
Von LUCIANO KALUZA* | Zbigniew Brzezinski, einer der einflussreichsten geopolitischen Denker des 20. Jahrhunderts, analysierte in seinem Buch „Das große Schachbrett“ (1997) die globale politische Dynamik im Licht der amerikanischen Vorherrschaft und der strategischen Interessen auf dem eurasischen Kontinent. Er betrachtete Eurasien – den riesigen Landraum von Europa bis Asien – als geopolitisches Zentrum der Welt. Wer diesen Kontinent kontrolliert, so seine These, sichert sich die globale Dominanz. Brzezinski argumentiert, dass die USA ihre Macht durch geschickte geopolitische Strategien bewahren und das Entstehen von Rivalen verhindern müssen, die ihre Interessen gefährden könnten.
In diesem Zusammenhang sieht er den Balkan als Teil eines größeren, konfliktträchtigen Raums, den er „Eurasischen Balkan“ nennt. Dieser Begriff umfasst nicht nur Südosteuropa, sondern auch den Kaukasus, Zentralasien und Teile des Nahen Ostens. Für Brzezinski ist diese Region ein instabiler Schmelztiegel ethnischer und religiöser Spannungen, aber zugleich ein geopolitischer Schlüssel wegen ihrer reichen natürlichen Ressourcen – wie Öl und Gas – und ihrer strategischen Lage als Brücke zwischen Europa und Asien.
Er warnte, dass Großmächte wie die USA, Russland, China und sogar die Europäische Union versuchen würden, die Entwicklungen in diesem Raum zu beeinflussen, um ihre eigene Macht zu sichern oder auszubauen. Bosnien und Herzegowina (BiH) zeigt sich hier als ein besonderes Beispiel: Internationale Kontrolle wurde dort unter dem Vorwand der Stabilisierung nach dem Krieg (1992–1995) eingeführt, dient aber in Wahrheit dazu, den Einfluss externer Akteure in dieser strategisch wichtigen Region aufrechtzuerhalten.
Geopolitischer Bauer
Bosnien und Herzegowina lässt sich durch Brzezinskis Idee der „erzwungenen Stabilität“ verstehen. Darunter versteht er ein System, in dem internationale Kräfte ein Krisengebiet lenken, um weitere Konflikte zu vermeiden, ohne dem Land volle Selbstbestimmung zu gewähren. Die Präsenz von Institutionen wie dem Büro des Hohen Repräsentanten (OHR) – einer internationalen Aufsichtsbehörde, die nach dem Dayton-Abkommen 1995 eingerichtet wurde – und von EU-Militärkräften (EUFOR) verdeutlicht, dass BiH nach fast 30 Jahren noch immer nicht vollständig souverän ist. Dies passt zu Brzezinskis Ansicht, dass bestimmte Regionen wegen ihrer strategischen Bedeutung nicht unabhängig gelassen werden dürfen.
Das OHR verfügt über weitreichende Befugnisse, etwa die Möglichkeit, Gesetze zu erlassen oder Politiker abzusetzen. Es agiert als verlängerter Arm westlicher Staaten, insbesondere der USA und der EU, um sicherzustellen, dass BiH unter einem gewissen Grad internationaler Aufsicht bleibt. Diese Kontrolle wird mit der Notwendigkeit der Stabilität gerechtfertigt, schränkt jedoch die politische Unabhängigkeit des Landes ein und macht BiH zu einem „geopolitischen Protektorat“. Brzezinski betonte, dass solche Arrangements Großmächten erlauben, Stabilität ohne direkte militärische Besatzung zu gewährleisten, während sie ihren Einfluss auf politische Entscheidungen behalten.
Verlust des Fokus
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine 2022 hat sich die internationale Aufmerksamkeit vom Balkan weg und nach Osteuropa verlagert. Der Westen konzentriert sich nun darauf, die Ukraine militärisch zu unterstützen und russischen Einfluss einzudämmen. Regionen wie der Westbalkan, zu dem BiH gehört, gerieten dabei in den Hintergrund. Der früher starke „geopolitische Protektionismus“ – also die intensive Überwachung und Steuerung – in BiH hat an Kraft verloren, da Ressourcen und politisches Kapital auf den größeren Konflikt in der Ukraine umgeleitet wurden.
Dennoch sind die Kontrollmechanismen in Bosnien nicht verschwunden. Statt direkter diplomatischer oder wirtschaftlicher Eingriffe stützen sich westliche Mächte weiterhin auf das OHR, auch wenn dessen aktueller Hoher Repräsentant, Christian Schmidt, umstritten ist.
