Wie stellte man sich früher die Welt von Heute vor? Ein aufschlussreiches Interview mit dem Autor Aldous Huxley gibt Aufschluss. Denn die Zukunfts-Dystopien von Einst haben nichts an Brisanz und Aktualität eingebüßt. Das Original-Interviews aus dem Jahre 1958 finden Sie hier.
Eine Übersetzung von Claudia Riempp.
„Der Glaube an eine größere und bessere Zukunft ist einer der mächtigsten Feinde gegenwärtiger Freiheit.“ Aldous Huxley, Autor
des 1932 erschienenen, heute als visionär betrachteten Romans „Schöne neue Welt“ im Interview, das schon 1958 aufgezeichnet wurde und doch
brandaktuell ist. Hier die Übersetzung:
Interviewer WALLACE: Hier ist Aldous Huxley, ein Mann, der von einer Vision der Hölle auf Erden heimgesucht wird. Huxley, ein scharfer
Gesellschaftskritiker, schrieb vor 27 Jahren „Brave New World“, einen Roman, der voraussagte, dass die ganze Welt eines Tages unter einer erschreckenden Diktatur leben würde. Heute sagt Huxley, dass seine fiktive Welt des Grauens wahrscheinlich
für uns alle nur um die nächste Ecke ist. Wir werden gleich herausfinden, warum.
Er hat gerade eine Reihe von Essays mit dem Titel „Enemies of Freedom“ auf deutsch: Feinde der Freiheit fertiggestellt, in denen er einige
der Bedrohungen unserer Freiheit in den Vereinigten Staaten skizziert und definiert, Mr. Huxley, ich frage Sie ganz direkt: Wer und was sind
Ihrer Meinung nach die Feinde der Freiheit hier in den Vereinigten Staaten?
HUXLEY: Nun, ich glaube nicht, dass man sagen kann, wer das ist in den Vereinigten Staaten ist. Ich glaube nicht, dass es finstere Personen gibt,
die absichtlich versuchen, Menschen ihre Freiheit zu rauben, ich denke in erster Linie, dass es eine Reihe von unpersönlichen Kräften gibt,
die in Richtung immer weniger Freiheit drängen und ich denke auch, dass es eine Reihe von technischen Mitteln gibt, die jeder, der will,
benutzen kann, um diesen Prozess der Abkehr von der Freiheit, der Auferlegung von Kontrolle zu beschleunigen.
WALLACE: Was sind diese Kräfte und was diese Mittel, Mr. Huxley?
HUXLEY: Ich würde sagen, dass es zwei hauptsächliche unpersönliche Kräfte gibt, die erste von ihnen ist gegenwärtig in den Vereinigten
Staaten nicht übermäßig wichtig, obwohl sie in anderen Ländern sehr wichtig ist. Das ist die Kraft, die man allgemein Überbevölkerung
nennen kann, den wachsenden Druck der Bevölkerung auf die vorhandenen Ressourcen.
Das ist ein außergewöhnliches Ereignis; etwas passiert, was noch nie zuvor in der Weltgeschichte passiert ist, nehmen wir nur die schlichte
Tatsache, dass sich zwischen der Zeit der Geburt Christi und der Landung der Mayflower die Bevölkerung der Erde verdoppelt hat. Sie stieg von
zweihundertfünfzig Millionen auf wahrscheinlich fünfhundert Millionen. Heute wächst die Bevölkerung der Erde mit einer solchen Geschwindigkeit, dass sie sich in einem halben Jahrhundert verdoppeln wird.
WALLACE: Warum sollte die Überbevölkerung dazu beitragen unsere Freiheiten einzuschränken?
