Horst D. Deckert

Europa ist vorgestern wohl gerade an einem Blackout vorbeigeschrammt

Das europäische Stromnetz ist ein meist verlässliches, aber auch fragiles System. Es bringt sich diesbezüglich hin und wieder in Erinnerung.

Freitag, 8. Januar 2021, 13:04:55 Uhr (MEZ)

Zu diesem Zeitpunkt kam es im europäischen Höchstspannungsnetz (ENTSO-E) zu einem deutlichen Frequenzeinbruch. Innerhalb von 14 Sekunden erfolgte ein Frequenzabfall von 50,027 auf 49,742 Hertz.

Damit wurde der Regelbereich mit einer Untergrenze von 49,8 Hertz verlassen, eine ernsthafte Gefahr bestand noch nicht. Die in diesem Fall vorgesehenen Maßnahmen – Einsatz positiver Regelenergie, Stopp des eventuellen Pumpbetriebes in Pumpspeicherwerken – reichten aus, nach wenigen Sekunden die Frequenz wieder über die 49,8 Hertz nach oben zu bringen. In folgendem Bild wurde der oben gelb angegebene Bereich nur kurzzeitig nach links überschritten, dennoch war es der stärkste Frequenzeinbruch seit November 2006 (der damals zu einem großflächigen Blackout in Westeuropa führte):

Zunächst gab es Unklarheit zur örtlichen Herkunft der Störung, die sich aber bald dem Versorgungsgebiet der Transelectrica im Nordwesten Rumäniens, auf Transsilvanien und Siebenbürgen, zuordnen ließ. Zu den Ursachen gibt es noch keine Erkenntnisse, eher offene Fragen: Ein Kraftwerksausfall, selbst mehrerer Blöcke, hätte einen solchen Einbruch kaum verursachen können. Missverständnisse im Handelsgeschehen können auch ausgeschlossen werden, denn der Zeitpunkt lag deutlich nach der vollen Stunde. Eine großflächige Abschaltung des regionalen Netzes in Rumänien wiederum hätte die Frequenz nach oben und nicht nach unten abweichen lassen. Gesicherte Informationen muss man abwarten.

Bei deutschen Netz- und Kraftwerksbetreibern liefen entsprechende Meldungen aus der Leittechnik auf. In Frankreich, das zu diesem Zeitpunkt viel Strom importierte, wurden Verbraucher aufgefordert, ihren Bezug zu verringern.

Gridradar.net äußerte sich zu begünstigenden Faktoren. Zum einen ist derzeit die Last pandemiebedingt geringer, was zur Folge hat, dass weniger konventionelle Kraftwerke am Netz sind. Dadurch sinkt der Effekt der rotierenden Massen, die im Netzverbund die Mikroschwankungen wegbügeln und die in einem solchen Störfall die erste Verteidigungslinie bilden. Ein 500-Megawatt-Braunkohleblock bringt zum Beispiel mit seinem Turbosatz 170 Tonnen Schwungmasse – vom Turbinen-Hochdruckteil bis zum Generator-Induktor – auf die Waage. Diese Masse an Stahl und Kupfer und einer Drehzahl von 3.000 Umdrehungen pro Minute stellt eine erhebliche Schwungmasse dar. Gekoppelt über das Netz sind also mehrere tausend Tonnen Massenträgheit mit dem entsprechenden Drehmoment wirksam.Mit der sinkenden Zahl in Betrieb befindlicher Turbo-Generator-Sätze geht nicht nur die Massenträgheit, sondern auch die Menge der verfügbaren Primär- und Sekundärregeleistung zurück, die nur von konventionellen Kraft- und Pumpspeicherwerken bereit gestellt werden kann. Die innerhalb weniger Sekunden erforderliche Primärregelleistung könnte auch durch Großbatterien erbracht werden, dies jedoch zu erheblichen Kosten und gegenwärtig sind sie nicht in nennenswerter Zahl verfügbar.

