Horst D. Deckert

Generäle und Experten im Westen handeln noch immer mit falschen Annahmen über Russland

Eine Hauptaufgabe bei jeder Analyse ist es, die zugrunde liegenden Annahmen über eine Aktivität oder Person zu identifizieren, die man analysiert. Wenn man sich falschen Annahmen hingibt, dann wird das gesamte analytische Narrativ falsch. Es ist wie mit einer verschriebenen Brille – man ist kurzsichtig – und die Verschreibung ist weitsichtig. Ich persönlich bevorzuge es, vor allem mit Fakten zu hantieren und vermeide Spekulation.

Ich will mich auf einen kürzlichen Artikel konzentrieren, der diesen Punkt beleuchtet. Ich habe Andrei Martyanov zu danken, der auf dieses jüngste marktschreierische Geschwätz des US Oberkommandierenden in Europa, Christopher Cavoli hinwies. Cavoli behauptet, dass „Russlands gegenwärtige Offensive nicht das Potential für einen Durchbruch hat.“

Ich weiß, dass die Russen nicht die nötige Anzahl haben, um einen strategischen Durchbruch durchzuführen…“

Sie besitzen nicht das Geschick und die Fähigkeit es zu tun, mit dem nötigen Ausmaß zu operieren, um irgendeinen Durchbruch für einen strategischen Vorteil auszunutzen.“

Und was ist die Quelle für diese Einsicht? Ihr habt es erraten: „Die Ukrainer“ – der Kandidat hat zehn Punkte! Cavoli irrt sich bei den Zahlen total, aber ich greife vor.

Admiral Rob Bauer, ein NATO-Dilettant, meldet sich mit diesem Knaller zu Wort – und ich vermute, dass auch das von den Ukrainern kommt:

Er sagte, Russland hat es geschafft, zusätzliche Kräfte zu mobilisieren, ‚aber die Qualität der Truppen ist geringer als die jener Truppen zu Beginn des Konflikts‘, wegen der Anzahl der Offiziere, ‚die zu Beginn des Krieges getötet wurden‘ und deshalb nicht in der Lage sind, neue Soldaten auszubilden.“

Wieder einmal erleben wir ein Schauspiel der Projektion – d.h., Russland etwas zuzuordnen, das die Ukrainer erfahren. Russland hat seit September 2022 jeden Monat zehntausende Truppen hinzugefügt. Im Gegensatz zur Ukraine, die Kerle von der Straße weg einsammelt, in Transporter verfrachtet, zu einem militärischen Stützpunkt bringt, in Uniformen steckt, ihnen eine Waffe in die Hand drückt und nur einen Grundkurs gibt, bekommen die Rekruten in Russland mindestens sechs Monate Training und werden in Einheiten mit erfahrenen Veteranen platziert. Die Reihen des ukrainischen Militärs werden Tag für Tag ausgedünnt, während Russland seine Streitkräfte aufbaut.

Sehen wir uns einige Tatsachen an. Schaut euch die Anzahl der Soldaten in der russischen Armee an, verglichen mit der angeblich unbesiegbaren US-Armee, und Ihr werdet die Clownerei von Cavoli erkennen. (Ja, ich gehe davon aus, dass diese Zahlen korrekt sind, denn sie stammen aus westlichen Quellen).

Stand 2024 haben die russischen Streitkräfte 3,57 Millionen Soldaten, davon 1,32 Millionen aktives Militär, 2 Millionen in Reserve und 250.000 Paramilitärs. Das ist die zweite Zunahme des russischen Militärs seit 2018, zuvor kamen im August 2022 137.000 Truppen hinzu.“

Und die Vereinigten Staaten?

Stand 31. Juli 2023 hat die US-Armee 452.689 aktives Personal. 325.218 in der Nationalgarde der Armee und 176.968 Reservepersonal, insgesamt 1.073.200 Personal in Uniform.“

Cavoli mit seinem Biologie-Diplom und Bauer sind offensichtlich nicht sehr gut in Mathe. Die russischen Streitkräfte sind jetzt dreimal so groß wie die der Vereinigten Staaten, sowohl im aktiven Dienst als auch bei der Reserve. Aber der Vorteil Russlands liegt nicht nur in der Personalstärke. Man beachte – Russlands Streitkräfte sind hauptsächlich in Russland stationiert (ja, ein paar sind in Syrien) und der russische Generalstab kann die volle Macht der 1,3 Millionen Soldaten viel schneller an die Front bringen als die USA und NATO mobilisieren und bewegen können. Die US-Streitkräfte sind rund um den Globus verteilt. Sollten die USA beschließen, gegen Russland zu kämpfen, dann haben die Russen als Verteidiger mindestens einen drei zu eins Vorteil gegenüber den USA.