HUXLEY: In vielerlei Hinsicht. Ich meine, die Experten auf diesem Gebiet, wie zum Beispiel Harrison Brown, haben darauf hingewiesen, dass
in den unterentwickelten Ländern der Lebensstandard derzeit tatsächlich sinkt. Die Menschen haben pro Kopf weniger zu essen und
weniger Güter als vor fünfzig Jahren und da die wirtschaftliche Situation dieser Länder immer prekärer wird, muss natürlich die
Zentralregierung immer mehr Verantwortung übernehmen, um das Staatsschiff im Gleichgewicht zu halten. Unter solchen Bedingungen wird
es wahrscheinlicher zu sozialen Unruhen kommen, wiederum mit einem Eingreifen der Zentralregierung.
Ich denke also, dass man hier ein Muster sieht, das sehr stark in Richtung eines totalitären Regimes zu drängen scheint. Und leider, da
in all diesen unterentwickelten Ländern die einzige hoch organisierte politische Partei die Kommunistische Partei ist, sieht es eher so aus,
als ob sie die Erben dieses unglücklichen Prozesses sein werden, dass sie in die Machtpositionen kommen werden.
WALLACE: Nun, ironischerweise scheint uns eine der größten Kräfte gegen den Kommunismus in der Welt, die katholische Kirche, gemäß Ihrer
These direkt in die Hände der Kommunisten zu treiben, weil sie gegen die Geburtenkontrolle sind.
HUXLEY: Nun, ich denke, dieses seltsame Paradoxon ist wahrscheinlich wahr. Es ist tatsächlich eine außergewöhnliche Situation. Ich meine,
man muss es natürlich aus biologischer Sicht betrachten: Das ganze Wesen des biologischen Lebens auf der Erde ist eine Frage des
Gleichgewichts. Was wir getan haben, ist, eine äußerst intensive Kontrolle über den Tod auszuüben ohne dies auf der anderen Seite mit
Geburtenkontrolle auszubalancieren. Folglich bleiben die Geburtenraten so hoch wie sie waren und die Sterblichkeitsraten sind erheblich
gesunken.
WALLACE: Also gut, so viel, jedenfalls vorerst, zur Überbevölkerung. Welche weitere Kraft schränkt unsere Freiheiten ein?
HUXLEY: Nun, eine andere Kraft, die meines Erachtens sehr stark in diesem Land wirksam ist, ist die Kraft dessen, was man als
Überregulierung oder Überorganisation bezeichnen könnte. Da die Technologie immer komplizierter wird, wird es notwendig, immer ausgefeiltere
Organisationen zu haben, hierarchischere Organisationen, übrigens wird der Fortschritt der Technologie von einem Fortschritt in der
Wissenschaft der Organisation begleitet.
Es ist jetzt möglich, Organisationen in größerem Umfang als jemals zuvor zu gründen, und deshalb gibt es immer mehr Menschen, die ihr
Leben als Untergebene in diesen hierarchischen Systemen verbringen, die von der Bürokratie kontrolliert werden, entweder die Bürokratien von
„Big Business“ oder die Bürokratien von „Big Government“ (amerikanischer Begriff für übermächtige, übergriffige
Regierungsorganisationen).
WALLACE: Jetzt zu den Mitteln, die Sie angesprochen haben, gibt es spezielle Geräte oder Kommunikationsmethoden, die unsere Freiheiten
zusätzlich zu Überbevölkerung und Überorganisation einschränken?
HUXLEY: Es gibt sicher Mittel, die auf diese Weise verwendet werden können. Ich meine, nehmen wir doch ein Stück neuer und sehr
schmerzhafter Geschichte, die von Hitler eingesetzte Propaganda, die unglaublich effektiv war.
Was waren Hitlers Methoden? Hitler benutzte einerseits Terror, brutale Gewalt, aber er benutzte auch eine sehr effiziente Form der Propaganda,
er benutzte damals jedes moderne Gerät. Er hatte kein Fernsehen, aber er hatte Radios, die er in vollem Umfang nutzte und er war in der Lage, einer riesigen Masse von Menschen seinen Willen aufzuzwingen. Ich meine, die Deutschen waren ein hochgebildetes
Volk.
