Horst D. Deckert

Der Fall Schlesinger und das eherne Gesetz der Oligarchie

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Oder: Korrumpieren große Organisationen zwangsläufig? In den letzten Wochen wurde der Fall der nun ehemaligen rbb-Intendantin und ARD-Vorsitzenden Patricia Schlesinger in den Medien lang und breit diskutiert. Dabei gab es viel Empörung über die Person Schlesingers. Aber war dies wirklich nur ein Einzelfall, ausgelöst durch eine charakterliche Schwäche eines einzelnen Menschen? Unser Autor Udo Brandes ist da anderer Meinung. Dieser Fall sei kein Zufall, sondern tendenziell eher der Normalfall in großen Institutionen. Und dies habe mit einer soziologischen Gesetzmäßigkeit und den Verlockungen der Macht zu tun.

1911 legte der deutsch-italienische Soziologe Robert Michels sein Hauptwerk Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens vor.

In dieser Studie untersuchte er Organisationen der deutschen Arbeiterbewegung, insbesondere die Sozialdemokratie, und verglich sie mit entsprechenden Organisationen in anderen Ländern. Die Schlussfolgerung aus diesen Untersuchungen war das Eherne Gesetz der Oligarchie (ehern = eisern im Sinne von ewig andauernd). Man kann dieses Gesetz meines Erachtens auch auf andere Organisationen als Parteien und Gewerkschaften anwenden (Und meines Wissens nach wurde dies in der soziologischen Forschung auch gemacht.)

Was besagt dieses Gesetz?

  1. Große Organisationen kommen nicht ohne eine Bürokratie aus. Sie brauchen diese, um effizient arbeiten zu können.
  2. Mit zunehmender Größe der Organisation weitet sich die Bürokratie aus und ihre Macht nimmt zu.
  3. Mit der zunehmenden Macht korrumpieren die Machtträger und benutzen die Organisation zunehmend für ihre Interessen. Anders formuliert: Die Bürokratie dient nicht mehr der Organisation und deren Zweck, sondern die Organisation dient der Bürokratie und deren Interessen.

Oder um es mit den Worten von Rudolf Michels zu sagen:

„Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie. Im Wesen der Organisation liegt ein tief aristokratischer Zug“ (Michels, S. 33).

Beim rbb konnte man dies geradezu mustergültig beobachten: Die Intendantin und der engere Führungszirkel benutzten die Organisation ziemlich skrupelos für eigene Interessen. Ich erspare mir die detaillierte Aufzählung der Vorwürfe. Sie sind ja durch die vielen Presseberichte ohnehin den meisten Lesern bekannt.

Ich glaube nicht, dass Patricia Schlesinger und das Verhalten des um sie gescharrten Führungszirkels eine große Ausnahme ist. Ich bin mir sicher: Man wird ganz ähnliche Verhältnisse in den anderen Rundfunkanstalten finden. Beim NDR kracht es aktuell im Funkhaus Kiel wegen der Zensur der Berichterstattung über die Entlassung eines Ministers der schleswig-holsteinischen Landesregierung. (Details dazu siehe im Bericht der NachDenkSeiten hier). Am Wochenende wurden weitere Vorwürfe bekannt, die das NDR-Funkhaus in Hamburg betreffen (die Meldung siehe hier).

Drehbuchaufträge für den Ehemann

Aber es gab beim NDR auch schon einen ähnlichen Skandal wie beim rbb. 2009 wurde die damalige Fernsehspielchefin des NDR, Doris Heinze, fristlos entlassen. Ihr wurde vorgeworfen, ihren Ehemann mit Drehbuchaufträgen versorgt zu haben (siehe dazu den Bericht der FAZ hier). Dass es ihr Ehemann war, der die Drehbuchaufträge erhielt, wusste das Paar mit einem Pseudonym und weiteren Maßnahmen zu verschleiern. Dabei wurde auch etwas sichtbar, was Juristen wohl mit dem Begriff „kriminelle Energie“ bezeichnen würden. Die FAZ beschreibt dies in ihrem Bericht so:

„Von der verschleierten Identität des Drehbuchautors „Niklas Becker“, für den man auch noch einen Wohnort in Kanada erfand und der dem Sender gegenüber nur über eine Anwaltskanzlei auftrat, wusste im NDR – außer dessen Ehefrau Doris Heinze natürlich – offenbar niemand. Es war ein geschlossenes System“.

