von Edgar L. Gärtner
Fast unbemerkt von der gedruckten oder audiovisuell verbreiteten Öffentlichkeit setzte der erste Evolutionary Power Reactor (EPR) mit einer Nettoleistung von 1.650 Megawatt (MW) auf französischem Boden Anfang September 2024 die ersten Elektronen frei. Ursprünglich sollte dieses Ereignis, auf das die Franzosen fast 15 Jahre warten mussten, mit einem pompösen Auftritt des Staatspräsidenten Emmanuel Macron gefeiert werden. Doch daraus wurde nichts. Schuld daran waren die politischen Wirren, die Macron mit seiner panischen Entscheidung, nach der verlorenen Europawahl die Nationalversammlung aufzulösen, heraufbeschworen hat.
Der EPR beim normannischen Flamanville ist der erste KKW-Neubau in Frankreich seit 25 Jahren. Eine ganze Generation trennt also die heutigen KKW-Bauer vom Bau des letzten französischen Druckwasserreaktors im westfranzösischen Civaux gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Dieser im Jahre 1999 ans Netz genommene Reaktor mit einer elektrischen Leistung von 1450 Megawatt war der letzte einer ganzen Serie rasch hintereinander in Westinghouse-Lizenz gebauter Reaktoren. Der große zeitliche Abstand von einem Vierteljahrhundert zum heutigen EPR-Projekt erklärt zu einem Teil die Schwierigkeiten durch den Verlust von Know how und qualifizierten Arbeitskräften wie vor allem Schweißer. Hinzu kommen die mangelnde Erfahrung mit dem ursprünglich von der französischen Reaktorbau-Firma Areva gemeinsam mit der deutschen Siemens entwickelten EPR-Konzept sowie das Verschwinden zahlreicher kleiner und mittleren Zulieferer – zunächst wegen des Ausfalls von Bestellungen wegen der seit den späten 1970er Jahren zunehmenden politischen Angriffe gegen die Kernenergie und zuletzt wegen des Covid-Lockdowns.
Ursprünglich sollte der EPR von Flamanville schon im Jahre 2010 in Betrieb genommen werden. Die oben angedeuteten Probleme haben nicht nur zu einer Verspätung einer Fertigstellung um 14 Jahre, sondern auch zu einer Verfünffachung der Baukosten von ursprünglich geplanten 3,3 Milliarden auf 19,5 Milliarden Euro geführt. Am 2. September endlich (langsam) seinen Betrieb auf. Ans nationale Stromnetz soll er erst gegen Ende des Herbstes gekoppelt werden, wenn er seine volle Leistung erreicht hat. Doch kaum war der neue Reaktor angefahren, wurde seine erste automatische Notabschaltung gemeldet. Kein gutes Omen. Aber eine normale Reaktion auf die noch nicht ganz abgeschlossenen Konfiguration der Anlage, erklärte der Sprecher des staatlichen Stromkonzerns EDF.
Die französischen Massenmedien nahmen davon kaum Notiz, denn sie waren noch beinahe rund um die Uhr mit der Frage beschäftigt, wen Emmanuel Macron nach den vorgezogenen Neuwahlen vom 7.Juli und den schwierigen Mehrheitsverhältnissen in der Nationalversammlung, die die Stichwahlen zwei Wochen später brachten, zum neuen Premierminister ernennen würde. Da das ultralinke Bündnis der Neuen Volksfront NFP mit seinem trotzkistischen Anführer Jean-Luc Mélenchon aufgrund der Stimmenübertragung bürgerlicher Wähler aus Angst vor einer Machtergreifung des Rassemblement National (RN) im neuen Parlament die meisten Sitze, wenn auch nicht die absolute Mehrheit errang, drängten die Linken auf die Ernennung ihrer Kandidatin, der Spitzenbeamtin Lucie Castets. Wären sie damit durchgekommen, wäre es um die von Macron vor zwei Jahren in einer programmatischen Rede in der ostfranzösischen Industriestadt Belfort ausgerufene Renaissance der Kernenergie vielleicht geschehen gewesen.
Am Ende zog Macron aber den ehemaligen EU-Kommissar Michael Barnier (73) aus Savoyen für das Amt des Premierministers vor. Die Berufung dieses international erfahrenen und bei den gemäßigten Rechten beliebten Politikers mit gaullistischem bzw. christdemokratischem Hintergrund wird aber möglicherweise zu einem Rollenwechsel zwischen dem Premierminister und dem Staatspräsidenten führen. Denn Emmanuel Macron hat durch seine sprunghaften Entscheidungen mit chaotischen Folgen in den letzten Monaten so viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt, dass er wohl nicht länger als Stratege akzeptiert wird. Er müsste akzeptieren, die zweite Geige zu spielen oder bald zurücktreten.
Michel Barnier, der im Auftrag der EU-Kommission den Brexit ausgehandelt hat, wird großes diplomatisches Geschick und Verhandlungstalent nachgesagt. Ihn einem linken Technokraten vorgezogen zu haben, hält der bekannte an der Pariser Sorbonne lehrende Politikwissenschaftler Fréderic Sawicki für einen klugen Schachzug Macrons. Dieser habe bislang vergeblich eine Allianz zwischen seinen Anhängern und der republikanischen Rechten angestrebt. Mit Michel Barnier komme er seinem Ziel näher – allerdings auf einer mehrdeutigen Basis. Denn Barnier kann sich nur an der Macht halten, solange das rechte Rassemblement National darauf verzichtet, sich mit der linken Opposition in der Nationalversammlung zusammenzutun, um ihm das Misstrauen auszusprechen.