WALLACE: Nun, wir sind uns all dessen bewusst, aber wie können wir Hitlers Gebrauch von Propaganda mit der Art und Weise gleichsetzen, wie
Propaganda, wenn Sie so wollen, hier in den Vereinigten Staaten verwendet wird? Meinen Sie damit, dass es Parallelen gibt?
HUXLEY: Unnötig zu sagen, dass Propaganda jetzt nicht auf diese Weise verwendet wird, aber der Punkt ist, wie mir scheint, dass es derzeit
verfügbare Methoden gibt, Methoden, die Hitlers Methode in mancher Hinsicht überlegen sind, die in einer schlechten Situation verwendet
werden könnten. Ich meine, ich habe das sichere Gefühl, dass wir nicht riskieren dürfen, von unserer eigenen fortschreitenden Technologie
überrascht zu werden.
Das ist in der Geschichte mit den Fortschritten der Technologie immer wieder passiert und das verändert die sozialen Bedingungen und
plötzlich befinden sich Menschen in einer Situation, die sie nicht vorhergesehen haben und tun alle möglichen Dinge, die sie nicht
wirklich tun wollten.
WALLACE: Und dann, was … was meinen Sie? Denken Sie, wir entwickeln und verbessern unseren Fernseher, wissen aber nicht, wie man richtig damit umgeht, ist das der Punkt, auf den Sie hinaus wollen?
HUXLEY: Nun ich glaube, im Moment wird das Fernsehen ziemlich harmlos benutzt, ich habe das Gefühl, es wird zu viel benutzt, um alle die
ganze Zeit abzulenken. Aber ich meine, stellen Sie sich vor, wie die Situation in allen kommunistischen Ländern sein muss, wo das Fernsehen existiert, die ganze Zeit immer dasselbe sagt; es ist immer präsent.
Es erzeugt keine breite Front der Ablenkung, es erzeugt ein zielgerichtetes, Einhämmern einer einzigen Idee, die ganze Zeit. Es ist offensichtlich ein immens mächtiges Instrument.
WALLACE: Sie sprechen also von einem möglichen Missbrauch des Instruments.
HUXLEY: Genau. Alle Technik ist an sich moralisch und neutral. Das sind nur Kräfte, die entweder gut oder schädlich eingesetzt werden können.
Mit der Atomenergie ist es genauso, wir können uns damit entweder selbst in die Luft sprengen oder wir können sie als Ersatz für die zur
Neige gehende Kohle und das zur Neige gehende Öl verwenden.
WALLACE: Sie haben sogar über den Konsum von Drogen unter diesem Aspekt geschrieben.
HUXLEY: Das ist ein sehr interessantes Thema. Ich meine, in diesem Buch, das Sie erwähnt haben, diesem Buch von mir, „Brave New World“,
beschrieb ich eine Substanz namens „Soma“, eine sehr vielseitige Droge. In kleinen Dosierungen sollte es Menschen glücklich machen, in
mittleren Dosen Visionen erzeugen und in großen Dosen Menschen einschlafen lassen.
Nun, ich glaube nicht, dass ein solches Medikament jetzt existiert, noch glaube ich, dass es jemals existieren wird. Aber wir haben Drogen, die
einige dieser Dinge bewirken und ich halte es für wahrscheinlich, dass wir Drogen haben werden, die unseren Geisteszustand grundlegend
verändern, ohne uns zu schaden.
Ich meine, durch die gerade stattfindende pharmakologische Revolution haben wir jetzt starke, bewusstseinsverändernde Medikamente, die
physiologisch gesehen fast kostenlos sind. Ich meine, sie sind nicht wie Opium oder Kokain, die den Geisteszustand verändern, aber physiologisch
und moralisch schreckliche Folgen haben.
WALLACE: Mr. Huxley, in Ihren neuen Essays stellen Sie fest, dass diese verschiedenen „Feinde der Freiheit“ uns in eine reale „schöne
neue Welt“ drängen und Sie sagen, dass dies uns gleich ums Eck erwartet. Können Sie uns zuallererst erläutern, welches Leben in
dieser schönen neuen Welt Sie so sehr fürchten würden oder wie das Leben aussehen könnte?