Und auch Doris Heinze war beileibe kein „kleines Licht“ in der Branche. Nochmal die FAZ dazu:

„Doris Heinze ist nicht irgendwer, sie ist eine Galionsfigur im deutschen Fernsehspiel. Sie war selbst Autorin und leitete fünf Jahre lang das nordrhein-westfälische Filmbüro. Als Fernsehspielchefin des NDR wirkte sie seit 1991, sie zählte zu den einflussreichsten Köpfen der hiesigen Produktionslandschaft, die von ihr betreuten Filme trugen zur Reputation des Senders bei, etliche Fernsehspiele entstanden unter ihrer Verantwortung, auch der „Tatort“ und der „Polizeiruf“ des NDR. Mit ihren Verbindungen band Doris Heinze zahlreiche prominente Schauspieler wie etwa die als „Tatort“-Kommissarin ermittelnde Maria Furtwängler an den NDR. Die drei aktuellen „Tatort“-Figuren des Senders, gespielt von Maria Furtwängler, Mehmet Kurtulus und Axel Milberg, gehen auf die abgesetzte Fernsehspielchefin zurück.“

Dann können wir endlich so leben, wie es uns zusteht“

Mir fiel zu den Fällen Patricia Schlesinger und Doris Heinze eine Szene aus einem Spielfilm ein, dessen Titel ich leider vergessen habe. Der Film spielt ungefähr um 1900 in der österreichischen K.u.K.-Monarchie. Unter anderem ging es in dem Film um eine verarmte Adelige und ihren Sohn, der Offizier war. Die Mutter plante für den Sohn die Heirat mit der Tochter eines sehr reichen Bourgeois, womit der Sohn durchaus einverstanden war. Soziologisch ausgedrückt: Sie planten, ihr symbolisches Kapital der adeligen Herkunft in Bares umzumünzen. Die Mutter sagte bei einem Gespräch über die geplante Hochzeit folgenden Satz, der sich mir einprägte:

„Dann können wir endlich so leben, wie es uns zusteht.“

Ich glaube genau das drückt auch heute noch die Haltung der Eliten in unserer Gesellschaft aus: Sie glauben, es stünden ihnen Privilegien zu. Dies ist meines Erachtens eine sozial erworbene und verinnerlichte Haltung und kein rein individuelles Phänomen. Es ist sozusagen so etwas wie eine Klassenmoral. Wir, die wir gut sind…. (Wobei ich mit „gut“ jetzt die Bedeutung „leistungsstark“ und „verdientermaßen“ meine). Es scheint ja auch so zu sein, dass Patricia Schlesinger keinerlei Unrechtsbewusstsein hat. Darüber hinaus scheint mir aber auch die Psychologie der Macht bzw. die psychologische Wirkung der Macht eine Rolle zu spielen.

Ein interessantes Phänomen bei solchen Skandalen ist, welches enorme Risiko dabei die involvierten Akteure eingehen. Patricia Schlesinger hat sich zwar mit einer Gehaltserhöhung von 16% und mutmaßlich noch Bonizahlungen und anderen Vergünstigungen schon ganz erhebliche Zusatzeinnahmen verschafft. Aber wenn man dies ins Verhältnis setzt zu dem, was sie dafür riskiert und tatsächlich verloren hat, ist das geradezu ein Witz: Sie hat ihre ohnehin hochdotierte Position, die mit vielen Privilegien und hohem Ansehen verbunden war, verloren. Ihre Pensionsansprüche sind wahrscheinlich futsch. Und sie wird möglicherweise strafrechtlich belangt. Aber vor allem ist sie gesellschaftlich ruiniert. In anderen Fällen, die man immer wieder in der Presse lesen kann, sind die „Gewinne“ durch unkorrektes oder illegales Verhalten noch viel kleiner. Man fragt sich: Wie ist das möglich? Wieso gehen Menschen derartig hohe Risiken für relativ kleine Gewinne ein?

Was man aus einer Studie über Kekse lernen kann

Einen Grund, die „Klassenmoral“, nannte ich schon. Diese produziert die Einstellung oder Haltung, Privilegien stünden einem zu. Das wäre im Falle von Patricia Schlesinger die Haltung „Der rbb kann doch froh sein, mich zu haben“ anstatt „Ich kann dankbar sein, dass ich so eine privilegierte Stellung habe“.

