Horst D. Deckert

Gedanken eines Statistikers zur Übersterblichkeit während der Coronapandemie (2/2)

Vergleicht man die offiziellen Angaben zur Übersterblichkeit mit den vom RKI veröffentlichten Zahlen der Corona-Toten, klafft dort eine größere Lücke. Der Statistiker Günter Eder hat die Daten mit Hilfe statistischer Methoden angepasst und dabei eine erstaunlich präzise Korrelation herausgearbeitet. So kann er statistisch belegen, dass es auch eine „zeitverzögerte Untersterblichkeit“ gab, aus der man schließen kann, dass zwei Drittel der Verstorbenen ohne eine Ansteckung mit Corona durchschnittlich gerade einmal zehn Wochen länger gelebt hätten. Nur ein Drittel der Coronatoten hätte ohne Infektion eine durchschnittliche Restlebenserwartung von mehr als zehn Wochen gehabt. Es ist erstaunlich, dass diese Erkenntnis von offizieller Seite niemals in Erwägung gezogen wurde. Eder hat nun seine Gedanken in einem zweiteiligen Artikel für die NachDenkSeiten zusammengefasst.

Lesen Sie hier den ersten Teil des Artikels.

Regressionsanalyse mit zwei Einflussgrößen

Von der Grippe her ist bekannt, dass besonders häufig alte und stark vorerkrankte Menschen an einer Infektion versterben. Es handelt sich vielfach um Menschen, die aufgrund gravierender Vorerkrankungen auch ohne die zusätzliche Grippe nicht mehr lange gelebt hätten. Man kann nicht sagen, wie viel Lebenszeit sie durch die Grippe verloren haben, aber vielfach dürfte es sich lediglich um Wochen oder Monate handeln. Angenommen ein Großteil der Verstorbenen hätte ohne die Grippeerkrankung noch eine Lebenserwartung von drei Monaten gehabt, dann müsste der Übersterblichkeitsverlauf drei Monate nach dem Maximum der Grippewelle ein markantes Minimum aufweisen (Untersterblichkeit). Die Untersterblichkeit müsste umso ausgeprägter ausfallen, je höher die Grippewelle war und je höher der Anteil derjenigen ist, der auch ohne die Grippeinfektion nicht mehr lange gelebt hätte.

Falls der für die Grippe skizzierte Zusammenhang auch auf das coronabedingte Sterbegeschehen zutrifft, wäre zu erwarten, dass auf die sehr hohe zweite Coronawelle eine ausgeprägte Untersterblichkeit folgt. Führt man sich die Abbildung 1 vor Augen, so sieht man, dass dies tatsächlich der Fall ist. Innerhalb weniger Wochen geht die Übersterblichkeit von einem Maximum von 6.039 Toten (in der 52. KW 2020) auf ein Minimum von –1.809 (in der 9. KW 2021) zurück.

Die hohe Untersterblichkeit könnte also daher rühren, dass vor allem alte und stark vorerkrankte Menschen der Coronainfektion zum Opfer gefallen sind, Menschen, die auch ohne die Infektion nicht mehr lange gelebt hätten. Zu dem gleichen Schluss kommt Professor Ragnitz in einer Übersterblichkeitsstudie, die er für das ifo-Institut (München) erarbeitet hat. Die ausgeprägte Untersterblichkeit nach der zweiten Welle legt seiner Meinung nach den Verdacht nahe, „dass in nicht wenigen Fällen eine Ansteckung mit dem Coronavirus dazu geführt hat, dass ohnehin geschwächte Personen früher gestorben sind als es sonst der Fall gewesen wäre.“[1] Für diese Interpretation des Geschehens spricht auch das hohe Sterbealter der Betroffenen. Es lag im Jahr 2020 bei durchschnittlich 83 Jahre und damit drei Jahre über der allgemeinen Lebenserwartung.

Nimmt man die Zeit, die von der maximalen Übersterblichkeit bis zur maximalen Untersterblichkeit vergeht, zum Maßstab, so dürfte ein Großteil der Verstorbenen im Mittel etwa neun bis zwölf Wochen an Lebenszeit verloren haben.

Falls dieses Szenario das Sterbegeschehen angemessen charakterisiert, müsste ein Regressionsansatz, der außer der Zahl der Coronatoten auch die zeitverzögerte coronabedingte Untersterblichkeit als Einflussgröße berücksichtigt, eine deutlich verbesserte Kurvenanpassung zur Folge haben. Der Abbildung 4 kann das Ergebnis der entsprechenden Regressionsanalyse entnommen werden. Für den Übergang von der Übersterblichkeit zur nachfolgenden Untersterblichkeit ist eine Zeitverzögerung von zehn Wochen unterstellt worden.