Was leisteten die massenhaft installierten Wind- und Solaranlagen in Deutschland im fraglichen Zeitraum? Bei einer Netzlast von 66,26 Gigawatt (GW) um 13 Uhr lieferten sie gemäß Einspeisevorrang des EEG alles, was sie konnten: 4,34 GW Windstrom (6,5 Prozent des Bedarfs) und 2,12 GW Solarstrom (3,2 Prozent)1. Da sie in keiner Form an der Netzregelung und Netzdienstleistungen beteiligt sind, waren sie bezüglich der Störung weder betroffen noch beteiligt. Sie waren, um eine populäre Kanzlerinnenformulierung zu gebrauchen, „nicht hilfreich“. Eine frequenzstabilisierende Wirkung durch die Massenträgheit der Rotoren der Windkraftanlagen gibt es nicht, da die Netzkopplung elektrisch über Umrichter erfolgt. Der erzeugte Gleichstrom wird in eine digitalisierte Sinuskurve überführt und als Drehstrom abgeführt, bei zu starker Abweichung von der Netzfrequenz schalten sich die Anlagen ab.

Nun soll ausgerechnet der massenhafte Ausbau dieser Technologien das künftige Stromversorgungssystem dominieren. Die Fragen der rotierenden Massen, der Frequenzhaltung und der Spannungsregelung wird im Zusammenhang mit dem fortschreitenden Zubau volatiler Einspeiser schon lange in der Branche diskutiert. Nur im politischen Raum mit der ausschließlich CO2-zentrierten Sicht auf die Energieversorgung nicht. Schon längst hätte man den „Erneuerbaren“ Systemverantwortung übertragen müssen.

Unterdessen steigt die Anfälligkeit des Systems durch immer höhere Komplexität, durch die erhöhte Einspeisung von Strom in die unteren Spannungsebenen (dezentrale Erzeugung, vor allem regenerativ), durch verstärkten Handel, durch stärkere Erzeugungsschwankungen und Verringerung der gesicherten Einspeisung.

Einige Störungen aus jüngerer Vergangenheit zeigen verschiedene Ursachen. Bedenklich dabei ist, dass einige Ereignisse nicht oder nicht vollständig aufgeklärt werden konnten:

14. Dezember 2018: Abschaltungen von Teilen der deutschen Aluminiumindustrie („Prognosefehler bei den erneuerbaren Energien aufgrund einer komplexen Wetterlage“).

10. Januar 2019: Frequenzabfall auf 49,8 Hz – zwei gestörte Kraftwerke in Frankreich, in Verbindung mit einer defekten Messstelle im Netz. Dennoch hätte es diesen Einbruch nicht geben dürfen

24. Januar 2019: Überfrequenz von fast 50,2 Hz, Ursache unbekannt, evtl. hat sich das Netz „aufgeschaukelt“.

3. April 2019: Frequenzabfall 49,84 Hz – Ursache unklar

20. Mai 2019 „Alarmstufe rot“ bei Swissgrid

6., 12. und 25. Juni 2019: bis zu 7 GW Unterdeckung im deutschen Netz – Auswirkung des „Mischpreisverfahrens“ – Spotmarktpreis höher als Regelenergiepreis, Bilanzkreisverantwortliche haben gepokert. Inzwischen sind die Regularien geändert.

7. Juni 2019 Datenpanne bei der europäischen Strombörse EPEX, dadurch Entkopplung des europäischen Marktes. Ursache war vermutlich ein „korruptes“ Datenpaket.

8. Januar 2021 Unterfrequenz 49,742 Hz ?

(Aufzählung nicht vollständig)

Wie man sieht, können die Störungsursachen vielfältig sein und unglückliche Kombinationen verschiedener Ursachen unabsehbare Folgen haben. Dass die richtunggebende Politik dies wahrgenommen hat, ist nicht zu erkennen.

Daten aus: https://energy-charts.info/

Der Beitrag erschien zuerst bei TE hier

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