HUXLEY: Nun, zunächst einmal denke ich, dass diese Art von Diktatur der Zukunft sehr anders sein wird als die Diktaturen, die wir aus der
unmittelbaren Vergangenheit kennen. Nehmen Sie ein anderes sehr bemerkenswertes Buch, das in der Zukunft spielt, George Orwells „1984“.
Dieses Buch wurde auf dem Höhepunkt des stalinistischen Regimes und kurz nach dem Hitler-Regime geschrieben und Orwell sah eine Diktatur
voraus, die ausschließlich die Methoden des Terrors, die Methoden der physischen Gewalt einsetzte. Ich denke, was in Zukunft passieren wird,
ist, dass Diktatoren feststellen werden, wie das alte Sprichwort sagt, dass man mit Bajonetten alles machen kann, aber man kann nicht darauf
sitzen!
WALLACE: (LACHT)
HUXLEY: Aber wenn man seine Macht auf unbestimmte Zeit behalten will, muss man die Zustimmung der Beherrschten einholen und das werden sie
teilweise durch Drogen erreichen, wie ich in „Brave New World“ vorausgesehen habe, teilweise durch diese neuen Propaganda-Techniken.
Sie werden diese rationale Seite des Menschen umgehen und an sein Unterbewusstsein, seine tieferen Emotionen und sogar an seine
körperlichen Vorgänge appellieren und ihn so dazu bringen, seine Sklaverei tatsächlich zu lieben.
Ich meine, die Gefahr ist, dass die Menschen unter dem neuen Regime in gewisser Weise glücklich sein mögen, aber dass sie in Situationen
glücklich sein werden, in denen sie nicht glücklich sein sollten.
WALLACE: Ich möchte Sie Folgendes fragen: Sie sprechen von einer Welt, die sich innerhalb der Grenzen eines totalitären Staates abspielen
könnte. Lassen Sie uns direkter und akuter werden. Wir glauben, dass wir hier in den Vereinigten Staaten in einer Demokratie leben.
Glauben Sie, dass diese schöne neue Welt, von der Sie sprechen, sagen wir, im nächsten Vierteljahrhundert, im nächsten
Jahrhundert, hierher an unsere Küsten kommen könnte?
HUXLEY: Ich denke schon. Ich meine, deshalb finde ich es so extrem wichtig, hier und jetzt anzufangen, über diese Probleme nachzudenken.
Wir sollten uns nicht überraschen lassen von den neuen technologischen Fortschritten. Ich meine zum Beispiel in Bezug auf den Gebrauch der
Drogen.
Wir wissen, dass es jetzt genügend Beweise gibt, um auf der Grundlage dieser Beweise und mit einem gewissen Maß an kreativer
Vorstellungskraft die Art der Verwendung vorhersehen zu können, die von Menschen mit schlechtem Willen mit diesen Dingen gemacht werden könnte
und auch zu versuchen das auf dieselbe Weise zu verhindern. Ich denke, mit diesen anderen Propaganda-Methoden können wir voraus
sehen und viel tun, um dem entgegen zu treten.
Ich meine, schließlich ist der Preis der Freiheit ewige Wachsamkeit.
WALLACE: Sie schreiben in „Enemies of Freedom“ speziell über die Vereinigten Staaten. Wenn Sie über amerikanische politische Kampagnen
schreiben sagen Sie: „Alles, was benötigt wird, ist Geld und ein Kandidat, dem man beibringen kann, aufrichtig zu wirken, politische
Prinzipien und konkrete Aktionspläne haben an Bedeutung verloren. Auf die Persönlichkeit des Kandidaten kommt es an, wie er von den
Werbe-Experten dargestellt wird.“
HUXLEY: Ja, während der letzten Kampagne gab es eine Menge solcher Aussagen von den Werbemanagern der Wahlkampfparteien. Diese Idee, dass
die Kandidaten wie Seife und Zahnpasta vermarktet werden müssten und man sich ganz auf die Persönlichkeit verlassen müsse.