Aus der Abbildung ist zu ersehen, dass sich die regressionsanalytisch abgeleitete Übersterblichkeitskurve – im Vergleich zu Abbildung 3 – jetzt sehr viel besser an die modifizierte Übersterblichkeit anschmiegt. Das Bestimmtheitsmaß verdoppelt sich nahezu. Es steigt von 43,9% (ohne Berücksichtigung des Untersterblichkeitseffekts) auf 87,2% (mit Berücksichtigung des Untersterblichkeitseffekts) und kann jetzt als durchaus zufriedenstellend eingestuft werden.

Abbildung 4

Nach Maßgabe der Regressionsanalyse ist die Übersterblichkeit folglich nicht nur mit der Zahl der Coronatoten eng verknüpft, sondern auch mit der nachfolgenden Untersterblichkeit (zehn Wochen später). Die ermittelten Korrelationen sind zunächst einmal natürlich nur das Resultat einer formalen statistischen Analyse. Sie können nicht automatisch als Beweis für einen bestehenden sachlichen Zusammenhang angesehen werden. Auf der anderen Seite lässt sich das formale Ergebnis jedoch durchaus inhaltlich interpretieren, wenn man einen ursächlichen Zusammenhang unterstellt.

Für die Einflussgröße „Zahl der Coronatoten“ liefert die Regressionsanalyse einen Schätzwert von exakt 1,00. Der Wert besagt, dass sich die Zahl der Coronatoten Eins zu Eins im Übersterblichkeitsverlauf widerspiegelt. Die zwei Nachkommastellen darf man dabei nicht allzu wörtlich nehmen. Statistische Schätzwerte sind immer mit Unsicherheiten behaftet. Im vorliegenden Fall ist der Wert mit einem 95%-Konfidenzintervall von [0,90 bis 1,10] verbunden.

Der Schätzwert für die Einflussgröße „zeitverzögerte Untersterblichkeit“ fällt niedriger aus und liegt bei 0,68. Der Wert kann als Anteil der Coronatoten interpretiert werden, der auch ohne die Coronainfektion nur noch kurze Zeit gelebt hätte. Das Leben von 68% der Verstorbenen wäre demnach durch die Ansteckung mit Corona um durchschnittlich zehn Wochen verkürzt worden. Vice versa bedeutet dies, dass lediglich 32% der Verstorbenen, wenn sie sich nicht infiziert hätten, eine höhere Lebenserwartung als zehn Wochen gehabt hätten. Auch diese Schätzwerte sind mit Unsicherheiten behaften. Das zugehörige 95%-Konfidenzintervall erstreckt sich von [0,60 bis 0,76]. Der Anteil der Coronatoten, der keine längere Lebensperspektive gehabt hätte, liegt danach mit 95prozentiger Sicherheit zwischen 60% als unterer Grenze und 76% als oberer Grenze.

Es erstaunt, dass diese Einflussgröße von offizieller Seite niemals in Erwägung gezogen wird, wenn es darum geht, die hohe Untersterblichkeit nach der zweiten Welle zu erklären. Man verweist immer nur auf die ausgebliebene Grippewelle als möglicher Ursache. Und tatsächlich können ausbleibende Grippewellen, wie oben gezeigt, Untersterblichkeit zur Folge haben, wenn in die Berechnung der Basislinie außer grippearmen Jahren auch ausgeprägte Grippejahre eingeflossen sind. In dem Augenblick jedoch, da man die Basislinie um den verzerrenden Grippeeinfluss bereinigt, wie es bei der modifizierten Übersterblichkeit der Fall ist, muss man nach anderen Erklärungen suchen, wenn die Untersterblichkeit weiterhin groß ist.

Der Verlauf der modifizierten Übersterblichkeit verlangt folglich nach einer anderen Begründung (als der ausgebliebenen Grippe) für die ausgeprägte Untersterblichkeit nach der zweiten Welle. Und als Erklärung kommt eigentlich nur in Betracht, dass der Großteil der Coronatoten zum Zeitpunkt der Ansteckung bereits vom Tod gezeichnet war und, unabhängig von der Coronainfektion, nicht mehr lange gelebt hätte. So ernüchternd diese Erklärung ist, sie drängt sich geradezu auf. Fraglich bleibt, welche Bedeutung das Alter für das coronabedingte Sterbegeschehen hat und ob die Vorerkrankungen bzw. die Art der Vorerkrankung hier nicht die wichtigere Rolle spielen. Es ist an der Zeit, dass diese Fragen endlich von unabhängigen Medizinern grundlegend untersucht werden. Nur so ist mit Erkenntnisgewinnen zu rechnen, die Auskunft darüber geben, wie zukünftig mit Pandemien umgegangen werden sollte und ob auf die Coronapandemie angemessen reagiert worden ist.