Cavolis fehlerhafte Annahme? Er schaut auf das, was die Russen in den letzten zwei Jahren taten und nimmt an, dass Russland mit voller Kraft operiert. Er nimmt an, dass das Training unzureichend und die Truppen schlecht ausgebildet sind, weil Russland nicht eine Millionen oder mehr Soldaten in die Schlacht geworfen hat. Und, was noch schlimmer ist: er glaubt den Ukrainern. Ich möchte daran erinnern, dass Oberst Alex Vershinin, der für RUSI (Royal United Services Institute, UK) schreibt, eine detaillierte Aufstellung geliefert hat, die das Wunschdenken von Cavoli völlig zerstört – „Die Kunst des Zermürbungskriegs: Lehren aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine“

Zermürbungskriege erfordern eine eigene „Kriegskunst“ und werden mit einem „kräftezentrierten“ Ansatz geführt, im Gegensatz zu Manöverkriegen, die „geländeorientiert“ sind. Sie beruhen auf massiven industriellen Kapazitäten, die den Ersatz von Verlusten ermöglichen, mit einer geografischen Tiefe, die eine Reihe von Niederlagen auffangen kann, und auf technologischen Bedingungen, die eine schnelle Bodenbewegung verhindern. In Zermürbungskriegen werden die militärischen Operationen durch die Fähigkeit eines Staates bestimmt, Verluste zu ersetzen und neue Formationen zu bilden, und nicht durch taktische und operative Manöver. Die Seite, die den zermürbenden Charakter des Krieges akzeptiert und sich darauf konzentriert, die gegnerischen Streitkräfte zu vernichten, anstatt Terrain zu gewinnen, wird höchstwahrscheinlich gewinnen.

Der Westen ist auf diese Art von Krieg nicht vorbereitet. Für die meisten westlichen Experten ist die Zermürbungsstrategie kontraintuitiv. Historisch gesehen bevorzugte der Westen das kurze „der Sieger kriegt alles“ Aufeinandertreffen von professionellen Armeen. Jüngste Kriegsspiele wie der CSIS-Krieg um Taiwan umfassten einen Monat Kampfdauer. Die Möglichkeit, dass der Krieg weitergehen würde, stand nie zur Debatte. Darin spiegelt sich eine weit verbreitete westliche Haltung wider. Zermürbungskriege werden als Ausnahmen betrachtet, als etwas, das um jeden Preis zu vermeiden ist und in der Regel auf die Unfähigkeit der Regierenden zurückzuführen ist. Leider sind Kriege zwischen benachbarten Mächten in der Regel Zermürbungskriege, da ein großer Pool an Ressourcen zur Verfügung steht, um die anfänglichen Verluste zu ersetzen. Der zermürbende Charakter des Kampfes, einschließlich der Erosion der Professionalität aufgrund von Verlusten, ebnet das Schlachtfeld ein, unabhängig davon, welche Armee mit besser ausgebildeten Kräften begann. Wenn sich der Konflikt in die Länge zieht, wird der Krieg von der Wirtschaft gewonnen, nicht von den Armeen. Staaten, die dies begreifen und einen solchen Krieg mit einer Zermürbungsstrategie führen, die darauf abzielt, die gegnerischen Ressourcen zu erschöpfen und gleichzeitig die eigenen zu schonen, werden mit größerer Wahrscheinlichkeit gewinnen. Der schnellste Weg, einen Zermürbungskrieg zu verlieren, besteht darin, sich auf Manöver zu konzentrieren und wertvolle Ressourcen auf kurzfristige territoriale Ziele zu verwenden. Die Erkenntnis, dass Zermürbungskriege ihre eigene Kunst haben, ist von entscheidender Bedeutung, um sie zu gewinnen, ohne lähmende Verluste zu erleiden.

Simplicius the Thinker, der auf Substack schreibt, hat sich intensiv mit der Analyse von Vershinin befasst und erläutert, was das für Russland bedeutet:

Wir haben nicht nur die Bestätigung westlicher Denkfabriken und höchster ukrainischer Stellen, dass Russland eine strikte Politik der Brigadebesetzung und -wiederherstellung verfolgt, indem es die Truppen ständig rotieren lässt und niemals zulässt, dass die Brigaden so stark dezimiert werden, wie es die AFU tun muss. Erinnern Sie sich jedoch daran, wie Russland erfahrene Wagner-Veteranen auf genau die oben beschriebene Weise eingesetzt hat. Sie „verteilten“ Wagner und andere erfahrene Kampfeinheiten über die gesamte Formation und fügten sie sowohl den Achmat-Truppen als auch den Rosgvardia-Truppen und anderen zu, und brachten sie sogar zur Ausbildung belarussischer Truppen mit.

Kurzum, Russland hält sich strikt an die Spielregeln für den idealen Umgang mit Streitkräften und Wissen, Weisheit und Erfahrung auf dem Schlachtfeld – und tut alles, um sicherzustellen, dass das äußerst wichtige Wissen der erfahrensten Krieger niemals verschwendet, sondern stets vervielfacht und in vollem Umfang genutzt wird.

Cavoli schwelgt in einer veralteten Weltkrieg Zwei Fantasie. Er erwartet, dass die Russen einen Blitzkrieg starten und da sie das nicht taten, nimmt er an, dass sie das nicht konnten, aufgrund schlecht trainierter und schlecht ausgerüsteter Soldaten. Wenn die Geschichte ein Richter ist, dann sind russische Generäle dem weit überlegen was der Westen zu bieten hat. Während die Amerikaner aus Vietnam und Afghanistan vertrieben wurden, haben die Russen die ukrainischen Kräfte zerkaut und die kritischen Waffenvorräte in den Lagern der NATO dezimiert. Russland hat die Mittel für einen Durchbruch, aber das ist nicht ihr erklärtes Ziel. Zermürbung! Russland wird die Ukraine und ihre NATO-Alliierten ausbluten, anstatt Angriffe mit hohen Opferzahlen zu riskieren, so wie es von Leuten wie Cavoli favorisiert wird.

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