Horst D. Deckert

Der US-Krieg in Afghanistan ist vorbei, sagt Biden. Aber die USA bleiben im Krieg

Von Uriel Araujo: Er ist Forscher mit Schwerpunkt auf internationalen und ethnischen Konflikten.

Nach dem Abzug aus Afghanistan verfügen die USA noch immer über rund 750 Militärstützpunkte in mindestens 80 Ländern, schätzt David Vine, Professor für Politikwissenschaft an der American University in Washington, DC. Die Macht der USA ist in der Tat im Niedergang begriffen, was die Durchsetzung ihrer Ziele angeht, aber die amerikanische Stärke darf nicht unterschätzt werden.

Zunächst einmal ist die Behauptung, dass die USA Afghanistan tatsächlich „verlassen“, gelinde gesagt, ziemlich fragwürdig. Alles deutet darauf hin, dass sie es nicht tun. In seiner Rede am 31. August, einen Tag nach dem Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan, erklärte US-Präsident Joe Biden selbst: „Wir verfügen über so genannte Over-the-Horizon-Fähigkeiten, d. h. wir können Terroristen und Ziele angreifen, ohne dass amerikanische Truppen vor Ort sind, oder nur mit sehr wenigen, wenn es nötig ist. Diese Fähigkeit haben wir gerade in der letzten Woche unter Beweis gestellt. Wir haben ISIS-K aus der Ferne angegriffen“.

Damit meinte Biden das Netz von Stützpunkten, das sein Land rund um Afghanistan unterhält und das es dem US-Militär ermöglicht, weiterhin Luftangriffe gegen Ziele in Afghanistan durchzuführen. Und auch ohne offene Stützpunkte und Truppen auf afghanischem Boden ist mit verdeckten amerikanischen Operationen (mit Hilfe von Spezialkräften) zu rechnen, wie sie auch in Afrika stattfinden – schließlich ist dieses zentralasiatische Land ein Schauplatz des geopolitischen Wettbewerbs zwischen den Mächten der Welt und der Region, und deshalb können die USA nicht einfach „abziehen“.

So haben die USA nach zwanzig Jahren Krieg ihre große offene Basis in Afghanistan geschlossen. Es gibt jedoch noch viele andere Stützpunkte, über die nicht so viel geschrieben wird. Es ist schwer zu zählen, wie viele davon die Vereinigten Staaten tatsächlich im Ausland haben, da ein Großteil ihrer militärischen Präsenz verdeckt oder getarnt ist, wie etwa in Afrika – ganz zu schweigen von Washingtons 60.000 Mann starker „Geheimarmee“, die weltweit operiert.

Wie dem auch sei, selbst nach den konservativsten Schätzungen (das Pentagon veröffentlicht keine derartigen Daten) sind rund 700 Stützpunkte für jedes Land, selbst für eine Supermacht, zu viel. Nur zum Vergleich: China, die andere globale Supermacht, unterhält bisher nur einen Militärstützpunkt in Übersee (in Dschibuti). Russland verfügt über einen Stützpunkt in Franz-Josef-Land, einer russischen Inselgruppe in der Arktis (außerhalb des russischen Festlands), sowie über rund 20 Militäreinrichtungen vor allem in ehemaligen Sowjetrepubliken, d. h. im so genannten „nahen Ausland“, und drei Einrichtungen in Syrien.

Was die Truppen anbelangt, so setzt Washington nach den im Conflict Management and Peace Science Journal veröffentlichten Daten ab 2020 rund 170.000 Soldaten in über 150 Ländern ein. Dies ist in der Tat die größte Militärpräsenz, die eine Nation oder ein Imperium jemals in der Geschichte unterhalten hat.

Obwohl der US-Kongress seit 1942 nicht mehr formell den „Krieg“ erklärt hat, hat Washington umfangreiche Militäraktionen im Irak, in Somalia, im Jemen und bis vor kurzem auch in Afghanistan durchgeführt. Zählt man die Kampf- und Sondereinsätze der Spezialeinheiten mit, so sind es über 100.

