Horst D. Deckert

Auf Mallorca sind die Corona-Maßnahmen alles andere als locker, die Auswüchse gar desaströs

Bei uns auf den Balearen erinnert vor allem die Kinder nur noch das Tragen der Maske und das Hände desinfizieren an Corona. Für sie herrscht ansonsten normaler Alltag. Wir hatten seit Schuljahresbeginn im September keinen Tag Ausfall, auch nicht auf Grund von Quarantäne. Meine Tochter geht nachmittags ihren Hobbys nach, die da wären zweimal pro Woche Gymnastik (ca.15 Kinder), Informatik- und Englischkurs (kleine Gruppe). All diese Kurse sind seit September nie ausgefallen.

Diese Woche waren wir außerdem in einem großen Shoppingcenter Sommerkleidung kaufen und spontan noch im Kino. Wir brauchen keinen Test, Termin oder ähnliches dafür. Dann musste ich noch in den Media Markt und zweimal waren wir Mittag essen.

Und der Höhepunkt der Woche war der Gymnastikwettbewerb meiner Tochter in der Halle (!), an dem etwa 200 Kinder von der ganzen Insel teilnahmen. Eine ganz normale Woche für uns mit dem üblichen “Freizeitstress”.

Nächste Woche führen die Kinder ein Theaterstück im Freilufttheater auf und bestimmt wird noch einiges dazukommen. Seit Juni 2020 wurden weder die Kultur, Handel noch die Schulen wieder geschlossen, die Gastronomie und Handel über 700m2 hatten eine 6-wöchige Pause (Mitte Januar bis Ende Februar 2021). Die Schulen haben im Sommer 2020 gute Konzepte entwickelt. Es ist also nicht zufallsbedingt.

Die 7-Tage-Inzidenz der Balearen liegt bei 24, die 14-Tage-Inzidenz bei 55.

Boris Reitschuster | 26. April 2021

Ob die französische Königin Marie Antoinette (1755 bis 1793) ihrem Volk tatsächlich den Ratschlag gab, Kuchen statt Brot zu essen ist unklar. Sei’s drum: Der Satz „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!“ kam mir als erstes in den Sinn, als ich obigen Brief las. Mich, der ich seit fast sechs Jahren auf Mallorca lebe, hat besagter Brief regelrecht wütend gemacht.

Dabei kaufe ich der Dame ab, dass sie die Lage so empfindet, nur: Mit der Realität hat ihre Empfindung nichts zu tun. Das hätte Kollege Reitschuster mit zwei, drei Klicks herausfinden können, aber wahrscheinlich vertraute er seiner Bekannten blind und ist zudem überlastet. Wofür ich volles Verständnis habe, der Mann arbeitet ja auch von früh morgens bis spät in die Nacht. Was für mich eine Erklärung, aber keine Entschuldigung für seinen Artikel ist. Aber gut, lasst uns nun zur tatsächlichen Lage auf Mallorca kommen.

Paradiesische Zustände für Kinder?

Die Spanier sind ein freundliches und kinderliebes Volk. Es gibt kaum Verbrechen, sodass die Kinder selbst im Dunklen draußen spielen können. Und dann erst die Sonne, das Meer, die Wälder, die Berge, die vielen Tiere, oh ja, vor Corona war Mallorca für Kinder zweifellos ein kleines Paradies. Und nicht nur für sie.

Doch seit Beginn der sogenannten „Corona-Pandemie“ ist kaum noch etwas wie zuvor. Vor ein paar Tagen rief mich ein Kollege aus Deutschland an, der seinen Kindern die Maskenpflicht an Schulen nicht zumuteten möchte. Er fragte mich, ob Mallorca eine Alternative wäre. Ich musste ihn enttäuschen.

Kinder ab sechs Jahren müssen während des gesamten Schultags ihre Masken aufbehalten, die Fenster in den Klassenräumen sind ständig geöffnet, gegessen und im Pausenhof gespielt wird nur mit Kindern aus derselben Lerngruppe, die Gruppengrößen sind limitiert.