Ich meine, Persönlichkeit ist wichtig, aber es gibt sicherlich Menschen mit einer äußerst liebenswürdigen Persönlichkeit, – besonders im
Fernsehen – die möglicherweise nicht unbedingt sehr gut in politischen… Positionen sind, wenn es um politisches Vertrauen geht.
WALLACE: Nun, haben Sie das Gefühl, dass Männer wie Eisenhower, Stevenson, Nixon mit vorausschauendem Wissen versucht haben, der amerikanischen Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen?
HUXLEY: Nein, aber sie wurden von mächtigen Werbeagenturen beraten, die ganz andere Kampagnen machten als früher und ich denke, wir werden
wahrscheinlich alle möglichen neuen Mittel sehen, die ins Spiel kommen. Ich meine zum Beispiel diese Sache, die letzten Herbst viel Publicity
bekommen hat, die unterschwellige Vorstellung.
Im Moment ist diese Sache meiner Meinung nach keine Bedrohung für uns, aber ich habe kürzlich mit jemand gesprochen, der damit am meisten
experimentelle Arbeit im psychologischen Labor geleistet hat. Er sagte auch, dass es im Moment keine Gefahr darstellt, aber wenn man einmal das
Prinzip erkannt hat wie etwas funktioniert, dann kann man absolut sicher sein, dass sich die Technik stetig verbessern wird. Seine Ansicht zu
diesem Thema war : Vielleicht werden sie es in der Kampagne 1960 bis zu einem gewissen Grad einsetzen, aber sie werden es wahrscheinlich in der
Kampagne 1964 mehr und viel effektiver verwenden, weil das die Art von Geschwindigkeit ist, mit der die Technologie voran schreitet.
WALLACE: Und wir werden überredet, für einen Kandidaten zu stimmen, ohne dass uns bewusst ist, dass wir überredet werden, für ihn zu
stimmen.
HUXLEY: Genau, ich meine, das ist die ziemlich alarmierende Vorstellung, dass man unterhalb der Ebene von freier Wahl und Vernunft überredet
wird.
WALLACE: In Bezug auf die Werbung, die Sie gerade erwähnt haben, greifen Sie in Ihren Schriften, insbesondere in „Feinde der
Freiheit“, die Madison Avenue an, die den Großteil unserer Fernseh-, Radio- und Zeitungs-Werbung usw. kontrolliert. Warum greifen Sie die
Werbeagenturen immer wieder an…
HUXLEY: Nun, nein, ich denke Werbung spielt eine sehr notwendige Rolle, aber die Gefahr, die mir in einer Demokratie erscheint, ist folgende …
Ich meine, wovon hängt eine Demokratie ab?
Eine Demokratie hängt davon ab, dass der einzelne Wähler unter allen Umständen eine intelligente und rationale Entscheidung für das trifft,
was er als sein aufgeklärtes Eigeninteresse ansieht.
Aber was diese Leute tun, beide, sowohl die, die Waren verkaufen wollen, als auch die diktatorischen Propagandisten, ist zu versuchen,
die rationale Seite des Menschen zu umgehen und sich direkt an diese unbewussten Kräfte unter der Oberfläche zu wenden. In gewisser Weise
wird so das gesamte demokratische Verfahren unsinnig gemacht, das auf einer bewussten Entscheidung auf rationaler Grundlage beruht.
WALLACE: Natürlich, nun, vielleicht haben Sie gerade diese nächste Frage beantwortet, weil Sie in Ihrem Essay über Fernseh-Werbung
schreiben, nicht nur über politische Werbung, sondern Fernseh-Werbung als solche, wie Sie es ausdrückten: „Die Kinder von heute laufen
herum und singen Bier Werbespots und Zahnpasta-Werbespots.“
Dann verbinden Sie dieses Phänomen in gewisser Weise mit den Gefahren einer Diktatur. Könnten Sie jetzt die Verbindung deutlich machen oder
haben Sie das Gefühl, dass Sie dies schon ausreichend deutlich gemacht haben?
