Die Situation im südlichen Kaukasus ähnelt weiterhin einem offenen Krieg. Bislang mit stillschweigender Billigung Russlands, dessen Friedenstruppen in der Region vor allem durch Passivität auffallen. Doch nun könnte Moskau umschwenken. Nicht aus humanitären Gründen, sondern aus Sorge vor wachsendem Einfluss des Westens.
Pressekonferenzen des russischen Außenministeriums fordern vom Publikum Konzentration. Denn die endlosen Monologe von Sprecherin Maria Sacharowa folgen der sowjetischen Gepflogenheit, Richtungsänderungen in Form scheinbar beiläufiger Bemerkungen anzukündigen.
Sacharowas Ultimatum
Am vergangenen Mittwoch ging Sacharowa auf die Lage im seit Dezember von der Außenwelt abgeschnittenen Arzach (Bergkarabach) ein – nach einer angeblich spontanen Frage eines Journalisten, wobei sie die Antwort erkennbar von Blatt ablas. „Wir fordern Baku auf, Schritte zu unternehmen, um den Korridor für humanitäre Zwecke vollständig freizugeben und die Bevölkerung Karabachs nicht als Geisel politischer Meinungsverschiedenheiten mit Jerewan zu halten.“
Pulverfass Bergkarabach
Gemeint ist der Latschin-Korridor. Also die Verbindungsstraße zwischen Armenien und jenem Teil Arzachs, der noch von der dortigen Regierung kontrolliert wird. Offiziell steht die Route unter dem Schutz russischer Friedenstruppen. Faktisch verhindern seit sechs Monaten zunächst sogenannte Umweltaktivisten und nun ein aserbaidschanischer Kontrollposten den Verkehr. Mit drastischen Folgen für die Lebensmittel- und Stromversorgung Karabachs, also des zweiten armenischen Staates. Ob Baku mit der Blockade vor allem eine Kapitulation Arzachs zum jetzigen Zeitpunkt erzwingen oder Waffenlieferungen an die zweifellos mit Kriegsvorbereitungen beschäftigte Arzach-Armee unterbinden will, ist unklar.
Kriegs-General als Friedens-Kommandant
Die seit November 2020 in der Region stationierten Russen hatten die Blockade schulterzuckend hingenommen. Insbesondere Sacharowa fiel dabei teilweise mit zynischen Bemerkungen auf. Allerdings deutete sich bereits im April eine Veränderung an, als Moskau ohne offiziellen Grund den Kommandanten der Friedenstruppe austauschte. Die 2.000 Soldaten werden seither von Alexander Letsow geführt. Der Generaloberst spielte 2014 eine undurchsichtige Rolle bei der Entstehung der Donbass-Republiken. Später war er in Syrien im Einsatz.
Moskaus Motive für den möglichen Kurswechsel sind nicht genau zu ergründen. Jedoch hatten sich die Europäische Union und die USA jüngst als Vermittler zwischen Armenien und Aserbaidschan aufgedrängt. Bisheriger Höhepunkt waren Gespräche im moldawischen Kischinau vor wenigen Wochen.
Druck aus Jerewan
Gleichzeitig übte Jerewan Druck auf Russland aus. Im Mai drohte der Sekretär des Sicherheitsrates, Armen Grigoryan, recht unverhohlen mit einem Austritt des Landes aus der russisch dominierten Militärallianz OVKS – und das in der Kreml-feindlichen Exilzeitung Nowaja Gazetta. Fast gleichzeitig warf Ministerpräsident Nikol Paschinjan Moskau vor, bezahlte Waffen im Wert von mehreren Hundert Millionen Dollar nicht geliefert zu haben. Zudem erwarb Armenien erstmals Rüstungsgüter aus Indien, darunter neu entwickelte Raketenwerfer und Haubitzen.
In Moskau dürften angesichts dieser Entwicklung die Alarmglocken schrillen. Zuletzt konnte der Kreml seine Position im südlichen Kaukasus durchaus stärken – einschließlich einer sensationellen Annäherung an das traditionell pro-westliche Georgien. Ein Seitenwechsel Armeniens wäre für Russland in dieser Situation ein schwerer Rückschlag.
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