Die Zeichen stehen auf Verbesserung
Vom Ergebnis der Parlamentswahlen dürften auch in Deutschland einige Beobachter auf falschem Fuße erwischt worden sein. Jedenfalls rechneten viele Kommentatoren noch bis in die Abendstunden mit einem sehr knappen Wahlausgang.
Von Dr. Bence Bauer
Vielen Deutschen ist es schlicht unerklärlich, dass eine akzentuiert konservative Politik einen so breiten gesellschaftlichen Widerhall findet wie in Ungarn. Gut zwei Wochen nach den Wahlen und nach der in Ungarn traditionell wichtigen Osterpause sollte mit ein wenig Distanz eine Bestandsaufnahme gewagt werden.
Programmatische Armut der Opposition
Der überzeugende Wahlsieg der Regierungsparteien verdeutlicht wieder einmal die starke Verankerung von Fidesz-KDNP in der ungarischen Wählerschaft. Ähnlich wie 2018 waren die Vertreter der Oppositionsparteien und ihre Unterstützer im In- und Ausland in einer großstädtischen Meinungsblase gefangen, ohne auf das Land zu schauen. Sie konnten es sich schlicht nicht vorstellen, dass die Ungarn erneut mehrheitlich für die Fortsetzung der Regierungsarbeit von Fidesz-KDNP votieren würden. Die besonnene und staatsmännische Haltung von Ministerpräsident Viktor Orbán in der Ukrainekrise zeigte Wirkung und beeindruckte wohl auch unentschiedene Wähler.
Zudem entging den Strategen der Opposition, dass es für einen Regierungswechsel nicht nur eine Wechselstimmung braucht, sondern auch eine Alternative, eine kohärente Idee, wie das Land regiert werden solle. Außer einem notdürftig zusammengezimmerten Minimalprogramm konnte das Sechserbündnis nichts präsentieren. Die erratischen und immer wieder wenig durchdachten Aussagen des Spitzenkandidaten sorgten für viel Verwirrung. Schließlich konnte die Opposition auch hinsichtlich der aktuellen Kriegslage im Nachbarland Ukraine schlicht keine tragfähigen Botschaften präsentieren, sondern erhärtete den Gesamteindruck, unerfahren, verworren und sprunghaft zu sein. Zu allem Überdruss verlor man zu sehr großen Teilen die Anhängerschaft von Jobbik, die sich weiterhin in Gegnerschaft zu Ferenc Gyurcsány befand. Es war diesen Menschen nicht mehr zu vermitteln, auf einmal Teil eines Linksbündnisses unter Führung von genau diesem Gyurcsány zu sein. Dies erklärt auch den Erfolg der Jobbik-Abspaltung „Mi Hazánk“.
Ukraine-Kurs der Regierung mehrheitsfähig
Die besonnene und staatsmännische Haltung von Ministerpräsident Viktor Orbán in der Ukrainekrise zeigte Wirkung und beeindruckte wohl auch unentschiedene Wähler. Die Mehrheit der Ungarn unterstützt nämlich den Kurs der Regierung, sich aus diesem bewaffneten Konflikt herauszuhalten. So beherzt die ganze ungarische Gesellschaft den ukrainischen Flüchtlingen hilft, so entschlossen lehnt sie es ab, sich in einen Krieg mit massiven Folgen für ganz Europa hineinziehen zu lassen. Auch in dieser Frage spielten die Oppositionsparteien mit verdeckten Karten. Wie erst nach der Wahl bekannt wurde, sollte der Spitzenkandidat persönlich nach Kiew fahren und dem ukrainischen Präsidenten treffen. Dies ist keine mehrheitsfähige Position in Ungarn. Den Wählern aber ist in einer solchen spannungsgeladenen Zeit nichts wichtiger als Stabilität, Berechenbarkeit und eine entschlossene Haltung – dies konnten die Oppositionsparteien überhaupt nicht verheißen. Doch noch viel mehr wiegen die klaren Erfolge Ungarns in der Wirtschafts‑, Familien- und Migrationspolitik. Die Ungarn erkennen in der bisherigen Bilanz der Regierung eine gute Grundlage für das weitere Prosperieren des Landes. Sie wollten sich die auch mit ihrer Hände Arbeit erlangten Erfolge nicht madigmachen lassen und sahen mit Sorge, dass all das, was sie aufgebaut haben, in falsche Hände geraten, diskreditiert und zerstört werden könnte. Sie erblickten in der Linksallianz von Ferenc Gyurcsány und den anderen Splitterparteien eine reale Gefahr für das Land und auch für ihre eigene wirtschaftliche Existenz. Daher gingen sie auf Nummer sicher und votierten im Geiste Konrad Adenauers für „Keine Experimente!“.