Kritiker – insbesondere die Republik Srpska, eine der zwei Entitäten BiHs – sehen seine Ernennung als illegitim an, da sie ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats erfolgte, was gegen internationale Normen verstößt. Dies zeigt, dass Zwang und politische Manipulation trotz nachlassender Aufmerksamkeit zentrale Werkzeuge der internationalen Gemeinschaft in BiH bleiben.
Vergleich mit dem Sudan
Ein anschauliches Beispiel dafür, wie langfristige internationale Kontrolle einen Staat destabilisieren kann, ist der Sudan. Über Jahrzehnte stand das Land unter dem Einfluss großer Mächte, die durch politische und wirtschaftliche Interventionen, Sanktionen und aufgezwungene Verwaltungsmodelle die internen Spannungen verschärften. 2011 wurde der Sudan unter internationalem Druck geteilt, und der Südsudan erlangte die Unabhängigkeit.
Doch anstatt Frieden zu bringen, führte dies – auch durch fortgesetzte Einmischung externer Akteure – zu neuen Konflikten. Der Sudan blieb in inneren Kämpfen gefangen, während der Südsudan in einen Bürgerkrieg abrutschte. Ähnliche Muster sind in Ländern wie Irak, Libyen, Afghanistan oder Syrien zu beobachten: Internationale Kontrolle, die als Stabilisierung gedacht war, endete oft im Chaos, wenn sie ohne klare Rückzugsstrategie und als Mittel der Dominanz eingesetzt wurde.
Desintegration
Erfahrungen mit langfristiger internationaler Verwaltung zeigen, dass sie einen Staat nicht stärkt, sondern zerfragt. Bosnien und Herzegowina, seit dem Dayton-Abkommen 1995 unter externer Aufsicht, steuert auf ein ähnliches Schicksal zu. Die ursprüngliche Idee des Abkommens war, durch die Macht des Hohen Repräsentanten eine funktionierende, stabile Nation zu schaffen. Doch das Gegenteil trat ein: Politische Gräben wurden vertieft, und der natürliche Aufbau unabhängiger, technokratischer Institutionen wurde blockiert.
Ein deutliches Zeichen dafür ist die wachsende Eigenständigkeit der Republik Srpska (RS), einer der zwei Entitäten BiHs neben der Föderation Bosnien und Herzegowina. Jahrelange Versuche der internationalen Gemeinschaft, eine zentralisierte „einheitliche“ BiH durchzusetzen, scheiterten. Stattdessen hat sich die RS als eigenständige politische, wirtschaftliche und institutionelle Einheit etabliert, mit zunehmendem Selbstbewusstsein und internationaler Unterstützung, etwa aus Russland oder Serbien. Sie lehnt Entscheidungen des umstrittenen Hohen Repräsentanten sowie Gerichtsurteile ab, die von westlichen Diplomaten beeinflusst wurden, und zeigt damit, dass sie ihre Zukunft nicht in einem System externer Kontrolle sieht.
Der Sudan und andere Beispiele verdeutlichen, dass ein künstlich gestalteter Staat unter internationalem Druck nicht bestehen kann. Sobald die äußeren Kräfte die Struktur nicht mehr stützen, zerfällt sie in ihre Bestandteile, die bereits unabhängig agieren. Der Weg der Republik Srpska hin zu größerer Autonomie – oder gar Unabhängigkeit – erscheint daher als logische Folge einer internationalen Politik, die ihre Vision eines funktionalen BiH nicht verwirklichen konnte.
Fazit
In der aktuellen Lage ist Bosnien und Herzegowina ein Paradebeispiel für ein gescheitertes geopolitisches Experiment. Die internationale Gemeinschaft bemüht sich, den Anschein von Stabilität zu wahren, doch in Wirklichkeit steckt das Land in einer dauerhaften politischen Lähmung. Mit der Zeit werden natürliche politische Entwicklungen die Republik Srpska prägen, die mit funktionierenden staatlichen Institutionen und wirtschaftlicher Stabilität zunehmend ihre eigene Zukunft gestaltet. Ohne eine Neuordnung der inneren Verhältnisse – frei von externen Einflüssen – wird dieser Prozess wahrscheinlich zu ihrer vollständigen politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Unabhängigkeit führen.
*Luciano Kaluža ist Diplomat und ehemaliger Generalkonsul von Bosnien und Herzegowina in Frankfurt. Er hat einen Masterabschluss in Internationalen Beziehungen und Wirtschaftsdiplomatie. Dieser Artikel ist im Original am 26. März erschienen in Glas Srpske.

