Horst D. Deckert

Ein Monat AKW-Aus und die Welt dreht sich immer noch – welch Wunder

Mit einer gewissen Häme kommentierten gestern zahlreiche Grünen-Politiker eine Meldung der Bundesnetzagentur, nach der der endgültige Ausstieg aus der Kernenergie vor einem Monat den Strompreis nicht etwa steigen, sondern sogar leicht sinken ließ. Und der „befürchtete“ Blackout blieb auch aus. Das ist ja auch alles richtig, aber es hatte auch niemand ernsthaft das Gegenteil behauptet. Die gesamte Debatte erinnert vielmehr an ein Kasperletheater, das davon ablenken soll, warum der Strom so teuer ist. Kleiner Tipp: Die Kernkraft hat damit nichts zu tun, egal ob die AKWs abgeschaltet werden oder nicht. Von Jens Berger

Dass der endgültige Ausstieg aus der Kernkraft im Frühling keine nennenswerten Auswirkungen auf den Strompreis haben würde, war von vornherein klar. Um so erstaunlicher ist der Kommentar der Bundesnetzagentur in dieser Angelegenheit. Man kommt nicht um den Eindruck herum, dass Netzagenturchef und Grünen-Politiker Müller hier eher seinen Parteifreunden einen Gefallen tun wollte. Wer weiß, wie der Strommarkt funktioniert, durchschaut dieses Manöver.

Der Strompreis an den Strombörsen wird nämlich nicht direkt – wie vielfach fälschlicherweise suggeriert – von den Erzeugerkosten der Kraftwerke bestimmt, sondern durch das sogenannte Merit-Order-Prinzip bestimmt. Die NachDenkSeiten hatten dazu im letzten Jahr ausführlicher berichtet. Kurz zusammengefasst: Der Strom wird in der Reihenfolge der Grenzkosten der Kraftwerksbetreiber ins Netz eingespeist – so lange, bis der momentane Bedarf gedeckt ist. Der Preis für den gesamten Strom wird dabei stets nach dem Kraftwerk bemessen, das als letztes zugeschaltet wurde; also dem Kraftwerk, das die höchsten Grenzkosten hat. Das war früher auch sinnvoll und hat Investoren die nötige Sicherheit gegeben, um in regenerative Energien zu investieren. Seit den EU-Sanktionen gegen Russland hat sich dies jedoch grundsätzlich geändert, da sich mit dem Erdgas eine zentrale Komponente der Energiewende massiv verteuert hat. Um dies zu bewerten, helfen die statistischen Daten des Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE.

Schaut man sich dort die „Heatmap“ für die Stromerzeugung aus Gas für dieses Jahr an, erkennt man, dass es keinen einzigen Zeitpunkt gab, an dem kein Gaskraftwerk zugeschaltet worden war. Die Mengen des in Gaskraftwerken produzierten Stroms waren jedoch variabel. Das wiederum hat vor allem etwas mit dem Wetter zu tun. Die Stromerzeugung durch regenerative Energien ist bekanntlich abhängig vom Dargebot an Wind und Sonne. Und wenn die Regenerativen nur wenig Strom einspeisen, werden Gaskraftwerke zugschaltet. Dies lässt sich gut auf der „Heatmap“ für die Stromerzeugung aus regenerativen Energien erkennen.

Vergleicht man die beiden Heatmaps erkennt man, dass die Gaskraftwerke vor allem dann zugeschaltet wurden, wenn die regenerativen Energien gerade nur geringe Kapazitäten lieferten. Das ist kein Bug, sondern ein Feature. Genau das ist die Aufgabe der Gaskraftwerke.

