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Das neue deutsche Soldaten-Lotto
Morgen sollte der Bundestag über die neue Wehrpflicht debattieren, doch jetzt muss zuvor erst noch die Koalition einig werden. Zunächst hatten sich Unterhändler aus Union und SPD auf ein Losverfahren geeinigt, aber dagegen hat der Genosse Verteidigungsminister jetzt Einwände.
von Peter Grimm
Ehrlich gesagt, als zum Wochenbeginn gemeldet wurde, die Bundesregierung wolle jetzt die Wehrpflicht als eine Fragebogen-Ausfüllpflicht für junge Männer mit anschließender Lotterie organisieren, konnte ich es nicht glauben. Wer gewinnt, darf weiter sein Leben leben, wie er möchte, wer verliert, muss zur Musterung und bekommt – wenn er tauglich ist – den Einberufungsbefehl. Das musste doch Satire sein. Aber heutzutage weiß jeder Beobachter der Zeitläufte natürlich nach der ersten Schrecksekunde, dass es die Regierenden ernst meinen. Leider spaßen sie nicht. Oder diesmal vielleicht doch?
Gestern am späten Nachmittag wurde die Pressekonferenz, auf der Koalitionsvertreter ihre Wehrpflicht-Lotterie-Pläne offiziell verkünden wollten, überraschend abgesagt. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sei, so hieß es, überhaupt nicht einverstanden mit dem Ergebnis, auf das sich die SPD-Unterhändler eingelassen hätten. Was trieb den Genossen Minister da an? Ein Aufflackern von gesundem Menschenverstand?
Es gibt ja gute Gründe für regierende deutsche Politiker, auf den Ausritt auf diesem politischen Steckenpferd zu verzichten. Einer ist die Wehrgerechtigkeit. Hat sich der Minister daran erinnert, was das war?Oder hatten es nur die Unterhändler-Kameraden von CDU und SPD vergessen?
Ein Zwangsdienst, den nach Gesetz alle jungen Männer eines Jahrgangs ableisten müssen, aber ein größerer Teil von ihnen per Lottoglück davon befreit wird, bietet keine Wehrgerechtigkeit. Das wusste man schon im Jahre 2009. Und auch da war es kein neues Problem, aber in selbigem Jahr hatte ein Kölner Gericht eine solche Praxis für verfassungswidrig erklärt. Damals wurde zwar offiziell nicht die Lottofee in den Dienst genommen, aber für die Betroffenen erschien es als Zufall oder Willkür, wonach sich entschied, ob sie einen Einberufungsbefehl bekamen oder nicht. Der Spiegel titelte jedenfalls schon damals:
„Musterungslotterie: Willkür statt Wehrgerechtigkeit“.
Da schien es bis gestern Abend, dass die folgende 16 Jahre alte Meldung auch eine Nachricht aus der nahen Zukunft sein könnte:
„In einem Beschluss, der SPIEGEL ONLINE vorliegt, schreiben die Richter: ‚Wenn nur noch eine Minderheit Dienst leistet und der Rest gesetzlich von der Dienstleistung befreit ist, so kann von einer gleichen Last für alle pflichtigen Bürger nicht mehr gesprochen werden.’ Zwei junge Männer hatten in Köln gegen ihre Einberufung geklagt – mit Erfolg. Das Gericht setzte die Einberufung der beiden aus und rief gleichzeitig das Bundesverfassungsgericht an.“
Zur Jahrtausendwende die nächste GerechtigkeitsfrageDas Verfassungsgericht fand damals die Verfassungswidrigkeit durch mangelnde Wehrgerechtigkeit im konkreten Fall zwar nicht hinreichend belegt, aber die Diskussion um das Thema hatte sich in diesen Jahrzehnten schon in eine Richtung entwickelt, dass dies nicht mehr als Dauer-Freibrief für ein „Weiter so“ taugte.Die Bundeswehr hatte in Wehrpflicht-Zeiten fast immer mehr Wehrpflichtige, als sie einberufen konnte. Selbst mit den großen Truppenstärken im Kalten Krieg gelang ihr das nicht, denn dazu waren die einzuberufenden Jahrgänge zu geburtenstark. Mangelnde Wehrgerechtigkeit war also von Anfang an ein Thema für diese deutsche Nachkriegsarmee, das die Wehrpflicht mehr und mehr infrage stellte. Insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges. Die Truppenstärke schmolz so stark ab, dass auch in den zunehmend geburtenschwächeren Jahrgängen viele Wehrpflichtige, die