Horst D. Deckert

Vor 75 Jahren: So erlebte Deutschland die erste freie Wahl nach dem Krieg

Eine schwüle Gewitternacht brach über das zerbombte Nachkriegsdeutschland herein, als am Abend des 14. August 1949 die Wahllokale schlossen. Heute Morgen vor 75 Jahren wachte Deutschland, besser gesagt: das damalige Westdeutschland, aus der ersten Wahlnacht seit Kriegsende auf.

31 Millionen Deutsche waren am Vortag in den drei Westzonen der geteilten Nation zur ersten freien Wahl seit der Hitler–Diktatur aufgerufen. Jeder hatte eine Stimme, die für den jeweiligen Bundestags-Direktkandidaten. Gewählt war außerdem, wer in einem Bundesland mindestens 5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigte. Die Wahlbeteiligung: 78,5 Prozent.

„Die erste Bundestagswahl 1949 war noch eine wirkliche Richtungswahl“, erinnert sich DK-Gastautor Einar Koch (Jahrgang 1951), der den Verlauf der ersten freien Wahlen nach dem Krieg als politischer Redakteur bei der „Bild“-Zeitung recherchiert hatte.

Die Westdeutschen sollten sich zwischen Marktwirtschaft oder Planwirtschaft entscheiden. Für die Westbindung oder doch besser ein neutraler Staat in der Hoffnung auf eine rasche Wiedervereinigung mit den Deutschen im Osten. Noch am Vorabend der Wahl lieferten sich Klebekolonnen der Parteien erbitterte Schlägereien in den vom Krieg gezeichneten Städten.

Die Deutschen hörten gebannt Radio: Wahlkreis für Wahlkreis wurde einzeln ausgezählt. Hochrechnungen gab es noch nicht – es war die Vor-Computer-Zeit.

Die großen Gegenspieler hießen: Konrad Adenauer (CDU), Kurt Schumacher (SPD). Das Wort „Kanzlerkandidat“ gab es noch nicht.

Schumacher (53), der Nachkriegsvorsitzende der SPD, war ein von Wundschmerzen gepeinigter Mann. Im Ersten Weltkrieg hatte er den rechten Arm verloren, 1948 war ihm das linke Bein amputiert worden. Den Wahlabend verbrachte er mit Getreuen in der mit roten Fahnen geschmückten SPD-Zentrale, die sich damals in Hannover in der Odeonstraße befand. Die Genossen löffelten Bouillon mit Ei, als aus den Bezirksverbänden telefonisch die ersten Teilergebnisse eintrafen.

Um 23.40 Uhr unterbrach der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) seine Tanzmusik mit einer Sondermeldung: Schumacher war in Hannover-Süd mit 56 Prozent gewählt worden. Ein SPD-Wahlsieg schien in greifbare Nähe zu rücken.

Der frühere Kölner Oberbürgermeister Adenauer (73) war vor Mitternacht zu Bett gegangen: „Wat soll ich mich vorher verrückt machen“, sagte der Rheinländer. In der weißen schiefergedeckten Villa am Hang des Rheintals in Rhöndorf bei Bonn, wo sich nach dem Krieg die Väter des Grundgesetzes zum „Parlamentarischen Rat“ versammelt hatten, rasselte um fünf Uhr der Wecker.

Adenauer wählte die Nummer des Bonner Büros des „Deutschen Nachrichtendienstes“ (DPA– Vorläufer) , um das amtliche Endergebnis zu erfahren: CDU/CSU 31 Prozent, SPD 29,2 Prozent, FDP 11,9 Prozent, KPD 5,7 Prozent.

Mit 139 Mandaten hatten CDU und CSU acht Sitze mehr als die SPD, aber die Union brauchte einen Partner, um regieren zu können. Starke Kräfte in der Union drangen auf eine große Koalition mit der SPD, die Adenauer (CDU-Chef in der britischen Zone) unbedingt verhindern wollte. Am Sonntag nach der Wahl – es war der 21. August – lud der listige Rheinländer 25 mehr oder minder einflussreiche Unions-Leute auf seine sonnige Terrasse.

Nachdem die Herren schnaufend die 58 Stufen hinaufgestiegen waren, ließ der an sich geizige Alte, der die Kinder im Ort lieber mit zähen Rahmbonbons als einer Tafel Schokolade abspeiste, ein üppiges Buffet auftragen. Eigenhändig entkorkte Adenauer Spitzengewächse aus seinem Weinkeller. Für den jungen CSU–Mann Franz Josef Strauß (33) klangen die Gläser wie „himmlische Glocken“.

Adenauer schwor die Runde auf ein Papier ein, in dem die „eindeutige Bejahung der sozialen Marktwirtschaft im Gegensatz zur sozialistischen Planwirtschaft“ festgeschrieben wurde. Ein Bündnis mit den planwirtschaftlich denkenden Sozialdemokraten war damit ausgeschlossen, die Koalition mit der FDP praktisch besiegelt. Die Antwort auf die Frage, wer Kanzler werden solle, gab er den Herren gleich mit auf den weinseligen Heimweg: „Man hat mich dazu vermocht, mich für die Stellung des Bundeskanzlers zur Verfügung zu stellen.“

Am 15. September 1949 wählte der in Bonn versammelte erste Deutsche Bundestag Adenauer zum Kanzler – mit einer Stimme Mehrheit, mutmaßlich seiner eigenen. Der polternden Opposition rief das rheinische Schlitzohr zu: „Wat wollen Se‘ denn, meine Damen und Herren? Mehrheit ist Mehrheit!“ (oys)

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