Mallorca Zeitung | 26. Februar 2021

Und auch was Reitschusters Informantin über außerschulische Aktivitäten erbrach, lässt sich nicht pauschalisieren:

Was der Pandemie zum Opfer fällt, sind fast alle schulischen Aktivitäten, die nicht im Lehrplan vorgeschrieben sind: Klassenfahrten, Ausflüge und auch viele AGs.

Mallorca Zeitung | 26. Februar 2021

Was sie ebenfalls „vergaß“ zu erwähnen: Die Schulen waren bis einschließlich August 2020 sechs Monate lang geschlossen. Erst seit September letzten Jahres sind sie durchgehend geöffnet. Zu einem hohen Preis, wie gesagt. Und für ältere Kinder ist die Lage noch übler:

Nicht vorgeschrieben ist der Präsenzunterricht* erst in den Stufen ab der achten Klasse. Hier können die Einrichtungen selbst entscheiden, ob sie teilweise auf Homeschooling setzen.

„Vor allem sorgen wir uns um die Lernfortschritte der älteren Schüler, die mehrere Tage in der Woche von zu Hause aus lernen sollen oder per Videokonferenz am Unterricht teilnehmen”, so Cristina Conti von der Elternvereinigung FAPA.

*Die Präsenzlehre ist eine Form der Lehre, bei der Lehrer und Lernende zur gleichen Zeit an einem bestimmten Ort zusammentreffen. Das Gegenteil von Präsenzlehre ist die Fernlehre oder Fernunterricht.

Mallorca Zeitung | 26. Februar 2021

Dazu müsst Ihr wissen: Das spanische Schulsystem ist eh nicht das beste der Welt, ums mal zurückhaltend zu formulieren. (Eltern, denen etwas an ihren Kindern liegt, empfehle ich spätestens ab Klasse 8 eine Privatschule. Für die Ihr 600 Euro pro Monat einplanen solltet.)

Regel-Wirrwarr in höchster Vollendung

Wie die aktuellen Maßnahmen auf der Insel lauten? Ja, was weiß denn ich? Die ändern sich hier dauend! Wartet, ich schau mal kurz …

Maskenpflicht

Seit Anfang Juli gilt auf Mallorca eine generelle Maskenpflicht außerhalb der eigenen vier Wände, auch im Freien und wenn der Abstand zu anderen Menschen eingehalten werden kann. Verstöße werden mit 100 Euro Bußgeld geahndet.

Die Maskenpflicht an Stränden und Swimmingpools wurde am Dienstag, 30. März, zunächst spanienweit verschärft. Doch nach Verhandlungen zwischen Madrid und der Balearen-Regierung gilt zumindest auf den Inseln folgendes: Wer allein ist oder zusammenlebt und mehr als 1,5 Meter entfernt vom nächsten Besucher liegt oder sitzt, darf die Maske abziehen. Personen, die nicht zusammenleben, müssen an Stränden die Masken aufbehalten.

Mallorca Magazin | 19. April 2021

Das sollte erst einmal reichen, um Euch ein Gefühl für den Irrsinn auf der Insel zu geben. Wer mehr wissen will, klickt auf: Das sind die aktualisierten Corona-Regeln auf Mallorca

Widerstand auf Mallorca? Fehlanzeige

Was machen die Deutschen einen Wirbel um die gerade eingeführte Ausgangssperre! Mit Recht, natürlich. Ich erwähne das auch nur, weil ich mich gar nicht mehr dran erinnern kann, wann wir hier auf der Insel keine Ausgangssperre hatten. Muss also schon eine Weile her sein. Und? Habt Ihr von Demonstrationen dagegen gehört? Von Verfassungsrechtlern gar, die gegen die Ausgangssperre klagten? Ich auch nicht.

Menschen meiner Generation glauben gern, die Spanier wären so wie sie in dem Comic Asterix in Spanien gezeichnet wurden. Als ein stolzes und rebellisches Volk. Das mag auch einst so gewesen sein, heutzutage zumindest ist es nicht mehr so. Mag an der Franco-Diktatur liegen, die das Land von 1936 bis 1975 im Griff hatte, ich weiß es nicht. Fakt ist: Wer glaubt, die Deutschen seien ein obrigkeitshöriges Volk, der kennt der Spanier nicht.