den Wehrdienst nicht verweigerten, keine Einberufungsbefehle mehr bekamen.Nach der Jahrtausendwende kam noch eine weitere Gerechtigkeitsfrage hinzu. Nachdem eine offenbar kampfeslustige Frau für sich und ihre Geschlechtsgenossinnen vor dem Europäischen Gerichtshof das Recht erstritten hat, gleichberechtigt in Kampfverbände der Bundeswehr aufgenommen zu werden, stellte sich die logische Frage: Wenn Frauen in der Armee alles machen können und dürfen, warum ist dann der Militärdienst nur für Männer verpflichtend?Seit 2001 dienen Frauen bei der kämpfenden Truppe. Eine reine Männerwehrpflicht ist seither nur noch eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, auch wenn sie im Grundgesetz festgeschrieben ist. Bevor diese Frage allzu stark zu einem Teil der Wehrgerechtigkeits-Debatte heranwachsen konnte, stand dann aber im Jahr 2011 die Aussetzung der Wehrpflicht auf dem Plan des damaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU). Ohne praktizierte Wehrpflicht konnte es auch keine Verletzung der Wehrgerechtigkeit mehr geben. Das Problem schien gelöst. Im Grunde ging jeder davon aus, die lediglich ausgesetzte Wehrpflicht bleibe de facto abgeschafft. Dass ihre Wiedereinsetzung in absehbarer Zeit zum Thema werden könnte, mochte damals kaum jemand ernsthaft glauben.
Musterungen für alle?
Inzwischen nehmen die Koalitionsparteien wieder Kurs auf eine neue Wehrpflicht. Würde man diese aber umgehend einführen, müsste sie wohl automatisch an fehlender Wehrgerechtigkeit leiden. Nicht weil es grundsätzlich zu viele Wehrpflichtige gäbe, sondern weil die Bundeswehr derzeit noch gar nicht in der Lage wäre, Erfassung, Musterung, Einberufung, Unterbringung und Ausbildung der in Frage kommenden Jahrgänge zu leisten.
Deshalb kamen die Koalitionäre zunächst bekanntlich auf die Idee, allen potentiellen Wehrpflichtigen einen Fragebogen zuzusenden, der verpflichtend auszufüllen sei. Und dort sollten sie auch erklären, inwieweit sie zum Dienst bei der Truppe bereit wären. In der nächsten Stufe war auch eine Musterung geplant, aber zunächst, so hieß es, würde die Bundeswehr versuchen, den Personalbedarf mit Freiwilligen zu decken. Erst, wenn das nicht gelingen sollte, würde man beginnen, über den weiteren Vollzug einer Pflicht nachzudenken.
Die Unionsparteien wollten dann aber doch etwas mehr Wehrpflicht wagen, worüber Koalitionsunterhändler sprachen und sich auf das oben beschriebene Lotterie-Modell verständigten. Die Verfechter dieses Kurses wollen sich nicht so lange mit dem Werben um Freiwillige aufhalten. Es hieß dann zu Wochenbeginn, dass die Bundeswehr nicht mehr alle jungen Männer mustern solle, sondern nur die, die sie zuvor zur Einberufung ausgelost hat. Das wäre eine Entlastung für die Verwaltung und das Einberufen könnte schneller beginnen.
Doch nun hat der Bundesverteidigungsminister plötzlich Einwände. Er wolle u.a. die Musterung aller potentieller Rekruten eines Jahrgangs, so hieß es, um den Überblick darüber zu bekommen, wie viele taugliche Wehrpflichtige es überhaupt gibt. Das klingt durchaus sachlich nachvollziehbar, dürfte aber keine neue Erkenntnis sein. Vielleicht wollte er einfach nur seinen guten Namen nicht in späteren Geschichtsbüchern mit der Einführung einer deutschen Soldaten-Lotterie in Verbindung gebracht sehen.
Jetzt soll weiter verhandelt werden. Vielleicht parallel zum Gesetzgebungs-Prozess im Bundestag, vielleicht wird der auch noch einmal verschoben. Das scheint in diesem Moment, in dem diese Zeilen geschrieben wurden, nicht ganz klar zu sein.
Doch egal, welchen Weg die Koalitionäre nehmen: Vor dem Wehrgerechtigkeits-Problem stehen sie in jedem Falle, solange die Bundeswehr einen Teil eines Jahrgangs noch gar nicht einberufen kann, es aber mit dem anderen Teil unbedingt tun möchte. Da bleibt es am Ende immer bei einer Art Lotterie.
Soldat in zwei Armeen?