HUXLEY: Ich meine, diese ganze Frage der Kinder ist furchtbar wichtig, weil Kinder ganz eindeutig viel beeinflussbarer sind als der
durchschnittliche Erwachsene.
Wenn man wieder annimmt, dass aus dem einen oder anderen Grund die gesamte Propaganda in den Händen einer oder sehr weniger Agenturen
läge, würden diese eine außerordentlich starke Kraft auf die heranwachsenden Kinder ausüben, die demnächst Erwachsene sein werden.
Ich denke, dass dies keine unmittelbare Bedrohung ist, aber es bleibt eine mögliche Bedrohung …
WALLACE: Sie haben in Ihrem Aufsatz etwas dahingehend gesagt, dass die Kinder Europas früher „Kanonenfutter“ genannt wurden und hier in
den Vereinigten Staaten „Fernseh- und Radiofutter“.
HUXLEY: Immerhin kann man in den Fachzeitschriften ausführliche Berichte darüber lesen, wie notwendig es ist, der Kinder habhaft zu
werden, denn dann sind sie später treue Markenkäufer. Aber übersetzt man das wieder in politische Begriffe, dann sagt der Diktator, sie
werden alle Ideologiekäufer sein, wenn sie erwachsen sind.
WALLACE: Wir hören so viel über Gehirnwäsche, wie sie von den Kommunisten angewendet wird. Sehen Sie andere Gehirnwäsche als die,
über die wir gerade gesprochen haben, die hier in den Vereinigten Staaten angewandt wird, andere Formen der Gehirnwäsche?
HUXLEY: Nicht in der Form, wie sie in China und Russland verwendet wurde, weil dies im Wesentlichen die Anwendung von besonders
gewalttätigen Propaganda-Methoden auf Einzelpersonen ist; es ist keine Schrotflinten-Methode wie die Werbemethode. Es geht darum, sich der
Person zu bemächtigen und sowohl auf ihre Physiologie als auch auf ihre Psychologie einzuwirken, bis sie wirklich zusammenbricht, dann kann man
eine neue Idee in ihren Kopf einpflanzen.
Die Beschreibungen der Methoden sind wirklich blutrünstig, nicht nur der Methoden, die auf politische Gefangene angewendet werden, sondern
auch die Methoden, die zum Beispiel bei der Ausbildung junger kommunistischer Verwaltungsbeamter und Missionare angewendet werden. Sie
werden einem unglaublich harten Training unterzogen, das vielleicht fünfundzwanzig Prozent von ihnen zum Zusammenbruch oder Selbstmord
bringen kann, aber fünfundsiebzig Prozent zu völlig zielstrebigen Fanatikern macht.
WALLACE: Die Frage, die mir natürlich immer wieder in den Sinn kommt, ist folgende: Offensichtlich ist die Politik an sich nicht böse, das
Fernsehen ist an sich nicht böse, die Atomenergie ist nicht böse und doch scheinen Sie zu befürchten, dass sie auf böse Weise genutzt
werden. Warum werden sie Ihrer Einschätzung nach nicht von den richtigen Personen verwendet? Warum verwenden die falschen Leute diese
verschiedenen Mittel und aus den falschen Motiven?
HUXLEY: Nun, ich denke, einer der Gründe ist, dass dies alles Instrumente sind, um Macht zu erlangen und offensichtlich ist die
Leidenschaft für Macht eine der bewegendsten Leidenschaften, die im Menschen existiert und schließlich basieren alle Demokratien auf der
These, dass Macht sehr gefährlich ist und dass es äußerst wichtig ist, keinem einzelnen Mensch oder keiner kleinen Gruppe zu lange zu viel
Macht zu lassen.
