von Mokhibers Vorschlägen ist, zeigt das aktuelle Ringen des UN-Sicherheitsrates um einen einheitlichen Standpunkt für eine Resolution zu Israel und Hamas. Vier Versuche scheiterten bisher am „Wording“. Im aktuellen Malta-Entwurf werden „ausgedehnte humanitäre Pausen“ im gesamten Gaza-Streifen gefordert, um die Zivilbevölkerung mit dem Nötigsten versorgen zu können. Alle beteiligten Parteien müssen das internationale Menschrecht bezüglich des Schutzes von Zivilisten und Kindern sowie das Verbot der Geiselnahme einhalten. Von „Waffenstillstand“ ist keine Rede.
UNO-Sicherheitsrat gelähmt
Das 15-köpfige UNO-Gremium ist für die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit zuständig. Es ist intern völlig gespalten und deshalb seit Beginn des Krieges am 7. Oktober wie gelähmt. Insbesondere, weil Russland und China einen sofortigen Waffenstillstand fordern. Die USA, Israels engster Verbündeter, verlangt hingegen lediglich „humanitäre Pausen“. Von den vier gescheiterten Entwürfen wurde einer, der von Brasilien kam, von den USA abgelehnt. Die Entwürfe von China und zwei von Russland entworfene Papiere scheiterten an der neun-Stimmen-Hürde für ein „Ja“.
Zum Autor: Kornelia Kirchweger war Journalistin bei „Austria Presse Agentur“, Bundespressedienst, „BBC“, „Asahi Shimbun“. Fokus: EU, Asien, USA, Afrika. Seit 2016 beim „Wochenblick“. Rockte die sozialen Medien mit ihrem offenen Brief an Greta Thunberg und machte gegen den UNO-Migrationspakt mobil.
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