Da sich Barnier schon als EU-Kommissar kritisch zum Schengen-Abkommen geäußert, sich für stärkere Grenzkontrollen ausgesprochen und sich nicht am Le-Pen-Bashing beteiligt hat, sahen Marine Le Pen und der von ihr und ihren Beratern aufgebaute junge Polit-Star Jordan Bardella kein Hindernis für einen Kompromiss mit Barnier. Indem sie diesen unterstützen, können sie dem Wahlvolk zeigen, dass nicht sie für die derzeitige institutionelle Blockade Frankreichs verantwortlich sind. Das RN, das in seinen Reihen mangels Regierungserfahrung nur wenige „ministrable“ Köpfe zählt, hält damit, wie Sawicki betont, den „Schlüssel des Lastwagens“ in der Hand. Es kann jederzeit den Sturz der Regierung Barnier provozieren, wenn diese Maßnahmen ergreift, die den Interessen des RN zuwiderlaufen, indem es zum Beispiel ein Referendum über die Einwanderung fordert. Das RN richtet seine Bündnispolitik (auch international) ohnehin tendenziell ausschließlich nach der Frage aus, ob sie dem Ziel Marine Le Pens, im Jahre 2027 die französischen Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, dient oder nicht.
Immerhin gibt es nun die Chance, dass die neue französische Regierung zumindest ansatzweise der Forderung des RN nach einem massiven Ausbau der Kernenergie folgt. Denn im Unterschied zu dem von Präsident Macron in Belfort angekündigten Bau von zunächst 6 und insgesamt 14 EPR müssten rechnerisch ab 2037 jedes Jahr statt einem zwei EPR ans Netz gehen, um das regierungsoffizielle Ziel der vollständigen „Dekarbonisierung“ der Elektrizitätsversorgung bis zum Jahre 2050 zu erreichen. Um seine macronistischen und grünen Unterstützer bei der Stange zu halten, könnte der EU-treue Barnier aber auch gezwungen sein, sich stärker am „Green Deal“ der EU und dessen Vorgaben für den Ausbau so genannter erneuerbarer bzw. grüner Energiequellen zu orientieren. Für das Aufkommen von Konflikten ist also gesorgt. Schon beginnen übrigens beim RN Säuberungen im „klassischen“ Stil.
Die Franzosen warten noch immer darauf, endlich wieder in den Genuss der Vorteile des hohen Anteils preisgünstiger Kernenergie in ihrer Stromversorgung gelangen zu können. Stattdessen soll der Strom für einen Teil der Kunden des staatlichen Monopols EDF ab 1. November erst einmal teurer werden, bevor er ab 1. Februar 2025 um 10 Prozent billiger wird. Bei der Preiserhöhung im November handelt es sich um die Verschiebung der ursprünglich für den 1. August angekündigte Korrektur infolge der Aufhebung des staatlich subventionierten „Bouclier tarifaire“ wegen des politischen Durcheinanders infolge der vorzeitigen Parlamentsauflösung durch Macron. Die geplante Preissenkung im Februar soll lediglich der inzwischen eingetretenen Stabilisierung der Großhandelspreise für Elektrizität Rechnung tragen. Es geht dabei ausdrücklich nicht um die Infragestellung des von der EU bzw. Deutschland durchgesetzten Merit-Order-Tarifsystems, das sich an den hohen Kosten von Gaskraftwerken orientiert. Es geht auch nicht um die Aufhebung der von den Grünen in der EU erzwungenen Regelung ARENH (Accès réglementé à l‘électricité nucléaire historique), wonach EDF ein Viertel bis ein Drittel seiner nuklear erzeugten Elektrizität unter dem Gestehungspreis an „alternative“ Billig-Anbieter abtreten muss. Diese von den meisten Franzosen als skandalös empfundene Vorschrift läuft Ende 2025 ohnehin aus.
Viele französische Stromkunden erwarten nun, dass das RN seinen neu gewonnenen politischen Einfluss geltend macht, um schneller von diesen politischen Hemmschuhen der Kernenergie wegzukommen. Neben dem bislang schwierigen Geschäft von Staatskonzernen mit Großreaktoren könnten auch innovative private Start-ups wie die hier schon vorgestellte Firma „Naarea“, die sich der Entwicklung wettbewerbsfähiger Kleinreaktoren mit schnellen Neutronen verschrieben haben, von der Zusammenarbeit der neuen französischen Regierung mit dem Rassemblement National profitieren. Es wird gemeldet, dass „Naarea“ inzwischen 150 Personen beschäftigt. Die personelle Zusammensetzung von Barniers Regierung stand bei der Abfassung dieses Beitrags allerdings noch nicht fest. Es gilt bei erfahrenen Beobachtern der französischen Politik aber als ausgemacht, dass Michel Barnier mehr Probleme mit den stark von Lobbisten der Berliner „Ampel“ beeinflussten Pariser Spitzenbürokraten haben wird als mit politischen Parteien.
Der Beitrag Frankreichs holpriger Wiedereinstieg in die Kernenergie erschien zuerst auf EIKE – Europäisches Institut für Klima & Energie.