Nun zu der Rolle der Psychologie. Funktionäre müssen, um ganz oben anzukommen, eine enorme Anpassungsleistung vollbringen und sich ständig kontrollieren. Das heißt, sie müssen sich selbst ständig in ihren emotionalen Regungen unterdrücken, um in den Strukturen der Macht voranzukommen. Ich kann mir vorstellen, dass dies zu so einer Art Stau von aggressiven Regungen führt, die dann, wenn man ganz oben angekommen ist, nicht mehr so gut kontrolliert werden können, weil man ja jetzt über Definitionsmacht verfügt. Dazu habe ich auch etwas Interesantes in dem Buch des irischen Psychologieprofessors Ian Robertson gefunden. Er berichtet in seinem Buch „Macht. Wie Erfolge uns verändern“ über eine „Keksstudie“:

„Stellen Sie sich vor, Sie hätten sich als Versuchsperson für eine Studie an der Universität angemeldet. Der Versuchsleiter weist sie nach dem Zufallsprinzip einer Gruppe zu, die noch zwei andere Personen des gleichen Geschlechts umfasst. Sie werden gebeten, eine halbe Stunde lang mit ihnen über umstrittene soziale Fragen zu diskutieren; Ihre Aufgabe besteht darin, politische Lösungen für diese Fragen zu entwickeln. Jetzt kommt das Entscheidende: Einer von Ihnen wird, wieder nach dem Zufallsprinzip, zum Gruppenleiter bestimmt, der die Leistungen der Teilnehmer beurteilt. Dieser „Chef“ oder diese „Chefin“ vergibt Noten je nach der Qualität der Diskussionsbeiträge“ (Robertson, S. 230 ff.).

Das klingt nach einer harmlosen Situation, ist aber selbst im Laborversuch für die meisten Menschen eine etwas einschüchterne Situation, weil sie sich von einem Fremden bewerten lassen müssen. Der Gruppenleiter hat, wenn auch nur für eine halbe Stunde, eine gewisse Macht über die Teilnehmer des Versuchs und ein kostbares Gut der Versuchsteilnehmer: deren Selbstwertgefühl. Am Ende der Diskussion kommt der Versuchsleiter herein und stellt einen Teller mit fünf Keksen auf den Tisch. Fast immer nimmt sich jeder der drei Teilnehmer einen Keks, womit noch zwei übrig bleiben, also nicht genug für einen zweiten Keks für alle. Wer nimmt sich einen zweiten Keks? In den meisten Fällen der zufällig ausgewählte Gruppenleiter. Auch sonst zeigt dieser oder diese einige interessante Verhaltensänderungen. Immer wieder konnten die Forscher beobachten, dass die Gruppenleiter unappetitlich, also „sozial enthemmt“ aßen. Der Gruppenleiter neigt regelmäßig dazu, mit offenem Mund zu kauen und zu krümeln.

Wenn man auch solche Laborergebnisse nicht überbewerten darf, so scheinen sie mir doch eine Tendenz gut zum Ausdruck zu bringen, die man vermutlich bei jedem Menschen mehr oder weniger ausgeprägt finden kann: Macht führt zu einer gewissen Enthemmung. Machthaber erkennen gesellschaftliche Regeln nicht mehr so selbstverständlich an, wie sie das taten, als sie in der gesellschaftlichen Hierarchie noch weiter unten standen. Robertson zieht daraus folgende Schlussfolgerung:

„Die Keksstudie zeigt, Machtgefühl führt auch dazu, dass man sich weniger daraus macht, was andere von einem denken; man wird selbstsüchtiger und weniger empathisch. Selbst ein kleines bisschen kurzfristige Macht kann uns zu Egozentrikern machen, die den Standpunkt anderer nicht wichtig nehmen“ (Robertson S. 232).

Egal, was meine deutschen Wähler denken“

Dass diese Schlussfolgerung wohl eine zutreffende Einschätzung ist, konnte man exemplarisch an Annalena Baebocks jüngsten Äußerungen auf einer Podiumsdiskussion in Prag sehen. Sie erklärte laut welt.de:

„Wenn ich den Menschen in der Ukraine das Versprechen gebe: ‚Wir stehen an eurer Seite, solange ihr uns braucht´, dann werde ich dieses Versprechen einhalten. Egal, was meine deutschen Wähler denken. Aber ich werde die Menschen in der Ukraine wie versprochen unterstützen“ (Quelle: welt.de).