Wie weiter im deutsch-ungarischen Kontext?
Analysten wagten vor einigen Wochen kaum vorherzusagen, dass rund um die Wahlen in Ungarn die Positionen Ungarns und Deutschlands in einer so bestimmenden Frage wie dem Krieg in der Ukraine sehr ähnlich sein würden. Beide Länder verfolgen zusammen mit Österreich eine ausgewogene und pragmatische Politik, die sich in erster Linie rational und besonnen an den eigenen nationalen Interessen orientiert. Ein Energieembargo lehnen alle drei aus wohlüberlegten Gründen ab, hätte dieses doch weitreichende Folgen für die eigene Bevölkerung und für die Wirtschaft. In Ungarn wie in Deutschland betrachtet man in Regierungskreisen die als fordernd und belehrend wahrgenommene Art der ukrainischen Kommunikation als ein Hindernis für die Lösung des Konflikts. Beide Länder haben große Hilfsbereitschaft und Solidarität mit der Ukraine gezeigt. Die wirtschaftlichen Folgen des durch den Konflikt entstandenen Sanktionsregimes werden sich noch jahrelang bemerkbar machen. In vielen Ländern Europas sind die gestiegenen Energiepreise gerade für ärmere Haushalte zu einem echten Problem geworden. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Bundesregierung unter Olaf Scholz vielleicht ganz pragmatisch und im Sinne der Paradigmenwechsel der deutschen Politik wieder verstärkt den Partnern in der Region und auch Ungarn zuwendet. Zumindest sollte in der Ukrainekrise allen Verantwortlichen auch in Deutschland klargeworden sein, dass Ungarn keineswegs ein fremdenfeindliches Land ist, wie einige deutsche Medien dies gerade nach 2015 immer wieder nachzuweisen versuchten. Regierung, Kommunen, Bürger und Hilfsorganisationen leisten Großes, um den bisher mehr als 500.000 nach Ungarn geflüchteten Ukrainern beizustehen. Anders als 2015 sind es dieses Mal wirkliche Flüchtlinge, die ins Land kommen. Die Ungarn hatten also schon 2015 recht, als sie die Schengen-Außengrenzen verteidigten und ihre Vorbehalte gegen die „Willkommenspolitik“ artikulierten. Dies muss auch Berlin anerkennen. Ähnlich ergebnisorientiert sollte sich auch das Verhältnis zu den deutschen Unionsparteien gestalten lassen. Die programmatischen Grundsätze von Friedrich Merz in Gestalt seines neuen Buches sind außerhalb Deutschlands nur in Ungarn übersetzt und herausgegeben worden. Das ungarische Publikum blickt gespannt auf die Nach-Merkel-Zeit und wartet ab, wie sich der deutsche Konservatismus wieder fassen kann. Jedenfalls lassen die Überlegungen des neuen CDU-Bundesvorsitzen[1]den auch in Ungarn aufhorchen. Sein Bekenntnis zur Workfare-Gesellschaft, zu Markt und Eigentum, zum Voran[1]kommen durch Arbeit, zur Rolle der Nationalstaaten in Europa, zur Einwanderung und Migration sind Standpunkte, die in Ungarn von einer großen Mehrheit vertreten werden. Dies könnte eine gute Grundlage für die Wiederbelebung des strukturierten Dialogs zwischen den deutschen Unionsparteien und den ungarischen Regierungsparteien sein. Der überzeugende Wahlsieg in Ungarn ist in diesem Zusammenhang zumindest nicht hinderlich.