Denn was sind die britische und die amerikanische Verfassung außer Mitteln zur Machtbegrenzung und all diese neuen Verfahren sind äußerst
effiziente Instrumente zur Machtausübung durch kleine Gruppen über größere Massen.
WALLACE: Ich stelle Ihnen Ihre eigene Frage, die Sie selbst in „Feinde der Freiheit“ gestellt haben: „Wie können wir in einem Zeitalter
der sich beschleunigenden Überbevölkerung, der sich beschleunigenden Überorganisation und immer effizienterer Bedeutung der
Massenkommunikation die Integrität bewahren und den Wert des menschlichen Individuums wieder herstellen?“
Sie haben die Frage gestellt, jetzt haben Sie die Chance, sie zu beantworten, Mr. Huxley.
HUXLEY: Nun, das ist offensichtlich … zunächst einmal ist es eine Frage der Bildung. Ich finde es ungeheuer wichtig, auf individuellen
Werten zu bestehen, ich meine, was ist eine … es gibt eine Tendenz… Sie haben wahrscheinlich ein Buch von Whyte gelesen, „The Organization Man“, ein sehr interessantes, wertvolles Buch, wie ich finde, wo er von der neuen Art der Gruppenmoral spricht, der
Gruppenethik, die über die Gruppe spricht, als ob die Gruppe irgendwie wichtiger wäre als das Individuum.
Aber das scheint meiner Meinung nach im Widerspruch zu dem zu stehen, was wir über die genetische Ausstattung des Menschen wissen, dass jeder
Mensch einzigartig ist. Und auf dieser genetischen Grundlage basiert natürlich die ganze Vorstellung vom Wert der Freiheit.
Und ich denke, es ist äußerst wichtig für uns, dies in unserem gesamten Bildungsleben zu betonen und ich würde sagen, es ist auch sehr
wichtig, den Menschen beizubringen, auf der Hut zu sein vor der Art verbaler Sprengfallen, in die sie immer geführt werden, damit sie
analysieren können, was ihnen gesagt wird.
Nun, ich denke, es gibt diese ganze erzieherische Seite von … und ich denke, es gibt noch viel mehr Dinge, die man tun könnte, um die
Menschen zu stärken und ihnen bewusster zu machen, was geschieht.
WALLACE: Sie sind ein Fürsprecher der Dezentralisierung?
HUXLEY: Ja, wenn es möglich ist. Es ist eine der Tragödien, wie mir scheint. Ich meine, viele Leute
haben über die Wichtigkeit der Dezentralisierung gesprochen, um dem Wähler den Sinn direkter Macht zurückzugeben. Ich meine, der Wähler
in einem riesigen Wählerfeld ist ziemlich machtlos und seine Stimme scheint nichts zu zählen.
Dies gilt nicht, wenn die Wählerschaft klein ist und wenn der Wähler es mit einer Gruppe zu tun hat, die er beeinflussen und verstehen kann
und wenn man -wie Jefferson vorgeschlagen hat- die Einheiten in immer kleinere Einheiten aufteilen und so eine echte, selbstverwaltete
Demokratie erreichen kann.
WALLACE: Nun, zu Jeffersons Zeiten war das alles schön und gut, aber wie können wir unser Wirtschaftssystem umgestalten und dezentralisieren
und gleichzeitig militärisch und wirtschaftlich der harten Herausforderung eines Landes wie Sowjetrussland begegnen?
HUXLEY: Nun, ich denke, die Antwort darauf ist, dass es meiner Meinung nach zwei Arten von industrieller Produktion gibt. Es gibt einige Arten
der industriellen Produktion, die offensichtlich sehr hohe Zentralisierung benötigen, wie zum Beispiel die Herstellung von Autos.
Aber es gibt noch viele andere Arten, bei denen man ganz einfach und wahrscheinlich ziemlich wirtschaftlich dezentralisieren könnte, so,
dass man dann diese Art von Dezentralisierung hätte, die man jetzt sieht, wenn man durch den Süden reist, wo diese dezentralisierte
Textilindustrie entsteht.