Ich denke, das muss man nicht weiter kommentieren. Diese Äußerung passt so exakt zu den Schlussfolgerungen Robertsons aus der Keksstudie, dass man meinen könnte, Baerbock wollte diese empirisch beweisen.

Welche Schlussfolgerung muss man daraus ziehen?

Müsste Demokratie, die den Namen verdient, nicht deutlich besser funktionieren? Und weniger korrupt sein? Nein, denn es gibt keine moralisch perfekten Menschen, Institutionen und Gesellschaften. Dies wäre eine unrealistische und ungesunde Paradieserwartung. Menschen sind nun mal korrumpierbar durch Macht und anfällig für Gruppendruck. Deshalb wird es die perfekte Demokratie und unkorrumpierbare Institutionen nie geben. Eben darum ist Demokratie ja eine Erfindung, die Macht nur auf Zeit vergibt und die Kontrollmechanismen wie eine Opposition, Rechnungshöfe und unabhängige Gerichte kennt. Man muss sich damit abfinden, dass es immer wieder Missbräuche in Institutionen geben wird und Institutionen immer wieder erneuert und verändert werden müssen. Denn irgendwann schlagen das Gesetz der ehernen Oligarchie und die Verlockungen der Macht zu. Deshalb haben solche Skandale wie beim rbb auch etwas Nützliches: Sie decken die Mängel des Systems auf.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass deshalb bei den anderen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten derzeit wohl einige Führungskräfte unter Schlafstörungen leiden – weil sie Angst haben, auch sie könnten in die Schusslinie geraten. Sie werden daran interessiert sein, dass das System nicht verändert wird und alles so bleibt wie es ist – und deshalb versuchen, den Skandal beim rbb als moralisches Versagen einer einzelnen Person darzustellen. Darauf sollte sich die Öffentlichkeit nicht einlassen und auf Veränderungen am System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bestehen.

Die Standhaftigkeit der Seele teilt sich dem Körper mit

Zum Schluss noch eine Frage. Ist das alles ein Grund zum Verzweifeln, weil die Demokratie offenbar so schlecht funktioniert? Ich meine nein und sehe das Glas halb voll anstatt halb leer. Demokratie muss sich immer wieder erneuern, um lebendig zu bleiben. Warum soll es nicht möglich sein, dass vielleicht schon bald wieder ein Politiker vom Schlage eines Willy Brandt die Menschen für Politik und Demokratie begeistert? Aber dies wird es nur geben, wenn wir alle bereit sind, uns – in welcher Form auch immer – für demokratische Politik zu engagieren. Und vor allem: Wenn wir uns nicht einschüchtern lassen, sei es durch politisch korrekte Sekten, die wie zu Zeiten der Inquisition über Andersdenkende herfallen, oder eine Regierung, die versucht, ihre Kritiker zu Staatsfeinden zu erklären.

Darüber hinaus ist es notwendig, sich mit anderen ähnlich denkenden Menschen zusammenzutun. So wie die Mitarbeiter des NDR es getan haben. Sie wehrten sich erfolgreich mit dem Redaktionsausschuss gegen das nicht hinnehmbare Verhalten der Führung. Macht ist ein Prozess und nichts Statisches. Wer heute vermeintlich unangreifbar an den Hebeln der Macht sitzt, kann schon morgen gezwungen sein, auf der Anklagebank Platz zu nehmen. Siehe Patricia Schlesinger. Und wenn politisches Engagement auch anstrengend ist und man damit aneckt: Es tut auch gut. Denn wie der spanische Jesuit Balthasar Gracián in seinem Buch „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ in Aphorismus Nr. 90 feststellt: „Die Standhaftigkeit der Seele teilt sich dem Körper mit“. Mit anderen Worten: Es tut der Gesundheit gut, die eigene innere Wahrheit auch nach außen hin zu leben, anstatt sie im Interesse von Konfliktlosigkeit im äußeren Leben zu unterdrücken. Wer sich immer nur anpasst, den belohnen Eltern, Lehrer und Chefs. Wer sich auch mal widersetzt, den belohnt das Leben.

Titelbild: GAS-photo/shutterstock.com

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