Zudem bekommen die Wehrpflicht-Einführer auch neue Wehrgerechtigkeits-Probleme. Die Frage, warum diese Wehrpflicht nur für Männer und nicht für Frauen gilt, dürfte immer drängender gestellt werden. Für eine Einführung der Wehrpflicht für alle Geschlechter gibt es derzeit jedoch keine verfassungsändernde Mehrheit im Bundestag. Aber darf es deshalb eine eklatante Ungleichbehandlung der Geschlechter geben?
Und was ist mit den vielen Zuwanderer-Kindern, die bei ihrer Geburt den deutschen Pass bekamen und die Staatsangehörigkeit der Eltern behalten durften? Wenn die türkische Armee den jungen Mustafa aus Essen als Türken zum Dienst ruft, verzichtet die Bundeswehr dann auf den Mustafa, den Deutschen, weil dem jungen Mann kein Dienst in zwei Armeen zuzumuten ist? Oder verzichtet die Bundeswehr bei Doppelstaatlern gleich ganz? Auf Einberufungsbefehle fremder Truppen hat sie schließlich keinen Einfluss. Das wäre dann ein Doppelstaatler-Privileg.
Wenn in früheren Jahren Gegner der generellen Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit auf die unklare Loyalität im Konflikt- oder Kriegsfall hinwiesen, wurden sie als Ewiggestrige ausgelacht, weil es solch schwerwiegenden Konflikte gar nicht gäbe. Jetzt sind aber plötzlich die früheren Ewigmorgigen auf Wehrhaftigkeits- und Kriegstauglichkeits-Kurs. Wie geht denn der deutsche Staat jetzt damit um, wenn der Wehrpflichtige Igor auch einen russischen Pass besitzt? Darf Igor dann zu Hause bleiben, weil seine russische Seele möglicherweise zu stark handlungsleitend sein könnte?
Mit dem Dienst in einer fremden Armee scheint ein Deutscher auch keine Rechtsverletzung zu begehen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages schrieb vor drei Jahren in einer Ausarbeitung:
Im deutschen Strafrecht existiert kein Straftatbestand, der es deutschen Staatsbürgern verbieten würde, sich ins Ausland zu begeben, um sich dort einer regulären fremden Streitkraft anzuschließen und als Teil derselben sodann an Kampfhandlungen teilzunehmen.
Unter Strafe gestellt ist lediglich das „Anwerben für fremden Wehrdienst“: Gemäß § 109h StGB4 wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, wer zugunsten einer ausländischen Macht einen Deutschen zum Wehrdienst in einer militärischen oder militärähnlichen Einrichtung anwirbt. (…)
Sinn und Zweck der Norm wurden in der Gesetzesbegründung dahingehend beschrieben, dass ‚die Anwerbung Deutscher für einen ausländischen nationalen Wehrdienst nicht nur im Interesse der Geworbenen unerwünscht ist, die meistens unter Ausnutzung ihrer Notlage zur Eingehung unüberlegter und voreiliger militärischer Verpflichtungen im Ausland veranlaßt werden, sondern auch eine Gefahr für die Neutralität Deutschlands und damit für die Erhaltung seines Friedens‘ darstellen könne.“
Noch ein Privileg?
Begeht die türkische Behörde, die einen türkischen Bürger in Deutschland an dessen Wehrpflicht in seiner oder der Vorfahren Heimat erinnert, eine Straftat, wenn dieser Mann auch Deutscher ist? Wie löst es sich auf, wenn jeweils zwei Staaten von wehrpflichtigen Doppelstaatlern Militärdienst einfordern?
Diese Fragen an die neue Wehrpflicht stellten sich an die alte Wehrpflicht kaum, denn damals war die doppelte Staatsangehörigkeit noch der Ausnahme- und nicht der Regelfall bei Zuwanderern und ihren Nachkommen. Jetzt kauft man sich auch diese Fragen mit der Wehrpflicht ein, schließlich hat die deutsche Zuwanderungspolitik für viele, viele neue Doppelstaatler gesorgt.
Natürlich lässt sich das Problem pragmatisch lösen, indem man auf den Wehrdienst von Doppelstaatlern oder bestimmten Doppelstaatlern generell verzichtet. Aber das wäre dann wiederum ein Doppelstaatlerprivileg, das der Wehrgerechtigkeit widersprechen dürfte.
Aber derzeit ringt die Regierung ja erneut mit sich selbst um die Ausgestaltung der Wehrpflicht und es sieht so aus als könnte die auch der nächste Rohrkrepierer dieser Koalition werden. Helm ab zum Gebet!
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