Abbildung 5 vermittelt abschließend noch einmal einen Gesamteindruck von der insgesamt recht guten Übereinstimmung des modifizierten Übersterblichkeitsverlaufs mit der regressionsanalytisch abgeleiteten Übersterblichkeitskurve, bei der neben der Zahl der Coronatoten auch die (nachfolgende) Untersterblichkeit im Regressionsansatz mit eingegangen ist. Wochen, in denen aufgrund der sommerlicher Hitze überdurchschnittlich viele Menschen verstorben sind, sind in die Abbildung nicht mit aufgenommen worden.

Abbildung 5

Nachbetrachtung

Trotz der insgesamt guten Übereinstimmung der Kurvenverläufe kann das Ergebnis nicht als rundum zufriedenstellend eingestuft werden. Das liegt vor allem an der ungewöhnlich hohen Übersterblichkeit zwischen der 45. und 52. KW 2021, die auch dem Statistischen Bundesamt aufgefallen ist. Kritische Wissenschaftler haben die Vermutung geäußert, dass der Effekt vom Impfen herrühren könnte. So kommt Professor Kuhbandner in einer statistischen Studie auf Basis tagesspezifischer Daten zu dem Schluss, „dass sowohl der Verlauf der Todesfälle im Jahr 2021 als auch der Verlauf der Übersterblichkeit mit einer leichten Zeitverzögerung nahezu exakt den Verlauf der Erst-, Zweit- und Booster-Impfungen widerspiegelt.“[2]

Diesen eindeutigen Befund kann die vorliegende Studie nicht bestätigen. Ein ungewöhnlich starker Anstieg der Übersterblichkeit ist, wie Abbildung 5 zeigt, weder während der Zeit der Erst- noch der Zweitimpfung zu erkennen. Erstere hatte ihren Höhepunkt in der 17. KW 2021, letztere in der 23. KW 2021. Theoretisch könnten lediglich die leicht erhöhten Übersterblichkeitswerte in der 17. und 18. KW auf die Erstimpfung zurückzuführen sein. Allerdings ist in den Vorwochen kein überproportional starker Anstieg der Übersterblichkeitswerte zu erkennen, wie man ihn in einem solchen Fall eigentlich erwarten würde.

Anders sieht es in der Zeit zwischen der 45. und 52. KW 2021 aus. In dieser Phase steigt die Übersterblichkeit außergewöhnlich stark an und es sterben etwa 6.400 Menschen mehr als regressionsanalytisch zu erwarten gewesen wäre. Zugleich ist es die Zeit, in der besonders viele Menschen geboostert, d.h. zum dritten Mal geimpft worden sind. Abbildung 6 vermittelt einen Eindruck vom Verlauf der erhöhten Übersterblichkeit und der Zahl der Boosterimpfungen.

Abbildung 6

Die Vermutung, dass die stark erhöhten Übersterblichkeitswerte vom Boostern herrühren, liegt nahe und kann nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Auf Basis der hier betrachteten Wochenwerte lässt sich der Zusammenhang allerdings nicht eindeutig belegen. Für die Vermutung spricht, dass die Kurven zwischen der 45. und 52. KW 2021 weitgehend parallel verlaufen. Dagegen spricht, dass sich die Parallelität im Jahr 2022 nicht fortsetzt, obwohl immer noch sehr viele Menschen geboostert worden sind.

Als Erklärung für die zu hohe Übersterblichkeit zwischen der 45. und 52. Woche käme grundsätzlich auch eine Untererfassung der Zahl der Coronatoten durch das RKI in Betracht. Hinweise darauf, dass die Coronadaten in diesen acht Wochen nicht vollständig erfasst worden sind, gibt es (nach Kenntnis des Autors) allerdings nicht. Sollte die Vermutung jedoch zutreffen, so würde das erklären, warum auf die Phase residualer Übersterblichkeit eine Phase residualer Untersterblichkeit folgt (vgl. Abb. 6).

Um verlässliche Aussagen über die Ursache der stark erhöhten Übersterblichkeit in den letzten Wochen des Jahres 2021 zu erhalten, müssten weitere Daten und Hintergrundinformationen in die Analyse einbezogen werden. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn die Fragestellung von wissenschaftlicher Seite aufgegriffen und abschließend geklärt würde, da nur so die bestehende Unsicherheit, ob bzw. in welchem Ausmaß die erhöhte Übersterblichkeit vom Boostern herrührt, beseitigt werden kann.

Titelbild: gnepphoto8/shutterstock.com


[«1] Joachim Ragnitz – Übersterblichkeit während der Corona-Pandemie. In: ifo Dresden berichtet, Heft 1/2022, S. 29-35
Download unter: ifo.de/DocDL/ifoDD_22-01_29-35_Ragnitz.pdf

[«2] Christof Kuhbandner – Der Anstieg der Übersterblichkeit im zeitlichen Zusammenhang mit den Covid-Impfungen. Aktueller Stand der Analysen: 21.01.2022
Download unter: transition-news.org/IMG/pdf/u_bersterblichkeit_impfungen_analysen_open_access_21.1.2022.pdf

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