Doch kommen wir nun zum Preis zurück. Wenn stetig Strom aus Gaskraftwerken mit hohen Grenzkosten eingespeist werden muss, um die Nachfrage zu decken, bestimmen diese Kraftwerke auch den Strompreis. Solange zeitgleich Strom aus Gaskraftwerken eingespeist werden muss, ist es für den Strompreis vollkommen irrelevant, ob der restliche Strom nun aus preiswerten regenerativen Energien, Braunkohle, Steinkohle oder der Kernkraft kommt.

Ginge es „nur“ um den Strompreis, müsste die Devise nicht „Rein in den Atomstrom“, sondern „Raus dem Gas!“ lauten. Man könnte leicht überspitzt sagen: Der Strompreis ist heute indirekt an den Gaspreis gekoppelt; freilich gilt dies nur für den Großhandel, der Endkundenpreis ist ein Thema für sich.


Gaspreis im letzten Jahr
Quelle: EEX

Nach den volatilen Schwankungen im letzten Jahr, die vor allem eine Folge der nicht durchdachten Einkaufspolitik der Bundesnetzagentur waren, hat sich der Gaspreis seit dem Jahreswechsel mit sinkender Tendenz auf einem Niveau eingepegelt, das immer noch mehr als viermal so hoch ist wie vor der beginnenden Gaspreiskrise im Jahre 2021. Die leicht sinkende, wenig volatile Entwicklung des Gaspreises spiegelt sich – wie bereits erklärt – nahezu 1:1 im Strompreis wider. Das Abschalten der letzten AKWs konnte also im letzten Monat gar keinen Einfluss auf den Strompreis haben.

Um den Strompreis nachhaltig zu drücken, gibt es im Grunde nur drei Möglichkeiten.

  • Man erhöht die Kapazitäten der regenerativen Energien, so dass die teuren Gaskraftwerke seltener über das Merit-Order-Prinzip den Strompreis diktieren.
  • Man sorgt – z.B. durch eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland – dafür, dass der Gaspreis wieder sinkt.
  • Man setzte das Merit-Order-Prinzip außer Kraft oder modifiziert es, so dass der aus dem Ruder gelaufene Gaspreis nicht mehr den Strompreis bestimmt.

Wie man sieht, spielt die Kernkraft hier keine Rolle. Es ist jedoch für Populisten beider Lager offenbar attraktiver weder die Sanktionen noch das heute dysfunktionale Merit-Order-Prinzip zu thematisieren und stattdessen einen polarisierenden öffentlichen Streit um die Kernenergie zu führen, die bei nüchterner Betrachtung mit dem Strompreis überhaupt nichts zu tun hat.

Interessanter ist da schon die Debatte, wie der endgültige Ausstieg aus der Kernkraft sich auf die Versorgungssicherheit auswirkt. Auch hier melden Grünen-Kreise gespielt euphorisch, dass die AKW-Abschaltungen keine negativen Auswirkungen gezeigt hätten. Kunststück, wie sollten sie? Traditionell sind April und Mai nicht dafür bekannt, besonders windarm und dunkel zu sein und die große Heizsaison, in der besonders viel Strom in Wärmepumpen und klassische Elektroheizungen geht, ist auch vorbei. Wie man anhand der Statistiken sieht, fällt der Wegfall der ohnehin kaum mehr bedeutenden Kernkraft da keine Rolle.

Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland seit dem April erstmals seit langer Zeit kein Stromexporteur, sondern ein Stromimporteur ist.


Quelle: stromdaten.info

Die größten Importüberschüsse gehen dabei auf den Import französischen Atomstroms (632 GWh) und dänischen Strom aus Windenergie (734 GWh). Auch dies ist im Prinzip nicht ungewöhnlich. Traditionell exportiert Deutschland im Winterhalbjahr Strom nach Frankreich und importiert im Sommerhalbjahr Atomstrom aus Frankreich. Das letzte Jahr war aufgrund der wartungsbedingten Ausfälle französischer AKWs eher eine Ausnahme.