Dabei hätte die Mallorquiner allen Grund sich zu erheben. Vor Corona erwirtschaften sie eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen Spaniens. Was sie einzig dem Tourismus verdanken. Mehr als ein Dreiviertel der Menschen leben direkt oder indirekt vom Torismus. 1960 besuchten rund 360 000 Urlauber die Insel, 2019 waren es etwa 13 Millionen. 2020 brachten die Corona-Maßnahmen den Tourismus zum Erliegen.

Da könnt Ihr Euch vorstellen, wie es den Normalbürgern auf der Insel inzwischen geht. Ich wette, Reitschusters Informantin ist nicht vom Tourismus abhängig und schaut auch nicht nach links und rechts, deshalb kam mir die Sache mit dem Brot und dem Kuchen in den Sinn, als ich ihren Brief las.

Von der Prostitution kann die Dame übrigens auch nicht abhängig sein. Preise für Freudenmädchen sind stets ein guter Indikator dafür, wie gut es einer Gesellschaft geht. In Palma, der Hauptstadt Mallorcas, gibt es Mädchen, die sich für 15 Euro anbieten. Für Verkehr wohlgemerkt! Das ist Dritte Welt-Niveau.

All das ist kein Geheimwissen. So schrieb der Spiegel bereits im Dezember letzten Jahres:

Corona trifft das Touristenziel Mallorca besonders stark: Die soziale Not auf der Urlaubsinsel hat Berichten zufolge dramatisch zugenommen. Bedürftig seien mittlerweile auch Rentner und Mittelklasse-Familien.

Und wem das „Bedürftig“ zu abstrakt erscheint, zwei Monate später ging der Spiegel in seinem Artikel Insel der Hunrigen in die Tiefe:

Erst kam das Virus, dann die Not: Die Touristeninsel Mallorca leidet wie keine andere spanische Region unter der Pandemie. NGOs berichten von Hunger und Armut, immer mehr Einheimischen droht die Zwangsräumung.

Vanessa Priego Martos sagt, sie müsse zurzeit oft weinen. Die 35-Jährige lebt mit ihrer fünfköpfigen Familie in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Port de Pollenca, ganz im Norden von Mallorca. Doch wenn sie an ihre Zukunft denke, erzählt sie, kämen ihr oft die Tränen. Vor der Pandemie arbeitete sie in einem Hotel, ihr Mann als Oberkellner. Seit Frühjahr 2020 werden sie nicht mehr gebraucht.

Zwar sind die Infektionszahlen gesunken, doch die Touristenmaschine Mallorca steht still. Besucher gibt es kaum noch. Priego Martos sagt, sie sitze mit ihrer Familie viel zu Hause, wie es weitergehen soll, sei unklar. Als Saisonkräfte hätten sie und ihr Mann sich im Winter meist arbeitslos gemeldet, im Sommer dann wieder gearbeitet. So klappte es bislang immer irgendwie. Doch wegen der jährlichen Unterbrechung im Winter bekommen sie kein Arbeitslosengeld. Bis die Grundsicherung kam, dauerte es Monate. Und sie reicht nicht.

Neulich telefonierte ich mit einer Frau, die Lebensmittel sammelt um sie an Bedürftige weiterzuleiten. Die erzählte mir von einem Mann, der weinte, weil er zwei Brote haben wollte, aber nur eines bekam. Spätestens jetzt sollte jeder Leser meine Wut auf Reitschusters Artikel verstehen.

Fazit

Richtig ist, dass sich die Lage auf Mallorca für Menschen, die nicht vom Tourismus leben, tatsächlich ein klein wenig angenehmer als in Deutschland anfühlt. Das liegt an zwei Dingen.

1. Unter der Sonne fühlt sich jeder Scheiß angenehmer als im grauen Deutschland an.

2. Die Menschen gehen entspannter miteinander um. Wenn ich ohne Maske spazieren gehe, würde mich kein Spanier belehren oder auch nur schief anschauen.

Dennoch ist Mallorca weit davon entfernt, wieder eine Insel der Seligen zu sein, wie sie Reitschuster dargestellt hat. Ich hoffe, er stellt die Sache richtig.

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