WALLACE: Mr. Huxley, ich will Sie ernsthaft fragen, ist Freiheit notwendig?
HUXLEY: Für mich ja.
Wallace: Warum? Ist Freiheit notwendig für eine produktive Gesellschaft?
HUXLEY: Ja, das würde ich sagen. Ich meine, eine wirklich produktive Gesellschaft. Ich meine, man könnte ohne viel Freiheit viele Waren
produzieren, aber ich denke, dass die ganze Art des kreativen Lebens des Menschen letztendlich unmöglich ist ohne ein beträchtliches Maß an
individueller Freiheit, an Initiative, an Schöpfung, all diesen Dingen, die wir schätzen und ich denke echte Werte sind ohne ein großes Maß
an Freiheit nicht möglich.
WALLACE: Nun, Mr. Huxley, werfen Sie noch einmal einen Blick auf das Land, das wohl die entgegengesetzte Haltung zeigt, Sowjetrußland. Es
ist stark und wird stärker, wirtschaftlich, militärisch, gleichzeitig entwickeln sich Kunstformen, anscheinend wird Kreativität nicht
unnötig unterdrückt. Und doch ist es keine freie Gesellschaft.
HUXLEY: Es ist keine freie Gesellschaft, aber hier ist etwas sehr Interessantes: Den Mitgliedern der Gesellschaft, wie den
Wissenschaftlern, die die kreative Arbeit leisten, wird viel mehr Freiheit eingeräumt als allen anderen. Ich meine, es ist eine
privilegierte aristokratische Gesellschaft, in der diese Leute, sofern sie ihre Nase nicht in politische Angelegenheiten stecken, viel
Prestige, ein beträchtliches Maß an Freiheit und eine Menge Geld genießen können.
Ich meine, das ist eine sehr interessante Tatsache des neuen Sowjetregimes und ich denke, was wir sehen werden, ist ein Volk das im
Großen und Ganzen sehr wenig Freiheit hat, aber mit einer Oligarchie an der Spitze, die ein beträchtliches Maß an Freiheit genießt und einen
sehr hohen Lebensstandard.
WALLACE: Und die Leute da unten, die „Epsilons“ da unten?
HUXLEY: Die genießen sehr wenig.
WALLACE: Und denken Sie, so eine Situation kann lange bestehen?
HUXLEY: Ich denke, das kann sicherlich viel länger dauern, als wenn alle draußen bleiben. Ich meine, sie können ihre technologischen und
wissenschaftlichen Ergebnisse sicherlich auf einer solchen Grundlage erzielen.
WALLACE: Nun, wenn ich das nächste Mal mit Ihnen spreche, sollten wir vielleicht die Möglichkeiten einer solchen Gesellschaft weiter untersuchen, in der die Drohnen für die Bienenkönigin oben arbeiten.
HUXLEY: Ja, aber ich muss sagen, ich glaube immer noch an die Demokratie, wenn wir das Beste aus den kreativen Aktivitäten der Leute
an der Spitze und zusätzlich der Leute unten machen können, umso besser.
WALLACE: Mr. Huxley, ich danke Ihnen sehr, dass Sie diese halbe Stunde mit uns verbracht haben, und ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Sir.
HUXLEY: Danke.
WALLACE: Aldous Huxley befindet sich dieser Tage in einer merkwürdigen und beunruhigenden Lage: Ein Vierteljahrhundert, nachdem er einen
autoritären Staat prophezeit hat, in dem die Menschen zu Chiffren werden, kann er auf Sowjetrussland zeigen und sagen: „Ich habe es euch
doch gesagt!“ Die entscheidende Frage, so sieht er es jetzt, ist, ob die sogenannte Freie Welt Mr. Huxley in Kürze die weitere zweifelhafte
Genugtuung verschaffen wird, dasselbe über uns zu sagen.