Dieser Beitrag wurde mit Genehmigung des italienischen Nachrichtenportals l’AntiDiplomatico übersetzt und in leicht gekürzter Fassung übernommen. Hier finden Sie den vollständigen Artikel.
Wer die Geschichte nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen, hiess es schon vor mehr als zweihundert Jahren. Doch es waren die Neoliberalen, die diesen Aphorismus ernst genommen haben und die, um ihn wahr werden zu lassen – seit einiger Zeit in Amerika, seit kurzem in Europa –, einen Kulturkrieg geführt haben, der darauf abzielt, die Geschichte zu delegitimieren und sie aus den Schulen und Köpfen zu eliminieren: Damit sie den jungen Menschen nutzlos und langweilig erscheint, wie alles, was ein Minimum an Aufmerksamkeit erfordert, die nicht sofort belohnt wird. (…)
Und die Neoliberalen sind dabei, diesen Krieg im grossen Stil zu gewinnen. Angesichts der aktuellen Ereignisse wissen Jung und Alt nicht, dass vor einem Jahrhundert der Erste Weltkrieg (…) einen Selbstmord Europas zugunsten der USA darstellte: Wenn es nicht schon damals eine Kolonie geworden ist, dann deshalb, weil die Amerikaner noch riesige Gebiete ihres Kontinents zu plündern hatten, vor allem aber auch, weil aus dem Zarenreich, anstatt dass es zerfallen wäre, die Sowjetunion hervorging – der einzige Staat, der siebzig Jahre lang in der Lage gewesen ist, dem so genannten Westen die Stirn zu bieten (…) und ihn entscheidend zu beeinflussen.
Ich arbeite in Boston und lebe mehr als die Hälfte des Jahres dort. Ich bin nicht mehr in die USA verliebt, aber ich respektiere sie: Sie wissen, was sie wollen und versuchen, es um jeden Preis zu bekommen. Das ist nicht mein Stil, das sind nicht meine Werte, doch es ist ihre Angelegenheit und jedenfalls steckt eine Logik dahinter.
Wie kann ich Italiener und Europäer respektieren, die nicht ihre eigenen Interessen verfolgen, sondern die der Amerikaner? Ich spreche nicht nur von Giorgia Meloni, die sich – wie ich vorausgesagt hatte, doch das war einfach – als atlantischer erwiesen hat als Mario Draghi, Matteo Renzi, Beppe Grillo und vielleicht sogar als die Partito Democratico, der lokale Zweig von Bidens Partei und Amazon – und die gerade beschlossen hat, von einer Amerikanerin geführt zu werden.
Ich spreche von den Millionen meiner Landsleute, die nicht mehr wissen, wie man «Ort» und «Anruf» sagt, weil «location» und «call» ihnen «cooler» vorkommen; die sich ohne ihr «dienstliches» iPhone nackt fühlen würden; die Kaffee bei Starbucks bevorzugen, auch wenn er dreimal so viel kostet; die Hamburger dem Risotto oder der Pizza vorziehen – auch wenn er aus Insektenmehl hergestellt ist und damit «Lebensmittel der Zukunft» und nicht kritisierbar ist, ohne Gefahr zu laufen, von den «Propheten des Neuen als Selbstzweck» («Influencer», Prominente, Journalisten) als nostalgisch, reaktionär, ludditisch (…), senil und vor allem als veraltet beschimpft zu werden.
Das klingt für mich hingegen nach Widerstand.
PS: Um Missverständnissen und unnützen Kommentaren vorzubeugen, möchte ich klarstellen, dass ich Egoismus, das heisst, das Handeln im eigenen Interesse, für die Wurzel allen Übels halte. Hingegen erachte ich das Gemeinwohl, also die Interessen, einschliesslich der materiellen Interessen eines Volkes als Ganzes, für ein erstrebenswertes politisches Ziel und eine zutiefst moralische Haltung. Und zwar nicht nur für dieses spezifische Kollektiv, sondern für die Welt im Allgemeinen.
Dies, weil das Gemeinwohl die kulturelle und soziale Vielfalt garantiert, die allein Monopole und Kolonialismus eindämmen kann – wie auch immer diese getarnt sein mögen, insbesondere als humanitäre Hilfe und Bürgerrechte. Das Gemeinwohl bietet auch die Möglichkeit, künftigen unerwarteten Ereignissen mit mehreren Strategien zu begegnen, anstatt mit einer einzigen, die vielleicht in einer bestimmten Situation wirksam, in anderen aber völlig ungeeignet ist.
Das gilt, solange die Interessen des Volkes echt, dauerhaft und generationenübergreifend bestätigt sind, nicht augenblicklich durch Werbung oder Propaganda durchgesetzt werden, und nicht imperialistisch, also nicht zum Nachteil anderer Völker, sind. Die Interessen als «universell» oder, schlimmer noch, als «menschlich» darzustellen, ist die Rhetorik, die verwendet wird, um die egoistischen Interessen einiger Milliardäre und multinationaler Konzerne oder die imperialistischen Interessen eines einzigen Volkes, das den Planeten seit dreissig Jahren unangefochten beherrscht, gerade wegen dieser Übermacht auf zunehmend arrogante Weise durchzusetzen.
***
Francesco Erspamer ist Professor für Italienisch und Romanistik in Harvard. Zuvor lehrte er an der II. Universität Rom und der New York University sowie als Gastprofessor an der Arizona State University, der University of Toronto, der UCLA, der Johns Hopkins University und der McGill University.