Wenn es keine derartigen Ausfälle gibt, ist die deutsche Stromversorgung auch dank der französischen AKWs und der polnischen Kohlekraftwerke sicher. Bereits in diesem Jahr soll die gesamte weggefallen Kapazität der abgeschalteten AKWs ohnehin durch den Zubau regenerativer Energien substituiert werden. Das klingt beruhigend. Aber was passiert, wenn sich diese Rahmenbedingungen ändern?

Gefürchtet sind hier vor allem die sogenannten Dunkelflauten, also Zeiträume, in denen die Sonne kaum scheint und der Wind nicht weht. Die letzte Dunkelflaute hatten wir in der zweiten Januarhälfte dieses Jahres. Hier konnten letztlich zugeschaltete Gas- und Steinkohlekraftwerke im Inland das Netz stabilisieren.

Ob diese Reserven jedoch auch bei Stresssituationen ausreichen, hängt auch von Faktoren ab, die nicht im direkten Einflussbereich der deutschen Politik stehen. Wenn beispielsweise im Sommer durch eine anhaltende Dürre europaweit Kernkraftwerke mangels Kühlwasserdargebots vom Netz gehen müssen und die Wasserkrafterzeugung bei sinkenden Pegelständen zurückgeht, könnte es in windarmen Zeiten durchaus eng werden. Ähnliche Probleme könnten entstehen, wenn im kommenden Winter Frankreichs AKWs nicht mit der geplanten Last fahren können und Frankreich mehr Strom aus Deutschland benötigt als in den letzten Jahren. Mittel- bis langfristig ist auch unklar, ob der Ausbau der Regenerativen die von E-Autos und Wärmepumpen benötigte zusätzliche elektrische Energie voll kompensieren kann – erst recht während einer winterlichen Dunkelflaute, bei der Bedarf an elektrischer Energie zum Heizen sehr hoch ist.

Es wäre also zu früh, Prognosen über die Versorgungssicherheit zu tätigen – egal in welche Richtung. Wer heute sagt, die Abschaltung der AKWs führt uns in den Blackout ist ein Populist. Wer heute sagt, die Versorgungssicherheit ist trotzt Abschaltung der AKWs immer gewährleistet, ist jedoch ebenfalls ein Populist. Die seriöse Antwort auf diese Frage müsste lauten: Wir wissen es nicht.

Die großen Aufgaben liegen ohnehin woanders. Zuletzt stand die Kernenergie gerade einmal für 6,4% des in Deutschland eingespeisten Stroms. Es erscheint wenig sinnvoll, sich auf diese Nische einzuschießen. Selbstverständlich kann man die nun wegfallenden Kapazitäten mühelos durch regenerative Energien ersetzen. Die eigentlichen Fragen sind eher:

  • Wird man es schaffen, ein durchdachtes Konzept zu entwickeln, das die Versorgungssicherheit auch dann bewerkstelligt, wenn es Dunkelflauten gibt und die Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass die Defizite nicht durch Importe gedeckt werden können?
  • Wird man es schaffen, dass die durch die Energiewende erzeugten Kostenvorteile auch an die Haushalte und die Industrie weitergegeben werden? Es kann doch nur ein schlechter Witz sein, dass Strom in der Erzeugung von Jahr zu Jahr günstiger wird, der Strompreis für die Verbraucher aber von Jahr zu Jahr massiv steigt.

Über diese Fragen sollte eine politische und gesellschaftliche Debatte entbrennen. Medienwirksame Hahnenkämpfe zwischen Unions- und AfD-Politikern, die dem „guten deutschen Atomstrom“ nachtrauern auf der einen und Grünen-Politikern, die in Fragen der Versorgungssicherheit den Bruder Leichtfuß geben und hohe Strompreise eigentlich ganz toll finden, auf der anderen Seite, helfen jedoch niemanden. Die gesamte AKW-Debatte ist überflüssig wie ein Kropf.

Titelbild: Svet foto/shutterstock.com

Ähnliche Nachrichten