Die 2001 erteilte Ermächtigung zum Einsatz militärischer Gewalt (Authorization for Use of Military Force, AUMF), die den amerikanischen Präsidenten ermächtigte, die US-Streitkräfte gegen die Hintermänner der Terroranschläge vom 11. September einzusetzen, gab der nachfolgenden US-Regierung eine Art Freibrief, der weit über die Bekämpfung von Al Qaida hinausging. Dieses Gesetz wird seit etwa 20 Jahren missbraucht und bildet die Rechtsgrundlage für eine Vielzahl von Einsätzen in Georgien, Jemen, Eritrea, Somalia und so weiter. Die Liste der Akteure, die Washington derzeit auf der Grundlage dieser Ermächtigung bekämpft, ist geheim und kann daher nicht veröffentlicht werden. Aus diesem Grund wurde der globale Krieg der USA gegen den Terror als „Forever War“ bezeichnet. Dieser innenpolitische Rechtsapparat ergänzt den militärischen Apparat in Übersee.

Auch wenn Biden am 21. September vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen erklärte, die USA befänden sich zum ersten Mal seit 20 Jahren (seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001) nicht mehr im Krieg, lässt er in seiner Erklärung mehrere laufende kleinere Konflikte außer Acht. So hat beispielsweise nur einen Tag vor dieser Rede eine US-Drohne im Nordwesten Syriens eine Rakete abgefeuert und ein Auto zerstört. Drei Wochen zuvor führte das amerikanische Militär einen Luftangriff in Somalia durch, der Teil der laufenden Kampagne ist, die Washington dort mit zunehmender Intensität und zivilen Opfern führt.

In derselben Rede vor der UN-Generalversammlung rief Biden zu Diplomatie statt zu Konflikten auf, aber es ist schwer, solche Worte ernst zu nehmen. Derzeit sind allein im Nahen Osten über 40.000 US-Truppen stationiert (einschließlich der 2.500 Soldaten im Irak). Amerikanische Truppen operieren im Nahen Osten und anderswo gegen verschiedene militante Gruppen auf den Philippinen, in Niger, in Syrien, im Jemen und so weiter.

Im März kündigte Joe Biden an, er wolle mit dem Kongress zusammenarbeiten, um das AUMF aufzuheben. Dies könnte in Erfüllung gehen. Im Juni jedoch berief sich Pentagon-Sprecher John Kirby auf Bidens „Artikel-II-Autorität zum Schutz des US-Personals im Irak“ als Rechtsgrundlage für Bidens Luftangriffe an der syrisch-irakischen Grenze. Tatsache ist, dass die Kriegsbefugnisse der US-Präsidenten spätestens seit dem War Powers Act von 1973 ständig zugenommen haben und somit niemand wirklich weiß, wann der Präsident überhaupt eine Ermächtigung des Kongresses benötigt, um irgendein Land in der Welt zu bombardieren und einzumarschieren, denn es gibt viele rechtliche Begründungen dafür – verankert in einer Unzahl von Gesetzen. Dies wirft an sich schon Zweifel am demokratischen Status der USA auf, auch wenn darüber selten gesprochen wird.

Zu viele Kriege (erklärt oder nicht) und zu viele Truppen und Stützpunkte (offen oder verdeckt) für eine schwindende Supermacht. All dies geht einher mit einem enormen Spionageapparat, der oft gegen die eigenen Verbündeten eingesetzt wird – und US-Geheimdienste und Konsulate unterstützen oder stecken hinter Staatsstreichen (oder Putschversuchen), wie zum Beispiel im letzten Jahr in Venezuela zu sehen war.

Aber eine zunehmend polyzentrische Welt kann nicht auf unbestimmte Zeit ein globaler Schauplatz für US-Truppen und Kriege bleiben, ob es Washington gefällt oder nicht.

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