Europäische Perspektiven
Die Herausforderungen der CDU sind auch die Herausforderungen der Europäischen Volkspartei (EVP). Ähnlich wie in Deutschland hat man sich vom Zeitgeist in Richtung rot-grüner Ideen treiben lassen und muss dafür die Zeche in Gestalt schlechter Wahlergebnisse zahlen. Während in der CDU die Erkenntnis gereift scheint, dass nach den Merkel-Jahren eine Grundsanierung vieler programmatischer Eckpunkte angeraten ist, bleibt die Lage der EVP nebulös. Mit Friedrich Merz leitet nun ein bekennender Konservativer und erklärter Kritiker des Merkel-Kurses die größte EVP-Mitgliedspartei. In Brüssel blickte man immer mit Interesse auf die Prozesse in der CDU und erwartete naturgemäß den Fingerzeig, wie europäische Parteipolitik zu gestalten sei. Die Erkenntnis, dass einiges schief gelaufen ist in den letzten Jahren, scheint in Brüssel aber noch nicht ganz angekommen zu sein. Die Erneuerung der EVP kann aber nur von ihren Mitgliedern ausgehen, und so gesehen hat die CDU hier eine sehr eminente Position. Die desolate Lage der EVP mit nur noch sechs Ministerpräsidenten in der Europäischen Union ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Viel betrüblicher ist die Rolle ihres scheidenden Vorsitzenden Donald Tusk, der nicht nur seine polnische PO, sondern auch die EVP auf dem Gewissen hat. Er war sich auch nicht zu schade, gegen das einzige verbliebene EVP-Mitglied in Ungarn, die KDNP, aktiv Wahlkampf zu betreiben. Damit hat er sich gegen die Werte seiner eigenen Parteifamilie gestellt. Das Eingreifen in den ungarischen Wahlkampf an der Seite der ehe[1]maligen Rechtsradikalen von Jobbik dürfte als ein Tiefpunkt der zwiespältigen EVP-Präsidentschaft von Tusk in die Geschichte eingehen. Viel blamabler war jedoch seine Überzeugung, mit Péter Márki-Zay eine konservative Gegenbewegung mit EVP-Placebo aufbauen zu können. Dabei bietet ein Lokalpolitiker mit begrenztem Handlungsvermögen und überschaubarer politischer Basis sicherlich auch für die EVP keine erfolgsversprechende Perspektive. Die neue EVP-Führung müsste nach diesen Tiefschlägen wieder geordnete Verhältnisse schaffen und überlegen, inwieweit sie mit den Konservativen in Ungarn und auch im Europaparlament zusammenzuarbeiten gedenkt.
Ausblick
Nach 2024 jedenfalls werden die Karten auf den Tisch gelegt: Wer verfügt über wieviel Macht und Einfluss, nicht nur im Europaparlament, sondern auch im Europäischen Rat und in der zu bildenden Europäischen Kommission? Neue Formationen und Allianzen sind möglich. Die Ungarn spielen dabei eine sehr selbstbewusste und tragende Rolle, Budapest ist zum Treffpunkt konservativer Intellektueller und Vordenker geworden. Viktor Orbán ist der Dienstälteste im Europäischen Rat und hat in den Debatten ein großes Gewicht. Dieses wird durch den abermaligen Wahlsieg nur noch gestärkt. Kaum ein anderer konnte jemals in der europäischen Nachkriegsgeschichte eine so dauerhafte und nachhaltige Wählerunterstützung sein Eigen nennen. Eine viermalige Zweidrittelmehrheit mit 54 Prozent Wählerzuspruch sind wichtige Wegmarken seiner konservativen Politik, die mittlerweile nicht nur in Europa, sondern auch weltweit Beachtung findet.
Der Autor ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts am Mathias Corvinus Collegium
Der Text stammt in Erstveröffentlichung aus der Budapester Zeitung, unserem Partner der Medienkooperation (Ausgabe 8, 22.4.2022)
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